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BERICHT/002: Das lyrische Ich als Rampensau - Poesiefestival Berlin (Börsenblatt NL)


Börsenblatt Newsletter - 14. Juli 2008

NEWS: Poesiefestival Berlin
Das lyrische Ich als Rampensau

Von Cornelia Dörries


Ein bisschen Saudade, diese portugiesische Spielart der Schwermut, lag schon in der Luft, als das 9. Poesiefestival in Berlin am 5. Juli eröffnet wurde. Am Sonntag ging das Dichtertreffen zu Ende - Ein Stimmungsbild.

Der noch junge Sommer gab sich plötzlich etwas herbstlicher, die Luft wurde schwer und düstere Wolken hingen über der Spree: kein schlechtes Wetter für eine Woche voller Sprach- und Klangkunst, Lautmalereien und stille Stanzen, konzentriertes Arbeiten und lange Abende. Auch im Stadtbild war das Poesiefestival nicht zu übersehen; zum einen dank der leuchtend pinkfarbenen Plakate, zum anderen wegen der schwarz glänzenden Karossen des festivaleigenen Limousinenservice', mit dem die Künstler und immer präsenten Funktionäre zu den über die ganze Stadt verteilten Veranstaltungsorten chauffiert wurden. Keine Frage, das Dichtertreffen hat es auf die gut gefüllte Festival-Agenda der Hauptstadt geschafft.

Den programmatischen Schwerpunkt des diesjährigen Stelldicheins von mehr als 150 Künstlern aus 25 Ländern bildete das Weltreich Lusitanien, einst begründet von portugiesischen Seefahrern und heute nur mehr ein Sprachraum, der sich allerdings über vier Kontinente erstreckt: Für mehr als 210 Millionen Menschen ist Portugiesisch Muttersprache. Diese stand im Zentrum so zauberhafter Veranstaltungen wie dem Lissabon-Abend in der Akademie der Künste, bei dem sich Dichterinnen, Fado-Musiker, Filmemacher, ein Rapper sowie eine klassische Gitarre als traumwandlerische Reiseleiter durch die Stadt am Tejo erwiesen. Doch das Portugiesische war auch Gegenstand des zweitägigen Übersetzungsworkshops "VERSschmuggel", bei dem Poeten aus dem deutschen und dem portugiesischen Sprachraum mit Hilfe von Dolmetschern ihre Verse in die jeweils andere Sprache überführten.

Daneben wurde eine Fülle von international bestückten Lesungen, Colloquien, Inszenierungen und Performances geboten, die laut Thomas Wohlfahrt, dem Leiter des Poesiefestivals berlin, nicht weniger wollten, als "uns von unseren Blockaden im Umgang mit Dichtkunst zu befreien und der ältesten Kulturtechnik der Menschheit ihren Platz in der Gesellschaft zurück zu organisieren." Dass es solcher ungelenken Formulierungen wider die Erdferne der Poesie eigentlich gar nicht mehr bedarf, bewiesen vor allem die jungen Dichter. Ihre Nähe zu hochkulturell nicht verstrahlten Ausdrucksformen wie Rap, der Alltagssprache der Werbung oder basslastiger Lautmalerei zeitigte bisweilen Hochamüsantes. So ließ der Slammer Bas Böttcher zusammen mit dem Klangkünstler Frank Niehusmann beim Happening "e poesie" das Publikum zu synkopenhaften Taktfolgen mit den Köpfen nicken, zwischendurch verrappte er Reklamesprüche und ließ seine Wortkaskaden anschließend elektronisch zerhäckseln. Am Ende wurde er gefeiert wie ein Popstar: Das lyrische Ich als Rampensau. Was für eine Überraschung.

Rund 10.000 Zuschauer kamen zu den mehr als 40 Veranstaltungen.

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Quelle:
Börsenblatt Newsletter vom 14. Juli 2008
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. August 2008