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REZEPTION/041: Im Zauber uneingelösten Glücks - Jean Paul nach 250 Jahren (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 3/2013

Im Zauber uneingelösten Glücks
Jean Paul nach 250 Jahren

von Harro Zimmermann



Jean Paul, geboren 1763 in Wunsiedel, gestorben 1825 in Bayreuth, gehört zu den eigenartigsten Erscheinungen jener fruchtbaren Epoche der deutschen Literatur. Eigentümlich steht er zwischen ihren Hauptströmungen oder -gruppierungen, der Weimarer Klassik und der Romantischen Schule: Beiden kann er nicht zugerechnet werden, so wenig wie Hölderlin oder Kleist. Dem Rationalismus der Aufklärung eng verbunden, ein begeisterter und ihr Erbe nie verleugnender Anhänger der Französischen Revolution, stand er schon früh in Opposition zu den Weimarern. Die Romantik, mit der ihn äußerlich manches zu verbinden scheint, hat er indes noch schärfer kritisiert. Gedankenreichtum und Empfindsamkeit, Gefühlsüberschwang und Humor, plebejisches Erbe und demokratische Gesinnung haben ein Werk entstehen lassen, wie es in der deutschen Literatur ohne Vorbild war und ohne Nachfolge geblieben ist.

Die Überlieferungsgeschichte Jean Pauls hat seine poetischen Bizarrerien nicht selten um einiges überboten. In der Aufklärungsära als singuläres, aber wenig gelesenes Literaturwunder gefeiert, im 19. Jahrhundert zum biedermeierlichen Fabulierkauz erkoren, im George-Kreis am Beginn des 20. Jahrhunderts zum Apostel eines gemütsinnigen Deutschtums geweiht, bei den Nazis aufgerüstet zum Propheten der nordischen Rassesendung, in Bundesrepublik und DDR seit den späten 60er Jahren als Pazifist, aber auch als Revolutionsenthusiast und proletarischer Freiheitskämpfer identifiziert, hat sich Jean Paul heute (wieder) zum Kultobjekt einer wachsenden Spezies genussfreudiger Kenner entwickelt. Umso dankbarer sollte man sein, dass der Würzburger Germanist Helmut Pfotenhauer, ein gleichermaßen gelehrter wie mitteilungsfreudiger Forscher, uns das Leben Jean Pauls ohne jede Idolatrie so text- und persönlichkeitsnah wie möglich vor Augen führt.

Mit dem Verhältnis zu den Weimarer Klassikern begann Jean Paul im späten 18. Jahrhundert erstmals ein "Fall" zu werden. Mehrfach hatte sich der junge Johann Paul Friedrich Richter in verschnörkelten Briefen an Goethe gewandt, aber nie eine Antwort erhalten. Allzu genialisch trat der Nachwuchspoet auf, doch es umgab ihn etwas Staunenswertes. Schon die landläufige Fama dieses Jean Paul, wie er sich mit einer Huldigung an Rousseau seit 1792 nannte, sprach Bände. In seinen Büchern feierte das "Tolle" neben dem "Wahren" fröhliche Urständ, Kosmisches vermengte sich mit dem Gewöhnlichen und umgekehrt. An ästhetischer Buntheit und Heterogenität war diese Poesie nicht zu überbieten, wie ein Mensch-Tier-Wesen kam Goethe dieser Dichterfantast denn auch vor. Die Wahrheit, notierte schon der jugendliche Jean Paul, sei zwar seine "Gesellschaftsdame, aber nicht meine Führerin".

Das haben die am griechischen Gleichmaß geübten Klassiker nie so recht goutieren können. Und ausgerechnet dieser Autor wird in Weimar bald zur Heimsuchung, er bringt die Damenwelt in erotisch-intellektuelle Aufregung und vermag es trotz aller Mühen auf lange Zeit nicht, die Wertschätzung des berühmten Dichterpaars zu erringen. Doch auf diese "griechendenzenden Formschneider", mit ihren eisigen Mienen und "eingeäscherten Herzen", will der Liebesgefühlspoet am Ende gern Verzicht leisten. In der Romanfigur des Kunstrats Fraischdörfer im Quintus Fixlein und im Titan hat er ihre Selbstvergötterung in seine humoreske Lauge getaucht. Weimar blieb in der Biografie Jean Pauls eine Episode, Leipzig und Berlin spielten noch eine Rolle für den von der lesenden Weiblichkeit vergötterten Starautor, aber sub specie aeternitatis sollte das grandiose Wortexperimentalwerk dieses "Stadtpfarrers des Universums" im Oberfränkischen beginnen und auch enden.


Sprachüberfluss und Ideengewimmel

Der Leser Jean Paul nannte sich selbst einen "Bücher-Vampyr", aber auch als Autor war er ein Textsammler und -ausbeuter von höchsten Graden, ein Collageur und Experimentator, der überhaupt nur im Universum der "Letternkultur" zu atmen vermochte. Umgeben von karger Möblierung und bar jeder Bibliothek, mit allerlei lebendem Getier im Arbeitszimmer, eingerahmt von überbordenden "Exzerpten" und "Gedankenbüchern", samt "Machregeln" und Registern, dem so genannten "Repositorium", haben sich bei ihm auf schmalem Lebensgrat die blitzendsten Sprach- und Fantasiefeuerwerke entzündet. Allein diese Materialkonvolute, schrieb Jean Paul einmal, habe er zeitlebens nicht für eine Bibliothek von 200.000 Bänden eintauschen wollen. Sie waren ihm Garanten für die unendliche Fortdauer seiner Schreibmanien, Lebensbedingung, wenn nicht sein Lebensersatz. Diesem "Tummelplatz kontrollierter Zufälligkeiten" verdankt er die imaginative Vervielfältigung seines Ichs bis ins Supra-Rationale, ins Traumhaft-Unsagbare und Sprachschwelgerische hinein. Erst durch sie konnten dem manischen Wissens-Poeten, bei Bier und Wein "entworfen" und bei Kaffee "exekutiert", ganze Milchstraßen von Einfällen und Gedankenblitzen, Pointen und Metaphern ins Bewusstsein schießen, Papierform annehmen und sich als sogartiges "Ideengewimmel" zu immer neuen "Anekdoten des Weltsinns" verdichten: "Ich habe aus mir so viel gemacht als aus einem solchen Stoff nur zu machen war; und mehr wird man nicht verlangen", schreibt Jean Paul irgendwo in diesem nachgelassenen Buchstabengestöber.

So grundgelehrt wie hellhörig durchmisst der Jean Paul-Biograf Pfotenhauer die Geschichte einer faszinierenden Autor-Werk-Geschichte, die im Kleinen, Unscheinbaren und Idyllischen beginnt, sich zur literarischen "Essigfabrik" der frühen, noch abstrakt temperierten Satiren auswächst, um sich mit dem Hesperus allmählich in die figurenreiche und welterschließende Romanhumoreske hinein auszuweiten. Aus dem Glauben erwachsene Gespensterfurcht und Geisterscheu sind es zunächst, die Jean Pauls "Schreibabsolutismus" in Atem halten, mit Beginn der 1780er Jahre treten dann philosophische und literarische, aber auch psychologische und anthropologische Bedrängnisse an deren Stelle. Nach der "vernichtenden" Abstraktheit der Satire gelangt der Dichter immer tiefer in die Welten des figurativ Erzählbaren, in die Hautnähe des Hoffens und Bangens, des Fühlens und Fürchtens von Menschen. Kann man sich noch einmal mit Leibniz auf die spirituelle Homogenität des Universums zurückziehen? Oder zwingen moderne Anthropologie, Assoziationspsychologie und Erkenntnistheorie nicht längst zu riskanten Denkoperationen im Bereich des "Unbewussten, diesem wahren inneren Afrika"?


Aufbruch in die Moderne

Wo Seinsgewissheiten nicht mehr zu haben sind, muss man sich das kosmisch Beunruhigende und Sinnverweigernde als poetische Ausdrucksform zueigen machen. Wie bei keinem anderen Autor deutscher Zunge haben die Schriften Jean Pauls einander atemlos abgelöst, ineinander gegriffen und sich überlagert, sind ergänzt und weiterentwickelt, relativiert und korrigiert, auf grenzenlose Nichtvollendbarkeit hin entworfen worden. Der kosmischen Erfülltheit und Dynamik, gleichsam den Sternenkonstellationen seines Denkens und seiner Welterfahrung, hatten die Bücher ihren Sinn- und Gestaltwandel zu unterwerfen. Dabei war das Leben allenfalls ein Rohstoff für das Schreiben, allein darin vermochte es bedeutsam und seiner selbst ansichtig zu werden. Dieser Jean Paul war vernarrt in den Genuss der symbolisierten schönen Unendlichkeit seines Poeten-Ichs, in den ewigen Ruhm beim lesenden, am Werk gleichsam mitschaffenden Publikum. Ein solches Glücksversprechen aber ließ sich nur als künstlerische Leistung und nur auf dem Papier in die Welt setzen. Für dieses faszinierende Schreibprojekt hat er sein Leben aufgezehrt.

Es handelt sich bei Jean Paul um eine aus allen "Fremdbestimmungen entlassene Literatur der Moderne", schreibt Helmut Pfotenhauer, sie hat ihre neugewonnene Freiheit indes mit den Triumphen und Verzweiflungen einer Autorschaft zu bezahlen, die permanent über sich selber zu sprechen gezwungen ist. Darin mag auch das Geheimnis dessen liegen, was Lichtenberg, der eigentlich von der "Lebensunkundigkeit" der Romanschriftsteller überzeugt war, den "Cayennischen Pfeffer" bei Jean Paul genannt hat. Von literarischer Würze sprach der Göttinger Denkmeister zu Recht, denn das Salz des Glaubens war dem alten Dichter nahezu völlig abhanden gekommen: "Nicht die Bibel, sondern der rechte Blick ins All tröstet und kräftigt", schrieb er kurz vor seinem Tod. Selbst der brillierende Humorist blieb am Ende von Trauerblicken in den Seinsgrund nicht verschont: "Die Ewigkeit wiederkäuet sich und zernagt das Chaos". Sogar die eigene Poesie erschien ihm dann wie "hineingesprochen in die Schauder der Menschenverlorenheft". Aber wo, wenn nicht in Literatur, Musik und Kunst vermochte die gebrochene Weltordnung noch einmal aufzuleuchten im "Zauber des uneingelösten Glücks"?

Harro Zimmermann (* 1949) ist Kulturredakteur bei Radio Bremen und Professor für Literaturwissenschaft an der Uni Bremen. Bei Schöningh erschien zuletzt: Friedrich Schlegel oder Die Sehnsucht nach Deutschland.
harro.zimmermann@radiobremen.de


Literatur zum Thema: Helmut Pfotenhauer: Jean Paul. Das Leben als Schreiben. Biographie. Hanser, München 2013, 508 S., € 27,90.
- Jean Paul: Erschriebene Unendlichkeit. Briefe (Hg. von Helmut Pfotenhauer, Markus Bernauer und Norbert Miller). Hanser, München 2013, 783 S., € 34,90.

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 3/2013, S. 64 - 67
herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Siegmar Gabriel,
Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka, Thomas Meyer, Bascha Mika und Peter
Struck (†)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. März 2013