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BERICHT/010: Die Geheimschrift der Märchen (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2012



Die Geheimschrift der Märchen
Vor 200 Jahren erschien die Sammlung der Brüder Grimm

Von Hanjo Kesting

Für Novalis waren Märchen schlechthin der "Kanon der Poesie"; er schrieb: "Alle Märchen sind nur Träume von jener heimatlichen Welt, die überall und nirgends ist." Und so schrieben die Romantiker nicht nur ihre wunderbaren Kunstmärchen, sondern sie sammelten auch alte Volksmärchen. Die berühmteste Sammlung stammt von den Brüdern Grimm, und sie erschien zum ersten Mal im Dezember 1812, vor 200 Jahren.


Die Sammlung der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm umfasst 200 Titel, aber der berühmte Anfangssatz "In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat..." - so beginnt das Märchen Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich - fehlt in der ersten Buchausgabe von 1812. Wir neigen zwar zu der Auffassung, Märchen seien etwas Ursprüngliches, weitgehend Unveränderliches, aber auch die Grimmschen Märchen sind im Laufe der Zeit immer mehr verändert und erweitert worden, vor allem durch Wilhelm Grimm, den jüngeren Bruder. Das ändert nichts daran, dass wir diese Märchen seit der Kindheit wie Urbilder in uns tragen: den dunklen Wald, in dem Hänsel und Gretel sich verirren; die Hecke, die Dornröschens Schloss umwuchert; das Bäumchen, das gerüttelt und geschüttelt Aschenputtel das schönste Kleid herabwirft; den bösen Wolf, der die Geißlein frisst, oder den Frosch, der in Wirklichkeit ein Prinz ist.

Märchen sind der ideale Ort des Wünschens, auch wenn es nicht immer heiter in ihnen zugeht, manchmal eher grausam und unheimlich. Im Märchen kann einer auf einer Bohnenranke in den Himmel klettern und zusehen, wie die Engel Geld mahlen, im Märchen kann aus einem Bauern ein König werden, im Märchen lässt sich sogar der Teufel überlisten. Natürlich geschieht das nicht im luftleeren, will sagen geschichtslosen Raum. Der Bauer, der König wird, ist als Leibeigener zu denken, und den Teufel muss nur der überlisten, der wie alle Welt vor ihm zittert. Auch Speisewunder gehören zum festen Motivbestand der Märchen, wie das Tischlein-deck-dich, das, spricht man die Formel aus, augenblicklich mit Speisen so üppig bedeckt ist, wie kein Wirt sie herbeischaffen könnte. Von verwandtem Charakter sind der wundertätige Esel, der Goldstücke ausspuckt, und der Knüppel aus dem Sack als magische Waffe, ohne die man nicht unbeschadet durch die Welt kommt. Immer aber ist es die Kraft des Wünschens, die das Märchen hervorbringt, und Wilhelm Grimm fand die ingeniöse Formel dafür, als er von den alten Zeiten sprach, wo das Wünschen noch geholfen hat. Es sind die Zeiten des "Es war einmal", der anderen magischen Märchenformel, wenn auch beileibe nicht alle Märchen so anfangen, nicht einmal die meisten.

Trotz aller Genauigkeit, mit der sie mündlich weitergegeben wurden, sind Märchen nichts völlig Statisches, endgültig Festgelegtes. Viele Märchen kennen wir in ähnlicher Form aus unterschiedlichen Sprachen und Kulturen, manchmal sogar aus solchen, die zeitlich und räumlich weit auseinander liegen. Der Eindruck, dass es einen gemeinsamen Grundvorrat an Märchen und Märchenmotiven über alle kulturellen Grenzen hinweg gibt, lässt sich nicht völlig abweisen. Was ist überhaupt ein Märchen? "Eine Prosaerzählung von wundersamen Begebenheiten", heißt es im Lexikon, doch fällt es in Wirklichkeit nicht leicht, die Form genau zu bestimmen, sie abzugrenzen gegen Sagen, Legenden, Fabeln oder Schwänke, ganz abgesehen von mythischen Überlieferungen und magischen Motiven, die untergründig darin herumspuken. So enthalten auch die Märchen der Brüder Grimm, so vertraut sie uns erscheinen, ein ganzes Arsenal an heterogenen Motiven und unterschiedlichen Überlieferungssträngen.


Antiquare des Vergangenen

Die Sammlung der Brüder war eine Frucht der deutschen Romantik, denn deren wichtigste Vertreter waren bei aller zukunftsorientierten Modernität zugleich Antiquare des Vergangenen. Mit rückwärtsgewandtem Fleiß durchforschten sie das Mittelalter und sammelten "Altertümer", und zwar mit einer wissenschaftlichen Sorgfalt und Akribie, die diese Epoche zu einer stürmischen Gründerzeit machte, etwa für die Philologie, die geschichtlichen Wissenschaften, sogar für das Rechtswesen. Den Romantikern verdanken wir die Übersetzungen von Shakespeare und Cervantes und die erste vertiefte Beschäftigung mit orientalischen Sprachen bis hin zum Sanskrit, vor allem verdanken wir ihnen die großartigen Sammlungen von Märchen, Sagen und Volksliedern, deren früheste von dem genial begabten Freundespaar Clemens Brentano & Achim von Arnim veranstaltet wurde und Des Knaben Wunderhorn hieß. Vor allem Brentano versuchte sich als Märchenforscher und zog die Brüder Grimm als Helfer heran. Die Sammeltätigkeit der Brüder begann, mit einem Wort, als Vorarbeit für Brentanos Publikationspläne.

Die niederdeutschen Märchen Von dem Fischer un syner Fru und Von dem Machandelboom, die der Maler Philipp Otto Runge aufgezeichnet hatte, bildeten den Ausgangspunkt des Ganzen. Die Grimms haben immer wieder darauf hingewiesen, dass sie diese beiden Märchen für musterhaft hielten: mit der einfachen Reihung der Sätze, der Bevorzugung der wörtlichen Rede, den Wortwiederholungen und Lautmalereien, der Vorliebe für Formelhaftes.

Nicht unerwähnt darf bleiben: Beide Grimm-Brüder gehörten zu den Göttinger Sieben, die gegen den Verfassungsbruch des Königs von Hannover protestierten. Das büßten sie mit dem Verlust ihrer Ämter als Hochschullehrer. Jacobs Rechtfertigungsschrift, in Basel gedruckt, ist ein Ruhmesblatt in der Geschichte des bürgerlichen Liberalismus. Seine Unangepasstheit, ja Aufsässigkeit inmitten der herrschenden biedermeierlichen Leisetreterei ist auch in der Märchensammlung spürbar, man hört darin zuweilen den Widerhall der französischen Revolution. Das Märchen Sechse kommen durch die Welt beginnt mit den Sätzen: "Es war einmal ein Mann, der verstand allerlei Künste, er diente im Krieg und hielt sich brav und tapfer, aber als der Krieg zu Ende war, bekam er den Abschied und drei Heller Zehrgeld auf den Weg. 'Wart', sprach er, 'das lass ich mir nicht gefallen, finde ich die rechten Leute, so soll mir der König noch die Schätze des ganzen Landes herausgeben.' Da ging er voll Zorn in den Wald..." Hier wird eine Rebellion angezettelt, es klingt wie ein Echo aus Schillers Räubern. Am größten aber ist der Zorn auf eine Form von Ausbeutung, die den Menschen nur als verwertbare Arbeitskraft gelten lässt, wie im Märchen von den Bremer Stadtmusikanten.

Nachdem der erste Band der Märchen erschienen war, schrieb Achim von Arnim an die Brüder, dass ihm einige Märchen "wegen einer gewissen darin wohnenden Grausamkeit nicht ganz recht" seien; er verlangte, dass Märchen "kindgerecht" sein müssten. Jacob Grimm wehrte sich gegen die kritischen Einwände mit den Worten: "Sind denn diese Kindermärchen für Kinder erdacht und erfunden? Ich glaube dies so wenig als ich die allgemeine Frage nicht bejahen werde: ob man überhaupt für Kinder etwas Eigenes einrichten müsse. Die beste Lehre ist die, welche nicht gleich ganz verdaut werden kann, sondern deren Stoff lange aushält."


Spiegel der Zeit

In der Vorrede zur Erstausgabe ihrer Märchensammlung haben die Brüder Grimm versichert: "Kein Umstand ist hinzugedichtet oder verschönert und abgeändert worden, (...) sie sind unerfindlich." Daran gemessen, bewies Wilhelm Grimm - in seiner Hand lag seit 1819 die Bearbeitung der Texte - eine beachtliche Erfindungskraft. Die Pose der sorgfältigen Sammler alter Überlieferung ist jedenfalls über weite Strecken eine Fiktion. Es war den Grimms nicht daran gelegen, aufzudecken, dass die wichtigsten Märchenerzählerinnen, denen sie ihre Texte abgelauscht hatten, aus hugenottischen Familien stammten, wie Dorothea Viehmann oder die Töchter Hassenpflug, in deren Haus das Französische sogar die Umgangssprache war. Über sie gelangten Märchen in die Sammlung, für die es ältere französische und italienische Vorbilder gibt, darunter so berühmte Märchen wie Rotkäppchen, Dornröschen und Aschenputtel. So wurde im Laufe der Zeit der französische Ursprung einiger Märchen verwischt, Anstößiges wurde beseitigt, im Grunde alles, was den Charakter des "Volks- und Erziehungsbuches", wie es den Grimms vorschwebte, stören konnte.

Viele Märchen der Grimmschen Sammlung erzählen symbolisch von der Zeit des Übergangs vom Mädchen zur Frau. Rotkäppchen begegnet im dunklen Wald dem bösen Wolf, der, wenn man das Märchen nicht gänzlich missdeutet, eher der Sexual- als der Fressgier verdächtigt werden muss; die Prinzessin des Froschkönig-Märchens tritt in dem Augenblick in die Reifezeit ein, wenn sie beim Spielen am Brunnen erstmals ihre goldene Kugel verliert; Hänsel und Gretel müssen am Ende des Märchens ein großes Wasser überqueren, über das weder Brücke noch Steg hinwegführt; nachdem bisher stets Hänsel der Anführer war, geht diesmal Gretel voran, denn Mädchen kommen früher in die Pubertät als Jungen.

Hänsel und Gretel gehört zu den vielen Märchen der Sammlung, in denen eine böse Stiefmutter als treibende Kraft agiert und sich den bemitleidenswerten Vater unterwirft. In diesem Fall ist die Stiefmutter aber Wilhelm Grimms Erfindung, der auf diese Weise vertuschen wollte, dass es in der ursprünglichen Fassung die leibliche Mutter ist, die ihre Kinder dem Verderben überantwortet. Haben wir es mit einer besonders herzlosen Mutter zu tun? Deutlich wird immerhin, dass die schiere Not sie zu ihrem Handeln veranlasst: Das Märchen beschwört die Hungersnöte des Dreißigjährigen Krieges, in denen es zu Fällen von Kindeskannibalismus gekommen sein soll.

Diese Zeit, die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts, glaubte noch an Hexen - insofern hat die Hexe des Knusperhäuschens eine gewisse Plausibilität. Was aber nicht passen will, ist der Umstand, dass sich die Hexe auf den guten Braten freut, wo sie doch bereits im Überfluss lebt und keinen Mangel leidet. Man gelangt hier in die Sphäre des Zaubermärchens, denn auch das Knusperhäuschen gehört zu den eingangs erwähnten Wunschgegenständen, es ist das Fantasieprodukt eines Hungernden, ganz ähnlich der Fata Morgana des Durstigen in der Wüste. Im Knusperhäuschen träumen Hänsel und Gretel das Schicksal, das ihnen im eigenen Haus von der Mutter droht, nämlich gebraten und verspeist zu werden. Aber da das nicht offen ausgesprochen werden kann, fungiert die Hexe im Märchen als Stellvertreterin der Mutter. Anders ausgedrückt, Mutter und Hexe sind ein und dieselbe Person. Auf diese heimliche Identität weist auch der Schluss des Märchens hin, nachdem die Hexe im Ofen verbrannt ist: "Gretel aber lief zum Hänsel, machte ihm sein Türchen auf und Hänsel sprang heraus, wie ein Vogel aus dem Käfig, und sie küssten einander und waren froh. Das ganze Häuschen war voll von Edelgesteinen und Perlen, davon füllten sie ihre Taschen, gingen fort und fanden den Weg nach Haus. Der Vater freute sich, als er sie wiedersah, er hatte keinen vergnügten Tag gehabt, seit seine Kinder fort waren, und ward nun ein reicher Mann. Die Mutter aber war gestorben."

Wenn die Hexe tot ist, muss auch die Mutter tot sein, das gehört zur tieferen Logik von Hänsel und Gretel, worin die eigentliche Geschichte aufgespalten wird, um auf diese Weise das Kannibalismus-Thema zu tarnen. In einer späteren Auflage ist am Schluss noch der Satz angefügt: "Nun brachten die Kinder Reichtümer mit, und sie brauchten für Essen und Trinken nicht mehr zu sorgen."

Damit sind wir wieder im Bereich des wunscherfüllenden Märchens, von dem wir ausgegangen sind. Fügen wir zum Schluss noch hinzu, dass die Grimmsche Sammlung das in aller Welt am weitesten verbreitete Buch der deutschen Literatur ist. Vor 200 Jahren wurde diese Schatztruhe zum ersten Mal geöffnet.


Hanjo Kesting (* 1943) ist Kulturredakteur dieser Zeitschrift. Zuletzt erschien bei Wallstein: Grundschriften der europäischen Kultur. Erfahren, woher wir kommen.

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2012, S. 64-67
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Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka, Thomas Meyer, Bascha Mika und Peter Struck
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Januar 2013