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LITERATURBETRIEB/040: Sprache 6 (SB)


Der Sprache mit dem Seziermesser auf den Leib gerückt -

das "Lexikon der Sprachwissenschaft" vom Kröner Verlag


Formeln und Modelle, um Sprache zu beschreiben? So abschreckend starr und verwendungsfeindlich zumindest hört sich die Definition der Linguistik an, wenn man sie im Sachwörterbuch, dem "Lexikon der Sprachwissenschaft" von Hadumod Bußmann, nachschlägt.

Linguistik [Auch: Sprachwissenschaft] gilt [...] zunächst seit den 50er Jahren als Bezeichnung für "moderne", synchron orientierte, auf die interne Struktur der Sprache bezogene Wissenschaft, die sprachliche Regularitäten auf allen Beschreibungsebenen untersucht und ihre Ergebnisse in expliziter (formalisierter) Beschreibungssprache und in integrierten Modellen niederlegt.
(Seite 409)

Linguistik riecht nach Mathematik, und das macht die Berührung mit dieser Wissenschaft für Studenten, die durch ihr Fach näher mit Sprache zu tun haben - sei es als Literaturwissenschaftler, Fremdsprachenstudent oder im Kommunikations- und Medienbereich - fast unerträglich. Die Disziplin Linguistik setzt an Texte und Gespräche das Messer an und zerlegt sie in Einzelteile, die ihr System und ihre Einheiten analysieren sollen. Aber Sprache und Sprechen sind dem ständigen Wandel ausgesetzt und schon deshalb nur mit Mühe in mathematische Gesetzmäßigkeiten zu pressen. Eine Systematik und Modelle anzulegen, kann nur auf der Ebene der Sprachbeschreibung stattfinden, die sich schwer für einen kontrollierten Spracheinsatz, d.h. in der Sprachpraxis, verwenden läßt. Die Analyse des Wortes und seine Wirkung sind dann etwas Verschiedenes. Die Sprache, das wichtigste Instrument für die menschliche Kontaktaufnahme, wird vom Sprecher getrennt, sie entfremdet sich dem Menschen. Das merkt dieser spätestens dann, wenn er versucht, den anderen wirklich zu erreichen.

Umso dringender wird es, sich mit dem sprachlichen Einsatz - seiner Funktion und seiner Wirkung im menschlichen Zusammenleben - auseinanderzusetzen. Eine Art "Bestandsaufnahme" des gegenwärtigen Zustandes der Sprachforschung, also den Ausgangspunkt, ihre Fragestellungen zu überdenken, gibt das "Lexikon der Sprachwissenschaft" von Hadumod Bußmann, das mit rund 3500 Stichwörtern "eine umfassende erste Orientierung über die ganze Bandbreite linguistischer Disziplinen und Theorien bietet" (aus dem Vorwort, S. 7). Besonderer Schwerpunkt des Lexikons ist die Darstellung der wesentlichen Merkmale von rund 250 Sprachen und Sprachfamilien. Damit stellt es ganz nebenbei die Selbstverständlichkeit, mit der die angloamerikanische Sprachkultur die Vorherrschaft einfordert, infrage. Es präsentiert sich mit seiner Sammlung diverser Theorien, Begriffe und Disziplinen als ein auf breites Publikum angelegtes, erfreulicherweise einbändiges Handbuch und setzt sich im Umfang seiner Stichwortgestaltung von den enzyklopädischen Werken auch durch bessere Verständlichkeit ab. Eine Stärke liegt in der präzisen, sprachgruppenübergreifenden Darstellung grammatikalischer Begriffe. Doch wird ganz unvermeidlich auch an diesem Sachwörterbuch sichtbar, daß sich vornehmlich brennende Fragen an linguistische Inhalte angesichts der ganzen Spezialisierungen oder verzweigten Teilbereiche der Linguistik in der Unüberschaubarkeit und Zergliederung verlieren. Linguistische Forschung befaßt sich nicht damit, wie man die Verständigung zwischen Menschen entwirren könnte, und sie befaßt sich genauso wenig mit der gesellschaftlichen Funktion der Sprache. Zunehmend dient Sprache als Mittel, durch systematische Einschränkung ihrer Möglichkeiten das Denken zu regulieren und damit die Fähigkeit, Widersprüche überhaupt erkennen und formulieren zu können.

Das Lexikon will einen umfassenden Leserkreis erreichen. Es "zielt vornehmlich auf einen Platz am privaten Schreibtisch von Studierenden und Forschenden der Sprachwissenschaften und ihrer Nachbardisziplinen, aber auch auf interessierte Laien". Ob es diesen Interessengruppen allerdings ausreicht, zur ständigen Kontrolle des Umgangs mit der Sprache über den exakten Gebrauch grammatikalischer Konstruktionen informiert zu sein, mag hier bei den umfassenden, einschneidenden gesellschaftlichen Veränderungen im Bereich Sprache bezweifelt werden. Die Sprachfähigkeit der deutschen Bevölkerung läßt zu wünschen übrig, nicht nur in der Privatsphäre, sondern auch in der öffentlichen Rede bis hin zu offiziellen Äußerungen. An unerfreulichen Beispielen ist kein Mangel, so in kurzen Gesprächen, wie sie in Funk und Fernsehen gesendet werden, die oft nur Mitteilungsbruchstücke in zerfasertem Deutsch präsentieren. Die Ausdrucksweise bleibt im Ungefähren und Ungenauen, damit sich der Sprecher nicht inhaltlich festlegen muß, und das scheint angesichts der zeitgemäß unbewältigbaren Informationsfülle, politischer Repressionen und Unsicherheiten eine Überlebensstrategie zu sein. Um sich nicht in diesem Strom mitreißen und manipulieren zu lassen oder schleichend und anhaltend ideologisch konditioniert zu werden, scheint die Auseinandersetzung damit umso dringlicher, daß Sprache als Werkzeug der Egalisierung und Unterdrückung verwendet werden kann. Mit Hilfe des Lexikons ist es zumindest möglich, sich zu verdeutlichen, wie weit sich die Wissenschaft der Sprache von der Lebensrealität und möglichen Fragen der Sprecher entfernt hat.


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Hadumod Bußmann (Hrsg.)
Lexikon der Sprachwissenschaft
3., aktualisierte und erweiterte Auflage
Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 2002
783 Seiten
ISBN 3-520-45203-0


Erstveröffentlichung am 8. Mai 2003

5. Januar 2007