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REZENSION/013: Helmut Barthel - Der Vollerwachte aber widersprach und sagte ... (Episoden) (SB)


Helmut Barthel

Der Vollerwachte aber widersprach und sagte ...


Exkursionen ins Leerreich - eine entfesselnde Lektüre

Bestimmt gehört nicht zuletzt eine große Trittsicherheit dazu, um schriftstellerisch für ein Stück Wegs die Sandalen einer Traditionsgestalt überzustreifen, der einige der größten Statuen der Welt errichtet worden sind - ohne dabei den Boden unter den Füßen zu verlieren.

Mit seinem Buch "Der Vollerwachte aber widersprach und sagte ..." ist Helmut Barthel dies unterhaltsam und dabei höchst befreilich gelungen. Sein Protagonist, der Vollerwachte, behält während seiner anschaulich und unverschnörkelt in buddhistischer Erzähltradition geschilderten Begegnungen mit Schülern, Bettlern, Kranken, Lebensmüden und vielen anderen stets genug Bodenhaftung, um jedem einzelnen auf Augenhöhe zu begegnen. Umso nachhaltiger erfrischt er die Betreffenden, indem er gleichsam im Vorübergehen ihre Denkgewohnheiten erschüttert und ihre Weltordnung durcheinanderbringt. Daß er dabei keineswegs vor buddhistischen Konzepten und Lehrbegriffen haltmacht, illustriert unter anderem die folgende Episode:

Einmal zu später Stunde sprach der Vollerwachte nach langen und ermüdenden Disputen zu seinen schläfrigen Schülern und sagte:

"Kehrt ihr, Mönche, dereinst als Vollerwachte und Erlöste ins Nirvana ein und habt das Samsâra für immer und unwiederbringlich durchschritten, so gibt es keine Erlösung mehr für euch.

Strebt ihr statt dessen fortwährend und wacker die Erlösung an, ohne ihrer jemals teilhaftig zu werden, so bleibt sie euch für immer erhalten." (Erlösung, nein danke, S. 60) 

Angelehnt an die ausdrucksvolle Sprache früher Palikanon-Übersetzungen läßt der Autor seinen Vollerwachten unter Erlösungsuchenden wie unter in dieser Hinsicht völlig unambitionierten Zeitgenossen in 83 Episoden seine Leere verbreiten und denkgerüstvernichtend sein Wesen treiben. Dabei künden viele zwischenmenschliche Details, besonders aber zahlreiche Episodentitel, von einem feinen Humor, der den Gedanken an Dogmen oder den erhobenen Zeigefinger gar nicht erst aufkommen läßt: "Vergeßlichkeit, die auch befreit", "Das Hindu-Huhn oder das Buddha-Ei", "Sumpfmücken und die Erleuchtung", "Schreck laß wach", um nur einige zu nennen.

Die letztgenannte Episode sei auch gleich als Beispiel angeführt, daß es sich trotz der humorvoll-leichten Erzählweise des Autors nie um bloße Wortspielereien handelt. Vielmehr wird hier herrlich beiläufig, doch mit großer sprachlicher Präzision, die alltägliche, unbewußte Gespaltenheit des Lesers derart auf die Spitze getrieben, daß besagter Spalt für einen kurzen Augenblick unüberbrückbar wird und sich dort ein Raum eröffnet, wo sonst unangefochten Ordnung herrscht:

Schreck laß wach ...

Bei einer seiner vielen Meditationen geschah es einmal, daß sich der Vollerwachte im Lotossitz und tief versunken im Schlaf antraf. Er hüstelte erstaunt, und sofort wurde auch der andere wach. (S. 33) 

Autor Helmut Barthel, Jahrgang 1951, setzt sich seit langem mit dem Buddhismus auseinander. Poems wie "Buddhas Eck'" oder "Verkennung unendlich", veröffentlicht im Rahmen seiner Lyrik-Bände "Dichterstube 1 und 2", verdeutlichen fernerhin den lebendigen Umgang, den er mit dieser Denktradition pflegt:

Buddhas Eck'

Ohne daß ein Stuhl mich daran hindert,
ein Kissen mich gar unterbricht,
mich meine Schlafstatt täuscht
oder mich meine Füße in die Irre führen,
werd' ich unaufhörlich sitzen.
[1]

Verkennung unendlich

Den unendlichen Ozean der Verkennung
zu überbrücken, kann nur gelingen,
wenn ihm weitere Verkennungen
hinzugefügt werden.
[2]

Stets wie nebenher und mit großer Bewegungsfreiheit beweist der Autor in Sachen Buddhismus eine Expertise, von der zu profitieren es das vorliegende Buch dem interessierten Leser leicht und dem geneigten Leser launig macht - und das möglicherweise manchen verärgert, der den kurzfristigen Verlust der einen oder anderen Denkfessel zu beklagen hat.


Anmerkungen:

[1] Helmut Barthel, Dichterstube - Kehricht, Band 2, MA-Verlag 2016, S. 158
[2] Helmut Barthel, Dichterstube - Kehricht, Band 2, MA-Verlag 2016, S. 145


Helmut Barthel
Der Vollerwachte aber widersprach und sagte ...
MA-Verlag, Stelle-Wittenwurth 2016
148 Seiten
9,90 Euro
ISBN: 978-3-925718-28-1

6. September 2016


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