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REZENSION/029: Felicitas Hoppe - Prawda. Eine amerikanische Reise (SB)


Felicitas Hoppe

Prawda
Eine amerikanische Reise

von Christiane Baumann


Von Nacherzählern, Trittbrettfahrern, potemkinschen Dörfern und dem "wahren" Amerika
Felicitas Hoppes Prawda - Eine amerikanische Reise

"Wir sind hier doch nicht in Amerika!" (11) - hebt Hoppes amerikanische Reise an. Doch - sind wir, könnte der Leser entgegnen, denn man befindet sich in Boston. Wer Hoppes Prosa nicht kennt, dürfte damit gewarnt sein. Eine herkömmliche Reisebeschreibung ist nicht zu erwarten. Das Motto, "Die Reise ist noch nicht zu End, / wenn man Kirch und Turm erkennt" (5), unterstreicht das. Es geht um den Blick hinter die Kulissen, was zugleich in Frage gestellt wird, da Schriftsteller "immer nur auf der Durchreise sind und dabei in erster Linie sich selber besingen" (119). Sie sind "reisender Gast" (19), für den gilt: "wir reisen bloß mit, wir reisen bloß durch, wir reisen weiter und bleiben nicht stehen" (128). In einem Interview sagte die 1960 geborene Büchner-Preisträgerin Felicitas Hoppe, sie brauche Orte "nicht unbedingt, um über sie zu schreiben", das "Unterwegssein" sei vielmehr der "Motor und das, was das Schreiben" [1] trage. Reisen wird, ein in der Literatur tradiertes Muster, zur Metapher für geistige Bewegung. Was also ist der "Motor" dieser Reise, quer durch Amerika von der Ost- zur Westküste und wieder zurück?

Die Erzählerin mit dem vielsagenden Namen Frau Eckermann, "Nacherzähler und Trittbrettfahrer" (20) sowie bekannt für "Patentdiebstahl" (77), reist nicht allein. Mit im Boot sind Foma, der Sohn eines russischen Generals und als Landschaftsgärtner getarnter Künstler aus Kiew, Jerry, die Fotografin und Tochter eines Hauptmanns aus Halle an der Saale, und MsAnnAdams, gebürtige Wienerin, Lehrende am Darthmouth College Hanover und wandelnde Enzyklopädie. Diese illustre Gesellschaft begibt sich zweihundert Jahre nach Alexis de Tocqueville (1805-1859) und achtzig Jahre nach Ilja Ilf (1897-1937) und Jewgeni Petrow (eigentlich Jewgeni Petrowitsch Katajew, 1903-1942) auf Amerika-Tour. Sie folgt den Spuren der beiden russischen Schriftsteller, die ihre Eindrücke 1936 in dem Band Das eingeschossige Amerika (1936, dt. 2011) veröffentlichten. Ilf und Petrow waren im Auftrag der russischen Tageszeitung Prawda 1935, mitten in der Weltwirtschaftskrise, zehn Wochen in einem Ford quer durch die USA unterwegs, um ein "linientreues" Bild der imperialen Großmacht zu zeichnen, ein Auftrag, der am Ende so nicht aufging. Vom Mangel an Parteilichkeit war schlussendlich die Rede, doch ihr Band konnte trotzdem während der Stalin-Ära in der Sowjetunion erscheinen. Der französische Publizist, Historiker und Politiker Tocqueville bereiste im Auftrag der französischen Regierung die Vereinigten Staaten, um deren Rechtssystem zu studieren. Im Ergebnis entstand sein wichtigstes Werk Über die Demokratie in Amerika (1835-1840).
Damit sind politische Spannungsfelder umrissen, in denen sich die Erzählerin auf der Fährte der Russen und lesend im "Tocquevilleerker" (28), bewegt, ohne in diese jedoch wirklich einzutauchen. Ein Beispiel: Wir schreiben das Jahr 2015 und in den USA stehen Wahlen vor der Tür. Im Traum geht Tocqueville eine Allianz mit Tom Sawyers Tante Polly ein. Er wird Gegenstand einer Unterrichtsstunde, in der die Umsetzung demokratischer Prinzipien an die Befähigung der Menschen geknüpft wird, sie auszuüben: "Es ist wirklich schwer einzusehen, wie Menschen, die der Gewohnheit, sich selbst zu regieren, vollständig entsagt haben, imstande sein könnten, diejenigen auszuwählen, die sie regieren sollen." (157) Schnell versucht die Erzählerin, dem ungemütlichen Traum zu entkommen. Später heißt es zum "allamerikanischen Wahlrecht", es sei "unübersichtlich", "weil nicht der Bürger, sondern der Wahlmann gewinnt, nicht die Mehrheit, sondern ihre Vertreter" (303). Damit hat es sein Bewenden, denn "wer hat Tocqueville jemals im Original gelesen" (159)?

Unter dem anekdotischen Erzählen, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Wirklichkeit und Traum zu einer surrealen, phantastischen Bilderwelt verschmelzen und in dem Phantasiesprünge jedweder Art möglich sind, liegt der Steinbruch der Geschichte, der besichtigt, aber nicht betreten wird. Ilf und Petrow ermächtigte ein "historischer Auftrag" (38), das Verhältnis der beiden Supermächte, zwischen dem Land der Oktoberrevolution und dem der unbegrenzten Möglichkeiten, auszuloten. Doch "was ist eine verschneite Revolution im Oktober gegen das Ende einer Welt im September, in der es keine Gerechtigkeit gibt, weil es hier niemals zur Revolution kommen wird", da diese Welt "auf immer den Reichen und Schönen gehört?" (247) In der Welt des Jahres 2015 ist die Kupfer-Mine von Bisbee, die einst Ilf und Petrow ins Bild setzten, ein Museum. Der Besuch der Ford-Werke von Detroit bietet eine "perfekte Performance", in der "arbeitslose Arbeiter aus Detroit durch arbeitslose Schauspieler aus Hollywood" ersetzt wurden, die den "einfachen Mann am Fließband mimen" (108), und in der der Kapitalist als "Märchenerzähler" (102) auftritt, "denn die Ausbeutung des Menschen und seiner gepeinigten Erde ist für immer an ihr Ende gekommen" (143). Die Erzählerin besichtigt auf den Spuren von Ilf und Petrow den Klassenkampf von gestern. Der Arbeiter von gestern ist der Tourist von heute, der sich als "Held im unerbittlichen Kampf für die Servicegesellschaft" (283) zu behaupten weiß, was im Slogan "Touristen aller Länder, vereinigt euch" (283) gipfelt. Die revolutionäre Idee ist pervertiert. Revolution reimt sich auf "Hohn" und Tocqueville auf "still" (158). Das Land erscheint als Vergnügungspark, in dem das Leben zur touristischen Existenz mutiert und der Mensch als ewiger Urlauber firmiert in einer "käufliche(n) Menschengemeinschaft, [...] auf der kurzen gemeinsamen Reise durch eine Welt, die den ganzen Tag über damit beschäftigt ist, unsere wahre Natur zum Verschwinden zu bringen" (98).

Die Erzählerin begegnet auf ihrer Reise einer in "touristisch verträgliche Schnittmengen" (164) gepressten Wirklichkeit, die in mantraartig wiederkehrenden Floskeln wie "Schreiben Sie das in Ihre Notizbücher, Gentlemen ..." (11) an den Mann beziehungsweise die Frau gebracht wird, dabei auf seriell vorgefertigte Bilder und Meinungen zurückgreifend. Das Erzählen nimmt scheinbar diesen Mainstream auf, indem es die menschliche Existenz als massentouristisches Phänomen ästhetisiert. Doch der Versuch, die "Kunst mit dem Leben zur Deckung zu bringen" (106), scheitert und und es wächst die "leise Ahnung von einem großen Betrug" (291). Die Erzählerin steigt aus dem "Distanzplan" aus, aus der vorgegebenen Route und der touristischen Uniformität. Sie stellt sich dem "Twister" (176), schaut dem Sturm ins Auge und taucht ab in die magische Höhle, um sich ihres Seins, ihrer Identität zu versichern und aus einer "Braut am Wegrand", wie sie Jerry als Fotoserie festhält, als Mitreisende, zu einer Frau zu werden, die das Steuer selbst in die Hand nimmt und begreift, "dass man kein Land braucht, wenn man den Kosmos hat" (291). Dieser Kosmos ist die Kunst.

Die Erzählerin reist in und mit Literatur, folgt der Abenteuerlust eines Tom Sawyer, erlebt die Faszination "Tara" aus Margret Mitchells Vom Winde verweht. Sie erinnert den weihnachtshassenden Grinch des berühmten Kinderbuchautors Theodor Seuss Geisel, besucht Michael Jacksons Neverland-Ranch, trifft die Simpsons, diese "allamerikanische Familie", sowie Quentin Tarantino persönlich und begegnet John Steinbecks Lizzy aus Die Reise mit Charley. Auf der Suche nach Amerika, um nur einiges aus dem zitierten literarischen und filmischen Unterbau zu nennen. Aus dieser Kunst, aus Zitaten, Verweisen und Anspielungen, entsteht eine furiose, nicht immer leicht zu konsumierende Sprachkunst, deren Abgründe ohne Kenntnis der literarischen Referenztexte verborgen bleiben, wobei manches bisweilen konstruiert und überanstrengt wirkt. Die Kunst wird zur eigentlichen Welt: "Es geht gar nicht um das wirkliche Leben, es geht um Märchen und Abenteuer, um kleine Wochenendreisen zum Mond, auf dem die Königin mit ihren trainierten Oberarmen bereits einen anderen Garten betreibt, in dem auch der portugiesische Wasserhund auf seine fröhlichen Kosten kommt" (314). Allein der Künstler hat die Frage "Prawda" oder "Istina" - gerechtes oder "reines Sein" (181) - bereits zugunsten von "Prawda" entschieden. Die "magische Höhle", erlebt als Twister, ist der Ort künstlerischer Selbstverwirklichung und nur das Kunstwerk vermag Magie zu erzeugen, ist "Krücke und Schatten" (178) der Menschheit. Am Ende ist Amerika "spurlos verschwunden [...], nichts als eine Erinnerung" 317) und die Kunst der Ort, der die Erinnerung festhält, doch nicht "der Inhalt, sondern einzig die Form" (178) vermag es, ihr Gestalt zu verleihen. Damit nähert man sich dem poetologischen Programm der Autorin, die aus literarischen Vorlagen, aus Musik und Film ihre originelle Wort-Kunst schöpft und sie gegen eine Welt setzt, in der Nachrichten keine Nachrichten mehr sind und selbst "jede Landschaft Kulisse, ein potemkinsches Dorf, das bereits im Verschwinden begriffen ist, noch bevor man es besichtigen kann" (137).

Hoppes amerikanische Reise mit ihren drei Gefährten kann man in einem Blog nachlesen. Bilder und Namen verleihen dem literarisch Verfremdeten Authentizität. Zu Ilf und Petrows Das eingeschossige Amerika liegt seit 2011 eine deutsche Übersetzung mit einem Vorwort der Autorin vor. In einem Interview sprach Hoppe 2015 vom Anspruch ihrer Reise, das Verhältnis der USA zu Russland und Europa auszuschreiten und konstatierte die "unüberbrückbare Distanz" [2] beider Imperien. Wie tief die Kluft noch werden würde, konnte damals niemand ahnen. Angesichts aufgekündigter Abrüstungsverträge und eines drohenden atomaren Wettrüstens gerät eine "amerikanische Reise" aus der Vor-Trump-Zeit in ungeahnte Kontexte, die der Lektüre im Jahr 2019 und der im Band ironisierten Geschichte vom menschlichen Fortschritt und "American Spirit" viel an Leichtigkeit nehmen, aber wie heißt es im Text unter Bezug auf die amerikanische Schriftstellerin Gertrude Stein: "This is the road and we are on it."


Anmerkungen:

[1] Felicitas Hoppe im Gespräch über Inspirationstourismus, ermüdende Landschaftsbeschreibungen und die Welt als Selbstbedienungsladen, Jens Nommel 12/2009,
https://www.handlungsreisen.de/interviews.php?do=view&id=4 (zuletzt abgerufen: 16. Februar 2019).

[2] Interview mit Felicitas Hoppe, Süddeutsche Zeitung, 9. November 2015,
https://www.sueddeutsche.de/politik/usa-reise-auf-historischen-spuren-man-fuehlt-sich-als-europaeer-klein-und-maekelig-1.2721676 (zuletztabgerufen: 17. Februar 2019).


Felicitas Hoppe
Prawda
Eine amerikanische Reise
Frankfurt am Main, Fischer 2018
317 Seiten,
20,00 Euro,
ISBN: 978-3-10-032457-3

21. Februar 2019


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