Schattenblick → INFOPOOL → DIE BRILLE → REDAKTION


REZENSION/038: Jackie Thomae - Brüder (SB)


Jackie Thomae

Brüder

von Christiane Baumann


"Grüße aus Dakar"
Zu Jackie Thomaes Roman Brüder

Wie stellt man den Kontakt zu zwei erwachsenen, mittlerweile 47 Jahre alten Söhnen her, die man im Kleinkindalter samt Müttern in der DDR zurückließ, um in die afrikanische Heimat heimzukehren? Idris und seine Söhne Michael Engelmann und Gabriel Loth trennten lange Zeit nicht nur Kontinente, sondern auch der "Eiserne Vorhang". "Grüße aus Dakar" (404) - so überschreibt der Senegalese schließlich die Mail an seine Söhne, die 1970 während seiner DDR-Studienzeit geboren wurden, die nichts von ihm und erst recht nichts voneinander wissen. Jackie Thomaes Roman beginnt nicht mit dieser ungewöhnlichen Situation. Der Vorgang steht am Ende des Erzählens, das zunächst die Geschichte von Michael ausbreitet, Idris Reise nach Deutschland schildert, auf der ihn seine Vergangenheit einholt, und schließlich Gabriels Lebensweg beleuchtet. Erzählt wird von den Wegen und Irrwegen der Halbbrüder auf der Suche nach ihrer Identität, an deren Ende eine Begegnung beider möglich scheint.

Mick und Gabriel könnten unterschiedlicher nicht sein, dennoch sind sie sich ähnlicher als es zunächst den Anschein hat. Mick, ein Außenseiter, irrlichtert in den 1990er Jahren ziel- und planlos herum. Nach der Republikflucht mit seiner Mutter Monika gibt er sich im Westen dem Konsum- und Partyrausch hin. Er beginnt eine Lehre als Zimmermann, ohne den Beruf ernsthaft zu erwägen. "Abhängen" wird zur Lebensform, Beziehungen sind nur Spiel, Frauen austauschbar. Er ist das personifizierte Chaos, gewissermaßen "a-sozial". Mick entwickelt sich zum "Mitreisenden" (7) in seinem eigenen Leben und sieht sich plötzlich in einer Sackgasse. Er hat alles verloren: seine Lebensgefährtin Delia, seinen Job und sein Geld. Die Krise rüttelt ihn auf, wird zum Neuanfang des nunmehr Dreißigjährigen, der - Ironie der Geschichte - als Yoga-Lehrer und Life-Coach (409) seine Lebenserfahrungen produktiv macht und in einer Zeit, in der "Achtsamkeit und Gelassenheit zu den ultimativen Must-haves" (410) avancieren, seinen Platz in der Gesellschaft findet.

Gabriel verliert als Siebenjähriger seine Mutter Gabriele durch einen Unfall. Er wächst bei seinen Großeltern auf. Der Großvater wird zur wichtigsten Bezugsperson, die ihm Geradlinigkeit und Konsequenz vorlebt. Gabriel geht nach der Wende nach Westberlin, studiert Architektur. Zielstrebig arbeitet er an seiner Karriere und bringt es in London um die Jahrtausendwende, die den Erzähleinstieg in seine Biografie bildet, zum Stararchitekten. Er optimiert sich und sein Leben, wird zum Workaholic. Fleur ist die Frau, die er will und die er bekommt, allerdings erst, als sie von ihm schwanger ist. Sie lebt schließlich kaum noch mit ihm, sondern mit Sohn Albert neben ihm. Gabriel ist Perfektionist und zugleich ein "Fremder" (217) in seiner Familie, in der Gesellschaft überhaupt, deren Oberflächlichkeit er nur mit Arroganz und Zynismus erträgt. Auch er verliert zunehmend seine sozialen Beziehungen, ist auf andere Art entsozialisiert. Ein Projekt jagt das nächste. Längst schon geht es nicht mehr um Kreativität. Ein einziger Moment wird ihm schließlich zum Verhängnis. Er verliert die Kontrolle über sich. Seine aufgestauten Aggressionen entladen sich an einem Mädchen, einer seiner Studentinnen. Danach erlebt Gabriel einen Shitstorm, der es an nichts fehlen lässt: "Gender, Bildungssystem, Klasse, Hautfarbe, alles kam aufs Tapet..." (220) Er verliert seine gesellschaftliche Reputation, muss erkennen, wie brüchig seine Ehe ist. Eine Reise zu einem Freund nach Brasilien, dessen Haus er einst baute, wird zum Anker. In der Abgeschiedenheit, zurückgeworfen auf sich selbst, werden die wesentlichen Dinge wieder sichtbar: "Ich konnte auf vieles verzichten, aber niemals auf das Bauen." (406)

Mick und Gabriel fallen in der DDR aufgrund ihrer schwarzen Hautfarbe aus der gesellschaftlichen Norm. Die Frage nach dem abwesenden Vater ist omnipräsent, wird jedoch verdrängt. Rassismus und Chauvinismus widersprachen der Staatsdoktrin. Wenngleich eine alleinerziehende Mutter mit farbigem Kind nicht unbedingt zu den favorisierten Lebensmodellen gehörte, führte die Hautfarbe im DDR-Alltag nicht zur Stigmatisierung. Während Mick in Westdeutschland seine Andersartigkeit "kultiviert" und das Thema "Hautfarbe" ignoriert, sucht Gabriel zwanghaft seiner Herkunft durch sozialen Aufstieg zu entkommen. Er fühlt sich nicht zufällig in London zu Hause, wo er in der multikulturellen Masse verschwindet. Allerdings erlebt er gerade dort erstmals eine Form von strukturellem Rassismus. Das gab es in der DDR, die die Gleichheit aller Menschen zum obersten Grundsatz machte, nicht, was nicht bedeutet, dass das Zusammenleben frei von Ressentiments und Vorurteilen war. Wenn Idris die DDR-Zeiten als die "schönsten" (201) in seinem Leben erinnert, weil es dort "warmherziger" und "menschlich" (201) war, so bietet der Roman mit seinem Freund Oumar, der latenten Rassismus empfand, ein Korrektiv. Idris fluchtartiger Weggang aus der DDR hatte andere Gründe: Devisen-Schmuggel, eine Schlägerei und nicht zuletzt zwei Kinder von zwei verschiedenen Frauen machten seinen Verbleib unmöglich. Doch er entschied sich letztlich für die Rückkehr in seine Heimat, weil er nicht das Schicksal des "ewigen Fremden" (199) erleiden wollte und weil man dort gute Ärzte brauchte. Er wurde in Dakar ein anerkannter Mediziner, der Arme und Reiche gleichermaßen behandelte, womit er ein Stück der sozialen Utopie erfüllte, die die DDR einst veranlasste, Jugendliche aus afrikanischen Ländern, die "Erbauer des neuen, postkolonialen Afrikas" (197) kostenlos studieren zu lassen. Es ist diese Arbeit, die seinem Leben Sinn gab und mit der er seine Abwesenheit als Vater zweier Söhne in der DDR im Rückblick zu legitimieren sucht.

Auch für Mick und Gabriel wird sinnerfülltes Arbeiten zum Prüfstein. Mick, der im Westen als Drogenkurier nur knapp dem Gefängnis entgeht, sich in Zufallsjobs bis zum Nachtklubbesitzer durchschlägt, kommt erst, als er eine Arbeit beginnt, die anderen Menschen in Krisen hilft, bei sich an. Gabriel entfremdet sich nach dem Studium seinem sozialen Umfeld wie Mick. Seine Arbeit, zunächst schöpferisches Betätigungsfeld, beginnt ihn in dem Maße zu vernichten, wie er an Profit und Prestige gewinnt. Die Entfremdung wirkt zerstörerisch und führt letztlich zur Katastrophe. Als er zu seiner eigentlichen schöpferischen Arbeit, dem Bauen, Zeichnen und Entwerfen, zurückfindet, kann er seine Identität annehmen.

Die erzählte Zeit umspannt die Jahre 1985 bis 2017, wobei in Rückgriffen die 1970er Jahre und die Nachkriegszeit aufgeblendet werden. Das Erzählen aus der Perspektive verschiedener Personen lässt ein breites gesellschaftliches Panorama entstehen, das Sichtweisen relativiert und um differenzierte Bilder bemüht ist. Der Roman wirft Schlaglichter auf DDR, Wendezeit und Ankunft im bundesrepublikanischen Alltag, wobei der Osten weder so grau wie im "Kalter-Krieg-Agentenfilm" und der Westen "nicht der Inbegriff der Coolness" (17) ist. So manches Klischee landet auf dem Müllhaufen der Geschichte. Die angebliche Uniformität des Ostens erweist sich farbiger als gemeinhin konstatiert und die westdeutsche Vielfalt führt mit ihrem Marken-Zwang in eine Uniformität mit anderen Vorzeichen.

Thomae, selbst 1972 in Halle geboren und in Leipzig und Berlin aufgewachsen, weiß als Tochter einer ostdeutschen Alleinerziehenden und eines afrikanischen Vaters, wovon sie erzählt. Sie gehört zu den in den 1970er Jahren geborenen Micks und Gabriels und damit zu Autoren wie Manja Präkels oder Sasa Stanisic, die sich jüngst literarisch zu Wort gemeldet und unverkrampft ihre deutsch-deutschen Erfahrungen und die Bedeutung von Herkunft aus der Sicht ihrer Generation ausgelotet haben. Thomae erzählt leichtfüßig und spannend, so dass die Lektüre den Leser schnell in ihren Bann zieht. Dabei gerät manches plakativ bis trivial, wie der "Hautfarbenstress" (253), "Ingrid-Bergman-hafte Schwarzweißfotos" (280) oder Selbstreflexionen Gabriels als "Retter" Fleurs, "dieser enigmatischen Nymphe" (263). Vergleiche Fleurs mit einer "englischen Rose" und der chinesischen Dolmetscherin June als "Lotosblüte" (314-315) verfangen im Klischee. Der Name Fleur liefert gleich den Hinweis auf Claude Chabrols La Fleur du mal (275), einen Film, der Doppelmoral und menschliche Abgründe in einer bürgerlichen Familie entlarvt. Es ist dick aufgetragen, wenn diese Fleur über ihren Hochzeitstag im biblischen Bezug meint, sie sei "Loths Weib" (501) geworden oder Gabriel zum modernen Siegfried (348) mutiert. Zudem lassen die Erzengel Michael (Engelmann!) und Gabriel grüßen. Die mythischen Bezüge wirken aufgesetzt. Die zitierten Gesänge des Maldoror (Lautréamont) und der erwähnte Film American Psycho assoziieren allerdings den apokalyptischen Zustand einer kapitalistischen Welt, in der die Entfremdung des Menschen selbstzerstörerische Dimensionen erreicht hat und die auf Armut und Ausbeutung, Rassismus und Chauvinismus keine befriedigenden Antworten zu geben vermag. Die gesellschaftlichen Perversionen spiegeln sich in den gestörten Beziehungen der Individuen, werden für sie zur existenziellen Bedrohung. Der Schluss des Romans, der alles irgendwie ins Happy-end wendet, kippt in die Kolportage. Die Fragen, die der Roman, der in diesem Jahr für den Deutschen Buchpreis nominiert war, stellt, sind nichtsdestotrotz wichtig.

Jackie Thomae
Brüder
Roman
Berlin, Carl Hanser Verlag 2019
430 Seiten
23,00 Euro
ISBN: 978-3-446-26415-1

17. Dezember 2019


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang