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REZENSION/043: Ingo Schulze - Die rechtschaffenen Mörder (SB)


Ingo Schulze

Die rechtschaffenen Mörder

von Christiane Baumann


Berufswunsch Leser. Ingo Schulzes Roman Die rechtschaffenen Mörder irritiert, blufft und fesselt

"Wer kann denn das Ende eines Buches auch nur / erahnen, wenn er darangeht?" (Vilem Flusser) - das Motto lässt sich als Erfahrung des Autors interpretieren, aber es zielt gleichermaßen auf den Leser, der sich in Ingo Schulzes Roman mit überraschenden Wendungen konfrontiert sieht. Die Geschichte um Norbert Paulini hebt im Ton des Märchens an: "Im Dresdner Stadtteil Blasewitz lebte einst ein Antiquar, der wegen seiner Bücher, seiner Kenntnisse und seiner geringen Neigung, sich von den Erwartungen seiner Zeit beeindrucken zu lassen, einen unvergleichlichen Ruf genoss." (9) Das lässt an eine Vorzeit denken und antizipiert Vorbildhaftes. Doch die Geschichte ist in jüngster deutscher Vergangenheit angesiedelt, und das Hohelied auf den Antiquar wird im zweiten Roman-Teil systematisch zerstört, der wiederum im dritten seine Demontage erlebt. "Literatur braucht Ambivalenz" (276) - so erklärt es Norbert Paulini, 1953 in Dresden geboren und als Antiquar in der DDR schon zu Lebzeiten eine Legende. Sein Lebensweg, der den ersten, umfangreichsten Teil ausfüllt, mutet so wunderbar an, dass sich in den allwissenden Gestus immer wieder ein Ich-Erzähler als Zeitzeuge einblenden muss, um das Geschehen zu beglaubigen, ohne dabei Teil der Handlung zu sein.

Norbert Paulini wird schon als Kind auf Büchern gebettet. Seine Mutter, die nach der Geburt stirbt, hinterlässt den Bestand einer "Buchhandlung mit antiquarischer Abteilung", von dem sich sein Vater, ein Dreher, der zunächst in einer Maschinenfabrik arbeitet, dann zum Straßenbahnfahrer umschult, nicht trennen kann. Die Großmutter Agnes Paulini, die die Betreuung des Kindes übernimmt, entdeckt noch spät die Freude am Lesen, die auch den jugendlichen Norbert ergreift. Seine ersten Bücher gehörten zur Jugendlektüre der Mutter: Joseph Conrad, Fjodor Dostojewski und Stendhal. Seine Art zu lesen, hat jedoch nichts von einer stürmischen Leidenschaft, es ist vielmehr eine nüchterne Beschäftigung mit Büchern, um sich den "Kosmos" (43) der Literatur systematisch zu erschließen. Norbert Paulini ist ein Sonderling, der den Berufswunsch "Leser" (34) hegt. Und tatsächlich öffnen sich dem Arbeiterkind, das zunächst eine Ausbildung zum BMSR-Techniker mit Abitur beginnt, alle Türen, um sich diesen Wunsch zu erfüllen. Bei der Armee landet er in der Regimentsbibliothek. Danach kann er eine Buchhändlerlehre absolvieren, die ihn, der mit zeitgenössischer Literatur wenig anzufangen weiß, zügig in ein Antiquariat wechseln lässt, wo er das Rüstzeug erhält, um schließlich mit dem Buchbestand seiner Mutter ein eigenes Antiquariat zu gründen.

Das geschieht am 23. März 1977, und es beginnt das Märchen vom Antiquar Norbert Paulini, der sein Leben "dem wertvollsten Gut der Menschheit" (69) widmet, der "allein für die Bücher lebte" (71) und der alles zu beschaffen vermochte, was das Herz eines Lesehungrigen in der DDR begehrte, auch wenn es nicht auf der politischen Linie lag. Qualität - das ist in Paulinis literarischem Kosmos die Messlatte. Seine Kunden kommen nicht allein aus Leipzig, die Bücherwürmer reisen aus Berlin oder Jena und sogar von den Ostseeinseln Rügen und Usedom an. Dankesbriefe für beschaffte Raritäten erreichen den Antiquar, der für jeden Besucher nebenher wichtige Lektüreempfehlungen bereithält. Er begründet samstags Leseabende, die sich als "Salon Prinz Vogelfrei" etablieren, ein Name, der sich der Fröhlichen Wissenschaft Friedrich Nietzsches bedient. Zutritt erlangt man per Einladung. Die Ehe mit Viola, einer Genossin und eifrigen Zeitungsleserin, entwickelt sich harmonisch und die Geburt des Sohnes Julian im Juni 1989 macht das Lebensglück perfekt.

An Paulini, in dessen Leben die Gegenwart auch aufgrund seiner staatsfernen Haltung nie einen Platz hatte, geht die politische Wende im Herbst 1989 vorbei. Doch sie bedeutet das Ende des "Leselandes DDR" und somit auch das seines Antiquariates. Die Vernichtung seiner Existenz vollzieht sich sukzessive. Die Leser bleiben aus. Die Preise auf dem Buchmarkt sind inflationär, während Viola als Friseurin traumhafte Gewinne erzielt: "[...] nur für einen Augenblick [...], wusste Norbert Paulini nicht mehr, wer er war. Er besaß keine Sprache, keinen Wunsch, kein Ziel" (105). Violas Stasi-Tätigkeit, die insbesondere das Antiquariatsleben einschloss und nun offenbar wird, besiegelt das Ende der Ehe. Das Haus, in dem sich sein Bücherreich befindet und das er erben sollte, wird von Alteigentümern aus dem Westen beansprucht. Kredit bekommt er nicht, obwohl er in seinem Antiquariat "die Essenz der Literatur der letzten fünf Jahrhunderte" (152) beherbergt. In der "neuen Ära" (125) ist für Investitionen in Bücher kein Platz, vielmehr wird das Leipziger Zentrallager zur "Büchermüllhalde" (142), auf der sich von Grimmelshausen bis Schiller alles wiederfindet, was die deutsche Kultur- und Literaturtradition ausmacht.

Paulini fühlt sich verantwortlich für das, was die Zeit überdauert. Er bleibt sich und seinen Büchern treu und bringt sein Antiquariat in einer Scheune in Dresden-Niederpoyritz an der Elbe unter. Er versucht, sich als Kassierer in das Heer der Billigarbeiter in einem Supermarkt einzureihen, nimmt schließlich einen Job als Nachtportier an, den er zu verlieren droht, als er ein letztes Stück menschlicher Würde gegen die Übermacht westdeutscher Siegermoral verteidigt. Letztlich vernichtet das Hochwasser 2002 weite Teile seines Buchbestandes, und er gehört zu jenen, die die Stadt verlassen müssen, "weil sie hier keine Arbeit fanden oder keine Wohnung" (183). Paulini hatte immer "das Leben eines Dissidenten" geführt, nur, "dass der Westen Eigensinn und Unabhängigkeit mit anderen Mitteln bestrafte" (169). Er siedelt mit seinen verbliebenen Büchern nach Sonnenhain im Osterzgebirge um. Oft hatte er sich gewünscht, "das Land sollte absaufen mit Mann und Maus, eine Handvoll Gerechter darüber in einer Arche" (175). Jahre später, so erfährt der Leser, ermittelt die Kriminalpolizei gegen Paulini und seinen Sohn wegen rechtsradikaler und fremdenfeindlicher Umtriebe. Das Ergebnis der Untersuchung bleibt offen. Die Erzählung bricht ab. Führten sozialer Abstieg, soziale Ungerechtigkeit, die Entwertung der Lebensleistung und der Verfall geistig-kultureller Werte einen Mann von Paulinis Bildung ins rechte Lager?

Die Geschichte ist bewusst plakativ angelegt und fordert in ihrer betont konventionellen Machart, die an Gottfried Keller, Heinrich von Kleist oder Theodor Fontane denken lässt, zum Widerspruch heraus. Den liefert der Roman dann gleich selbst in den zwei angehängten Novellen, die die Paulini-Erzählung systematisch unterlaufen. In der ersten Novelle meldet sich nun der Ich-Erzähler des ersten Teils direkt zu Wort. Es ist der erfolgreiche Schriftsteller "Schultze", der von seiner Beziehung zu Paulini erzählt. Ganz nebenher wird eine "Ménage á trois" offengelegt, denn Schultzes Freundin Lisa ist auch mit Paulini liiert. Die Legende vom Antiquar mutiert zum Eifersuchtsdrama, das Schultze schreibend zu bewältigen sucht, wobei er den Schreibprozess intensiv reflektiert. Die Erzählung, so verrät er, "sollte Paulini als den großen Leser zeigen, der über Zeiten und Systeme hinweg aufgrund seiner Veranlagung und Leidenschaft zum Bollwerk wird gegen das, was uns Büchermenschen bedroht, weil er seinen Wünschen und Überzeugungen treu bleibt, sich gewissermaßen auf natürliche Weise gegen das stemmt, was uns Jahr für Jahr aushöhlt und wegschwemmt und eines Tages nichts mehr von dem übrig gelassen haben wird, wofür wir zu leben geglaubt haben." (242) Der Erzähler erklärt dem Leser die Geschichte. Unmerklich wird Schultze zur Hauptfigur, seine Perspektive scheint plausibel. Paulini wird dem Leser entfremdet. Der Autor macht die Manipulierbarkeit des Lesers sichtbar. Schultze bekennt seine ursprüngliche Absicht, den "Westlern" zu zeigen, "wo wahre Bildung lebte" und zugleich den "Ostlern die eigene Geschichte" (279) bewusst zu machen. Sein klischeebehaftetes Denken hält einer Überprüfung in der Wirklichkeit nicht stand. Der Erzähler muss angesichts des "Herrschaftswahns" und der Selbstüberhebung Paulinis seine eigene "Hybris" (279) und sein Scheitern gestehen. "Es genügt nicht die einfache Wahrheit", so formulierte es einmal Volker Braun, einer der im Roman genannten Autoren der Sächsischen Dichterschule.

Die zweite Novelle wird aus der Perspektive der Lektorin des Schriftstellers Schultze erzählt. Die "Westlerin" (292) reist eigens aus München in die Sächsische Schweiz, um sich zum Tod von Paulini und Lisa vor Ort am Fuße der Goldsteinaussicht, einer Felsengruppe, ein Bild zu machen. Schultzes Schreibprobleme werden in marketingstrategische Überlegungen überführt. Versatzstücke aus Paulinis Geschichte erscheinen als Nachrufe im Spiegel der Boulevard-Presse. Ihre Recherche im Stil des investigativen Journalismus verfügt über alles, was die Kolportage braucht. War es Selbstmord oder Mord? Plötzlich ist auch Schultze des Mordes verdächtig. Gibt es für Lektoren eine Schweigepflicht? Der Trip bietet nicht nur die Besichtigung des Schauplatzes, sondern auch die von Literatur. Fontanes Ellernklipp zieht die Lektorin als literarische Vorlage in Betracht. Der Blick in die Landschaft lässt sie an Heinrich von Kleists Brief-Schilderungen der Sächsischen Schweiz denken. Die Legende lässt sich noch retten, erst recht nach dem Tod der beiden Protagonisten und zwar "mit zweifachem Novellenschluss" (290).

Bei ihrem recherchebeflissenen Versuch allerdings, Paulini dem Schubfach "rechtsextrem" (309) zuzuschlagen, hat sie die Rechnung ohne den Bosnier Juso Podzan Livnjak gemacht. Livnjak fühlte sich und seine Frau "beschützt" (317) von Paulini, der ihn zum Mitarbeiter und im Falle seines Todes zum Hüter seiner Bibliothek bestimmte. Das alles passt ebenso wenig zu einer fremdenfeindlichen Haltung wie Paulinis Liebe zur Slowakin Hana. Livnjak verlor wie Paulini seine Existenz, allerdings im Bosnien-Krieg. Er konnte im heimatlichen Livno seine Bücher ebenso wenig beschützen wie in Sarajevo. Er fragt, "was das Motiv gewesen sein soll, uns mit Kanonen zu bombardieren und mit Präzisionsgewehren abzuknallen oder zum Krüppel zu schießen" (316). Livnjak hat "Mörder gesehen" und erlebt, sogar "mit Mördern zusammenleben müssen" (310). Dabei weiß er sich nur von "rechtschaffenen Menschen" (317) umgeben. Rechtschaffenheit, bei Heinrich von Kleist in einem Brief als "höchstes Gesetz" in Gegensatz zur Politik gestellt, die nur ihren Vorteil kenne, wird desavouiert. "Ist das noch immer eine menschliche Welt, wenn kein Platz ist für all die Schwachsichtigen und Schüchternen, die lieber über die Welt nachdenken, als sie zu erobern? Wo finden Leute wie wir Zuflucht?" (317) Dieses "Wir" schließt Paulini ein. Seine Mutter "investierte" nach dem Zweiten Weltkrieg in Bücher, als "Beitrag" (15), um einen neuen Krieg zu verhindern. Paulinis Bücher, die 500 Jahre deutscher und europäischer Literatur- und Kulturgeschichte repräsentieren, haben vor Krieg und Barbarei nicht zu schützen vermocht, vielmehr sind sie es nun, die vor der Vernichtung bewahrt werden müssen.

Der Roman treibt mit dem Leser ein raffiniertes Spiel, das jedoch nicht als "kontextloser Ästhetizismus" (286) zu verstehen ist. Vielmehr ist der Leser im Wechsel der Perspektiven und Identitäten immer wieder gezwungen, Gewissheiten zu überprüfen und in Frage zu stellen. Wenn "alles" Poetische "indirekt" (209) ist, wie es im Roman heißt, wirkt die Geschichte an der Oberfläche wie ein Bluff. Paulinis Sehnsucht nach einer Sintflut und einer Arche Noah mit einer "Handvoll Gerechten" lässt an Kleists Novelle Michael Kohlhaas denken, auch an Fontanes Kriminalgeschichte Ellernklipp, im Roman gleich mehrfach genannt. Bei Fontane wird der Mörder nicht durch die Justiz seiner gerechten Strafe zugeführt, sondern durch das "Gesetz" gerichtet, das "ewig und unwandelbar" über allem menschlichen Tun waltet. Kleists Michael Kohlhaas ist einer der "rechtschaffensten" und zugleich einer der "entsetzlichsten Menschen seiner Zeit". Und weiter heißt es in der Novelle: "Sein Rechtsgefühl machte ihn zum Räuber und Mörder". Wer also "die rechtschaffenen Mörder" in Ingo Schulzes Roman sucht, sollte sich nicht mit einfachen Wahrheiten begnügen, vielmehr den Blick für gesellschaftliche Zusammenhänge schärfen. Er sollte der Heldenerzählung ebenso misstrauen wie der Schwarz-Weiß-Malerei und dem Sensationsjournalismus, die einer Annäherung an DDR-Geschichte ebenso hinderlich sind wie einer wirkungsvollen Auseinandersetzung mit dem Rechtsradikalismus in unserer Gesellschaft.

Ingo Schulze
Die rechtschaffenen Mörder
Roman
Frankfurt/M.: Verlag S. Fischer 2020
318 S.
21,00 Euro
ISBN: 978-3-10-390001-9

4. Juni 2020


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