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REZENSION/050: Lutz Seiler - schrift für blinde riesen. Gedichte (SB)


Lutz Seiler

schrift für blinde riesen
Gedichte

von Christiane Baumann


Widerstand und Fremdsein in der Welt. Lutz Seilers neuer Gedichtband schrift für blinde riesen

Nach seinen preisgekrönten Romanen Kruso (2014) [1] und Stern 111 (2020) [2] hat Lutz Seiler nun wieder einen Lyrikband vorgelegt. Es ist seit 1995 die fünfte Gedichtsammlung, die von ihm erschienen ist. Seilers Lyrik, die in einem literarischen Kanon von Hölderlin, Huchel, Trakl über Stefan George bis Gottfried Benn, um einige wichtige Namen zu nennen, wurzelt, bewegt sich in einer eigenen Welt, die entdeckt und erschlossen werden will. Wer nach Zugängen sucht, kann in seinen Essays wie den 2020 veröffentlichten Heidelberger Vorlesungen Laubsäge und Scheinbrücke Anregungen finden.

Das Gedicht morgenrot & knochenaufgänge, das den Band schrift für blinde riesen eröffnet, deutet den programmatischen Rahmen an. Die Texte schreiten den Raum aus von Ost nach West, in dem Anfang und Ende eines Lebens und Menschheitsgeschichte aufgehoben sind. "Morgenrot" ("Osten") und "Knochen" sind als Metaphern in Seilers Schaffen Konstanten. Im Gedicht handwunder & tagebuch (2010) sah man den Großvater, "längst hat sich der tod / mit seinen knochen ausgesprochen". Im gleichen Band, im felderlatein (2010), kann man in bodmers tal lesen: "kein / guter anblick. wenn / die jahre, holz- / & knochen wachstum sich / verzweigen". In gravitation (2000) heißt es: "jedes Gedicht geht langsam / von oben nach unten", was meint, "zu den rohen Stoffen, den Erzen, den Knochen der Erde, wie sie nach alter Bergbaumythologie benannt sind" (Laubsäge und Scheinbrücke, 2020). Das lyrische Ich begreift sich als Teil der Menschheitsgeschichte. Das Gedicht morgenrot & knochenaufgänge beschreibt die "stunde null im habitat" (7), eine Wohnstätte der Ur- und Frühmenschen, die "nichts sehen" (7). Die Menschwerdung des Affen, die Friedrich Engels in seinem berühmten Aufsatz als komplexen historischen Prozess beschrieb, in dem die Arbeit, die erst menschliches Leben und geistige Entwicklung ermöglicht, zur zentralen Kategorie wird, drängt sich als Assoziation auf: "ein griff / nach der geschichte: daumen & zeigefinger / kommen zusammen, die / schreibhand entsteht. zehntausend jahre / vor dem aufrechten Gang" (7). Schreiben ist die Arbeit, um die die poetische Reflexion kreist und die immer wieder hinterfragt wird. In dem sich anschließenden Gedicht ich hab dem vogel stimmen nachgesagt, blickt das lyrische Ich, mit biographischen Details Seilers spielend, auf seine literarischen Anfänge zurück. Es ist zugleich Standortbestimmung dichterischen Wirkens. Die Frage "für wen?", nach dem Adressatenbezug, beantwortet das lyrische Subjekt mit einer Selbstreferenz, in dem es auf sein "unersättliches poem" (11) weist. Poesie fungiert als Rückzugsort, um Erfahrungen, Zumutungen und Verluste zu verarbeiten und Erinnerungen zu bewahren. Seiler spricht in seinen Heidelberger Vorlesungen von einem "Reservat aus Sprache und Poesie". Sprache ist Heimat eines Unbehausten, der sich in ihr und durch sie in der auf Kollektivität ausgelegten DDR seiner Individualität ebenso versichern konnte, wie sie ihm in der Konsumwelt des Westens Anker und Refugium ist. Allerdings erweist sich dieser Rückzugsort als gefährdet. Das Hölderlin'sche "Sei du, Gesang, mein freundlich Asyl!" trägt nicht mehr. Das lyrische Ich konstatiert: "sei du / gesang, sei du das leuchten / aus den Bäumen, die verloren sind" (31) und stellt damit sein Schaffen in den Kontext irreversibler ökologischer Verwerfungen, die eine existenzielle Bedrohung der Menschheit darstellen.

Heimat versteht Seiler "als Gangart", die in der Kindheit wurzelt. In prometheus als kind tritt uns nicht der mutige Rebell entgegen, vielmehr ein in die DDR-Alltagswelt eingezwängtes, jugendliches Ich, das sich als "lutz" zu erkennen gibt, unfähig, aus dieser Welt auszubrechen. Die Prägungen der Kindheit in der Gegend um Ronneburg, in jener vom Uran-Bergbau verstümmelten, radioaktiv belasteten Landschaft, der in Seilers Schaffen zentrale Bedeutung zukommt, grundieren die Texte. Der Heimatverlust, die Zerstörung des Kindheitsdorfes Culmitzsch bei Selingstädt, das in den 1960er Jahren geschleift, dem Uranabbau der Wismut SDAG geopfert wurde, werden als traumatische Erfahrungen spürbar (ortsdurchfahrt culmitzsch). Der Schmerz wird nie vergehen, denn "das gebet war verloren", doch das lyrische Subjekt "musste genesen. / ich sammelte dinge, als hätten sie inne / das gebet; es war nur verstummt, in ihnen verstummt" (13). kindheit & weiter heißt dieses Gedicht, in dem ein grundlegendes poetologisches Verfahren von Seiler auf seinen Ursprung zurückgeführt wird. Es sind die einfachen alltäglichen Dinge, die Bestand hatten, an denen sich das lyrische Subjekt festhielt und an "denen die Geschichte für einen Moment lesbar wird", wie Seiler in einem Essay formulierte. Die Landschaft der Dinge - Seiler weist auf Francis Ponges Sprachästhetik als Dinglehre und Kosmogonie - bildet den authentischen Ort, der den Gang in die Geschichte und in den Raum poetischer Reflexion ermöglicht, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart kreuzen. Dieses Verfahren lässt ideologische Überformungen, wie in das war der knochenpark, sagt a, scharf hervortreten und rekurriert auf Autonomie. Dinge, wie der gut bekannte HEIKO- Füllfederhalter, mit dem erste Schön-Schreibversuche unternommen wurden, lassen das lyrische Ich in das Jahr 1971 eintauchen. In der Abgeschlossenheit der DDR-Welt waren West-Postkarten ein Ereignis, das sich in der Rückschau, "mit jedem schritt / durch diese weiten" (15), relativiert. Die einstige Schr eibschrift nach Vorgaben, bemüht um äußere Schönheit, wird zugleich zur Projektionsfläche des Dichter-Ichs, um Anspruch und Erreichtes abzuwägen, die Tragfähigkeit eigenen Schreibens zu hinterfragen: "auch du / bist angekommen in der schrift, du schreibst / & hast es nie erreicht. & was erreicht?" (15)

Das lyrische Subjekt beharrt auf dem eigenen Weg: "langsam / aber sicher geht / das knirschen der schritte im schnee" (18). Dabei dominiert das Gefühl der Verlorenheit in dieser Welt, eine tiefe Entfremdung: "der kies / war schrift für blinde riesen in der finsternis, ein jeder schritt / ging jetzt von anfang an, die fremde / begann auf der eigenen einfahrt" (32). Diese für den Band titelgebende Zeile aus dem Gedicht heimwärts, im regen schlägt den Ton an, der den Band durchzieht: Melancholie, Verlassenheit, Fremdheit gegenüber der Realität und Selbstentfremdung, was sich auch in zitierter Literatur (Peter Weiss Das Gespräch der drei Gehenden) widerspiegelt. Im Gedicht hortensie, das Angst vor der "last des gelingens" und Verletzlichkeit thematisiert, fühlt sich das lyrische Ich "fremd im eignen schlaf" (61). Auch den Blick zurück in DDR-Zeit, nostalgia, prägt ein Gefühl der Fremdheit, das nostalgisches Erinnern durchkreuzt. Geschichtserfahrung wird immer wieder "auf ihren authentischen Wahrnehmungs- und Erinnerungsgrund" (Seiler, 2004) zurückgeführt wie in dem Gedicht als das jahrhundert überstanden, als. Alltagsdinge fungieren als Einfallstor in die Geschichte, die hier das Jahrhundert umfasst und damit den DDR- Horizont überschreitet. Das Fremdsein reicht bis zum Identitätsverlust: "alles entfernt sich & wird unverständlich, am ende / sogar der eigene name / vor allem der eigene name" (83).

Die poetische Reflexion kreist um Verluste. Die Mechanik der Dinge, die der einstigen Hand-Arbeit mit "werkzeugen" entsprang und eine mechanik der bilderwelt evozierte, ist nur noch "halb vertraut" (32) und museal. Diese Arbeit und mit ihr die eigene Biografie sind historisch geworden und im Museum (technisches museum in berlin) zu besichtigen. Es zeigt sich eine Entfremdung zur Welt der Arbeit, die sich grundlegend verändert hat und zu der Zugänge verlorengegangen sind. Man empfindet beim Lesen die Endzeitstimmung "am ende des mechanischen Zeitalters" (30). Das nicht Sehen-Können der Affenmenschen, das den Band eröffnet, korrespondiert mit der Blindheit heutiger Riesen. Die Frage müssen wir riesen verhungern? beantwortet das gleichnamige Gedicht nicht direkt, antizipiert aber geistige Verarmung ("was ist noch lesbar?"), kollektiven Identitätsverlust ("wie sagten wir einmal / wer wir sind") und Blindheit: "wir haben / schon länger den blick / blinder riesen, das lachen ins nichts / mit erhobenem kinn, dorthin / wo die welt vermutet werden könnte ..." (33-34) Karl Vollmoellers Ballade Die Riesin - eine Märchenversion vom Untergang der Titanic - auf die Seiler im Anhang verweist, variiert das Titelmotiv. Der Riesin gereicht allein das Sehen wollen zum Verhängnis, so dass sie "blind wie alle Meeresgeschöpfe / den Tod der Tiefe für die Todeswunde" sucht. Das klingt nach Weltuntergangsszenarien, nach Vergeblichkeit menschlichen Erkenntnis-Strebens, nach Akzeptanz der Unmöglichkeit des "Sehens", nach Fatalismus. Der Weg aus der "selbstverschuldeten Unmündigkeit" (Kant) eine Unmöglichkeit, eine Sackgasse? Die Skepsis gegenüber dem Vernunftglauben der Aufklärung sowie Distanz zu den an ihr orientierten Poetologien, von denen sich Seiler schon früh absetzte, bestätigt der Besuch im Lessing-Museum. Im haus des ersten kammerdieners schrumpft "das stück" Nathan der Weise zur "addition der religionen, geteilt / durch handelnde personen" (66).

"die welt war schrift & ich / war ihre stimme" (58) heißt es in achaemenides, jenem Gefährten des Odysseus, den dieser auf der Insel des Zyklopen Polyphemos zurückließ. Die Welt wird als Literatur erfahrbar und Literatur, Poesie zur (einzigen) Existenzmöglichkeit. Hatte noch im Gedicht vertigo (2003), das auf DDR-Wirklichkeit rekurrierte, "wer hinten ging" "seine eigene Welt", so deutete das hierauf Bezug nehmende Gedicht wer hinten geht (2010) im mühsamen, schleppenden Gehen "auf / das unbeschriebne zentrum hin" auf Veränderungen in der Beziehung des lyrischen Subjekts zum vage gewordenen gesellschaftlichen Kontext. In 29. märz 2020 erfährt diese Veränderung nun ihre Zuspitzung. Die Welt erzeugt nur noch "dampf & untergang" (94), heißt es unter dem Eindruck von Pandemie und Lockdown. Das "bloße gehen" - ohne Welt - ist nunmehr eine alte sterndreherweise, in der das lyrische Subjekt "im gehen schon zu haus" (52) ist.

Das poetologische Credo Seilers, das er unter Bezugnahme auf den Lyriker Wolfgang Hilbig formulierte, "fordert die Durchdringung der sogenannten Realität (für ihn [Hilbig, C. B.] das Scheinhafte, die Oberfläche) - hin zu einem Wesentlichen, Substantiellen, Historischen" (Laubsäge und Scheinbrücke). Geschichte drängt sich in diese (scheinbare) Abgeschlossenheit von der Welt über "Passepartouts" (passepartout menaggio), die man als "Rahmen", aber auch als "Codesequenzen zur Textentschlüsselung" verstehen kann. Vaduz wird zu einem solchen Codewort, dessen Bedrohlichkeit sich am Ende des Gedichts schlaglichtartig offenbart. Der Moloch Kapital wird als lebensgefährlicher Albtraum entlarvt. signalstation arholma hebt beim Besuch der musealen Batteri Arholma den Zweiten Weltkrieg und den Kalten Krieg, der zum Bau der Militäranlagen auf der schwedischen Insel führte, ins Bewusstsein: "man hat / die maske an der wand mit den augen & sogar / die leuchtenden signale. man / hat im grunde alle zeichen, dazu die zeitung / mit der zeile 'hitler fast tot'" (41). Das Wissen um die historischen Zusammenhänge läuft ins Leere, mündet in Kontemplation: "man beugt sich / zum fenster & schaut lange, einfach lange / so hinaus" (41). Beantwortet eingangs das lyrische Subjekt die Frage nach dem Adressatenbezug von Dichtung mit einem Selbstverweis, so verweigert es sich ebenso deutlich Zuschreibungen gesellschaftlicher Provenienz an Kunst. In der Reibung mit Gottfried Benn, der das Erleiden der gesellschaftlichen Existenz als Grundmaxime des Lebens beschrieb (Nur zwei Dinge), stellt sich die Frage des "Wozu" dem lyrischen Subjekt in nur zwei kragenbinden nicht mehr. Es antizipiert Widerstand, Wehrhaftigkeit und Verweigerung den großen Narrativen, den Ideologien der Zeit gegenüber. Emanzipation von kollektiven Zwängen und Individuation seit dem "grundwehrdienst" (92) bilden das Gegenprogramm.

Seilers poetischer Raum ist von wiederkehrenden Bildern und Metaphern geprägt, die sich durch seine Texte ziehen und deren sich verändernde Semantik und Kontexte Perspektivwechsel augenfällig machen. Der gerade im aktuellen Band sich nachdrücklich artikulierende Rückbezug auf die Kunst ist Reaktion und Spiegelbild unserer Zeit, der die Widerständigkeit künstlerischer Artikulation entgegengestellt wird.


Beiträge im Schattenblick zu Lutz Seilers Romanen "Kruso" und "Stern 111" von Christiane Baumann:

[1] Schattenblick → INFOPOOL → THEATER UND TANZ → REPORT
BERICHT/065: Angekommen ... - Potsdamer "Kruso"-Inszenierung (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/theater/report/trpb0065.html

[2] Schattenblick → INFOPOOL → DIE BRILLE → REDAKTION
REZENSION/042: Lutz Seiler - Stern 111 (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/d-brille/redakt/dbrr0042.html



Lutz Seiler
schrift für blinde riesen
Gedichte
Berlin: Suhrkamp Verlag 2021
ISBN: 978-3-518-43000-2
112 Seiten
24 Euro

Lutz Seiler
Laubsäge und Scheinbrücke.
Aus der Vorgeschichte des Schreibens
Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2020
ISBN: 978-3-8253-6980-4
102 Seiten
10 Euro

26. Oktober 2021


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