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SPRÜNGE/001: Geifernder Gauch, die ersten deutschen Werke im Stabreim (SB)


Die Alliteration oder der Stabreim

nicht nur eine literarische Form


Mal ehrlich, wen interessiert schon angesichts der bedeutsamen Werke deutscher Dichtung und ihrer philosophischen Inhalte die banale Klärung eines nebensächlichen Formbegriffs?

Gemeint ist der "Stabreim" oder, moderner, die "Alliteration".

Um überhaupt kurz abzuklären, wovon hier die Rede ist und um sich jede komplizierte Erklärung erst einmal zu ersparen, sei der unkonventionelle Kunstgriff auf die beliebte Eselsbrücke erlaubt, hier in Form eines Kalenderblatt-Witzes:

Auf dem Kalenderbild sind zwei Orchestermusiker dargestellt, die sich mit im Streit verzerrten Gesichtern gegenübersitzen, einer mit dem Cello in der Hand, der andere die Geige auf der Schulter. "Schabst du Cello, schäb'ger Schuft?" fragt der eine in seiner Sprechblase. "Ich geige die Geige, geifernder Gauch", antwortet der andere.

Merkt man sich nun diese altdeutsch anmutenden Beschimpfungen oder Verunglimpfungen, die heute so ungewöhnlich sind, daß sie als Witz gehandhabt werden, dann hat man zwei Beispiele für den Stabreim: Er ist ein Anreim, zwei oder mehr bedeutungsschwere Wörter werden durch gleichen Anlaut ihrer Stammsilbe hervorgehoben: "Der 'T'oten 'T'atenruhm" (aus der Edda). Es alliterieren nur Hebungen, also die betonte Silbe. Vokale alliterieren sämtlich untereinander, von den Konsonanten jeder nur mit seinesgleichen, die Verbindungen sk, sp, st weder wechselseitig noch mit "s", sondern nur jeweils mit sich selbst.

Seiner Eigenart entsprechend verlangt der Stabreim die Hervorhebung des einzelnen Wortes, dessen Anlaut nicht durch schmückendes Beiwerk untergehen darf. So wirken stabende Verse wuchtig und eindrucksvoll.

Wozu aber soll die Kenntnis dieses literaturwissenschaftlichen Fachausdrucks eigentlich dienen, wenn man erklärtermaßen die Geheimnisse von Sprache und Literatur und ihre Wirkung ergründen will? An dieser Stelle sei schon angemerkt, daß in der Funktion des Stabreims viel mehr steckt als das bloße Spiel mit einer ansprechenden Form wie sie heute nur noch in Redewendungen wie Kind und Kegel, Mann und Maus, Haus und Hof erhalten ist.

Die Vertiefung des Wissens um diese literarische Banalität birgt einen Schlüssel zu den Anfängen der deutschen Literatur.


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Der Stabreim ist die älteste Art der Sprachbindung, älter als die erste schriftliche Fixierung literarischer Formen in mittelalterlichen Klöstern. Literatur hatte eine mündliche Tradition, war kein totes Schriftwerk, sondern blieb eigentlich lebendig durch weitererzählte, man kann sogar sagen weitervererbte, Stammesdichtungen. Dies betrifft die sogenannte Vor- und Frühgeschichte vor dem Beginn des Mittelalters (das von der Mitte des 8. Jahrhunderts bis zum Ausklang des 15. Jahrhunderts reicht). Die Geschichten wurden in Form eines Gesprächs zwischen Erzähler und Zuhörern vorgetragen. Die Beteiligten sprachen so intensiv miteinander, daß es durchaus passieren konnte, daß am Ende niemand mehr zu sagen wußte, ob er das Erzählte nicht vielleicht doch soeben erlebt hatte. Der gesamte Umkreis der alltäglichen Sorgen und Hoffnungen eines Stammes konnte in diese Art des Gesprächs miteinbezogen werden.

Das änderte sich, als der Vortragende die Gesprächsform dadurch unterbrach, daß er Grundzüge des Erzählstoffs in eine Form einpaßte. Die Erzählung wurde dadurch aus ihrem Zusammenhang herausgerissen und isoliert.

Die Themen erweiterten oder änderten sich ebenfalls. Worte wurden feierlich gesprochen oder gesungen und zu Opferversen, Orakelsprüchen und Zauberformeln zusammengesetzt, so schließt man zumindest aus den wenigen schriftlich fixierten Überlieferungen. Erhalten geblieben sind mythische Rätseldichtungen und Losungen, Gebete, Opfersprüche, Götterpreislieder und Zaubersprüche in ganz wenigen Beispielen, zudem in späterer Zeit aufgezeichnet.

Hier ein Beispiel für den Stabreimvers aus dem Hildebrandslied:

"Welaga nu, waltant got, wewurt skihit."
(Wehe nun, waltender Gott, Wehgeschick geschieht.)

Der Stammes- und Gefolgschaftssänger trug in altgermanischen Stabreimversen vor, die jeweils aus einer Zeile bestehen. Diese sogenannte Langzeile setzt sich aus zwei Kurzzeilen zusammen, die durch Alliteration verbunden sind. Das heißt von den vier Haupthebungen (beziehungsweise Betonungen) sind meist drei durch Stab verbunden. Die erste und die zweite (später nur noch die erste) Hebung der einen Kurzzeile beginnt mit dem gleichen Buchstaben wie die Hebung der nachfolgenden. Die Zahl der Senkungen ist frei und läßt somit verschiedene Ausdrucksmöglichkeiten offen, vom langen Anlauf bis zum gehetzten Nacheinander der Hebungen. Trotz des festgelegten Stabgerüsts hat eine solche Versform also noch eine große Beweglichkeit.

Die Funktion der Alliteration für den Vortragenden bestand lediglich in der rhythmischen Gliederung (zum Beispiel in Sprechgipfel) und inhaltlichen Akzentuierung und diente darüber hinaus als Gedächtnisstütze. Die lebendige, freie Erzählung wurde auf diese Weise unterteilt, in Länge und Zeit einschätzbar, gebändigt. So erstarrte sie und konnte getrennt vom Zuhörer existieren.

Die altgermanische Heldendichtung wie das berühmte Hildebrandslied oder die sogenannten Merseburger Zaubersprüche sind in Stabreimversen überliefert. Man nimmt an, daß die Heldenlieder in der Halle vor festlich versammelter Kriegergefolgschaft von einem Standesgefährten vorgetragen wurden. Die Zuhörer waren nicht mehr unmittelbar beteiligt, sondern hörten passiv zu. Dies verlangte von ihnen die Abstraktionsleistung, von ihrem unmittelbaren Lebensumfeld abzusehen.

Später machte sich der Vortragende selbständig und reiste weit herum. Man nannte ihn Skop, althochdeutsch scof. Einige ihrer Heldenlieder wurden weit nach ihrer Zeit von Mönchen aufgeschrieben.

Der Skop wurde durch den Hofsänger abgelöst. Seine weiterentwickelte, sogenannte heroische Stabreimdichtung war Standesdichtung für die adlige Oberschicht, deren kriegerische Taten sie verherrlichte. Die Verbreitung wurde weitläufiger, getragen von reisenden Troubadouren oder Sängern. In aufwendigen Hoffestivitäten verglich man ihre Lieder und zeichnete sie aus.

Hier hatte der Stabreim zum einen die Funktion, die Vergleichbarkeit der Lieder zu gewährleisten, und zum anderen den Kern der Erzählung wörtlich zu erhalten und mündlich weiterzuverbreiten, weil sich der Vortragende den Inhalt besser merken konnte. Das Nibelungenlied, von unbekanntem Verfasser, ist ein Beispiel dafür. Man datiert die Niederschrift auf das 12. Jahrhundert, doch wurde es schon im 8. Jahrhundert vorgetragen. Geblieben ist hier nur noch die Zweiteilung des Langverses. Der Stabreim schwindet aus der deutschen Dichtung im 9. Jahrhundert (aus der englischen und nordischen erst später) - bezeichnenderweise mit dem Beginn der Aufzeichnungen. Er hat seine vornehmliche Funktion verloren.

Uns ist in alten maeren wunders vil geseit von helden lobebaeren, von grozer arebeit, von freuden, hochgeziten, von weinen und von klagen, von küener recken striten muget ir nu wunder hoeren sagen.

(Uns wird in alten Geschichten viel Wunderbares berichtet / von hochberühmten Helden, von großer Mühsal, / von Freunden, von Festen, von Weinen und von Klagen, / von den Kämpfen kühner Helden könnt ihr nun Wunderbares erzählen hören.)


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Der Stabreim war ehemals ein Mittel, der Literatur zu jener abstrakten Unpersönlichkeit zu verhelfen, die sie heute hat. Jetzt hat sich die Alliteration in der Funktion überlebt und ist nur noch ein etwas unbekannteres sprachliches Stilmittel berühmter Dichter wie Sachs, Klopstock, Goethe, Heine, Rilke oder Enzensberger. Sie wird nur noch als Versschmuck und Klangmittel, d.h. zur Lautmalerei, benutzt, auch in der romanischen und slawischen Literatur.

Erstveröffentlichung im Sommer 1997

29. Dezember 2006