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SPRÜNGE/002: Der rasende Reporter - Kisch entwickelt die Reportage (SB)


Egon Erwin Kisch, der "rasende Reporter"

fordert "unerbittliche Wiedergabe der Wahrheit"


Ein engagierter deutschsprachiger Journalist und Schriftsteller aus Prag hat in den 20er Jahren unseres Jahrhunderts die Reportage maßgeblich beeinflußt bzw. geprägt: Egon Erwin Kisch, genannt der "rasende Reporter", seit 1921 Starreporter von Berliner Tageszeitungen.


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Persönliche Daten

Egon Erwin Kisch wurde am 29.4.1885 in Prag als Sohn einer jüdischen Tuchhändlerfamilie geboren.

Er begann seine journalistische Laufbahn als Lokalreporter in Prag. Nach seiner Genesung von einer schweren Verwundung im Ersten Weltkrieg beteiligte er sich 1918 als Führer der Roten Garden an der Revolution in Wien und wurde Mitglied der KPÖ und KPD. Er spielte eine Doppelrolle als Kriegsjournalist und illegaler Soldatenrat.

1921 wechselte er nach Berlin, wo er den "Bund proletarisch- revolutionärer Schriftsteller" unterstützte und für verschiedene Zeitungen tätig war. Entsprechend seiner politischen Position arbeitete er zum Beispiel auch für die "Arbeiter-Illustrierte- Zeitung" (AIZ) von Willi Münzenberg. Er gründete die "Gruppe 1925" mit, die über "bürgerliche und proletarisch-revolutionäre Kunst" debattierte, ohne Aktivitäten zu entwickeln. Mitglieder waren berühmte Schriftsteller wie Johannes R. Becher, Bertolt Brecht, Alfred Döblin, Leonhard Frank, Rudolf Leonhardt, Ernst Toller und Kurt Tucholsky.

In Berlin mischte sich Kisch ausgiebig in das kulturelle Leben ein. So war er häufig im Künstlertreffpunkt "Romanisches Café" bei der Gedächtniskirche zu finden, dem Umschlagplatz für Literatur. Hier traf sich die Avantgarde: Literaten, Dichter und Kritiker, Journalisten, Maler, Schauspieler und Kabarettisten wie Tucholsky, Ringelnatz, der Verleger Ernst Rowohlt, die Tänzerin Anita Berber und Otto Dix.

Kisch bereiste Europa, Nordafrika, Asien, die Sowjetunion, die USA und China. Nach dem Reichtagsbrand 1933 wurde er verhaftet und dann als tschecholslowakischer Staatsbürger nach Prag abgeschoben. Seitdem lebte er für den antifaschistischen Widerstand in Paris, bei den Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg und seit 1940 in Mexiko. Dort arbeitete er von 1941 bis 1946 bei der Exilzeitschrift "Freies Deutschland" und im Heinrich-Heine-Club mit.

1946 kehrte Kisch nach Prag zurück, wo er am 31.3.1948 starb.


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"Milieustudie ist Reportage"

Egon Erwin Kisch übte mit seiner Arbeit auf die Schriftsteller seiner Zeit eine starke Faszination aus. Traditionelle literarische Erzählformen reichten vielen nicht mehr aus, um die Wirklichkeit in Worte zu fassen. Es bestand aufgrund der Probleme der 20er Jahre ein starkes Bedürfnis, so authentisch, unmittelbar und wirklichkeitsnah wie möglich zu schreiben. Krieg, Revolution, Arbeitslosigkeit, Armut und Hunger veranlaßten zur gründlichen Berichterstattung. Kisch hatte zu diesem Zweck mit Milieustudien und Sozialreportagen aus dem Leben gesellschaftlicher Randgruppen und Außenseiter begonnen. Den Reporter verpflichtete er zu absoluter Objektivität. Seit den späten 20er Jahren sollten seine Reportagen gezielt in der "unerbittlichen Wiedergabe der Wahrheit" bestehen und hatten betont sachlichen und dokumentarischen Charakter. In seinem Sammelband "Der rasende Reporter" (1925), der ihn berühmt machte, beschrieb er die Konsequenzen, die dieser Anspruch für den Autoren hat: "Der Reporter hat keine Tendenz, hat nicht zu rechtfertigen und hat keinen Standpunkt". Thematisch wandte sich Kisch nun dem Industrieproletariat und dessen Arbeits- und Lebensbedingungen zu. Seine Reportagebücher fanden breite Anerkennung, so die Berichte "Zaren, Popen, Bolschewiken" (1927), "Paradies Amerika" (1930), "China geheim" (1933), "Landung in Australien" (1937) und "Entdeckungen in Mexiko" (1945).

1935 sprach Kisch in Paris auf dem "Internationalen Kongreß zur Verteidigung der Kultur" über die "Reportage als Kunstform und Kampfform". Er bestimmte sie als "Sichtbarmachung der Arbeit und der Lebensweise" der Menschen und forderte ihre "überprüfbare Wahrheit".

Nichts ist verblüffender als die einfache Wahrheit, nichts ist exotischer als unsere Umwelt, nichts ist phantasievoller als die Sachlichkeit. Und nichts Sensationelleres gibt es in der Welt als die Zeit, in der man lebt.


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Hinter Kischs Plädoyer für die neue Form der Reportage steckt die Vorstellung, durch kritische Wirklichkeitsdarstellung gesellschaftsverändernd wirken zu können. Fraglich bleibt, ob die Position der Objektivität und präzisen Beobachtung ausreicht, um gesellschaftliche Mißstände zu verändern, aufzuheben oder sich ihnen auch nur anzunähern. Die Darstellung von Tatsachen an sich ist nicht unbedingt ein Anhaltspunkt für den Leser, aktiv zu werden. Das Ausmaß der Mißstände wird vielleicht ausschnittsweise sichtbar, aber man kann sich von der eigenen Beteiligung daran bestens distanzieren. Es bleibt beim zustimmenden Kopfnicken, man weicht in die Unverbindlichkeit aus. Der Kampf wird zum Gegenstand des Konsums. Der Anspruch, Literatur als gesellschaftsverändernden Faktor einzusetzen, stößt hier an seine Grenzen.

So verliert die Form der Reportage in den nächsten Jahrzehnten auch schnell wieder an Wert. Die Begeisterung dafür war zeitgebunden und die neue Form hat sich etabliert. Im Sachwörterbuch der Literatur heißt es heute unter dem Stichwort "Reportage":

Berichterstattung für Zeitung oder Rundfunk als journalistische Gebrauchsform, gekennzeichnet durch Nähe zur objektiven und dokumentarisch nachprüfbaren Wirklichkeit und leidenschaftslos sachliche Schilderung des Details ohne einseitige Tendenz, allenfalls aus der Perspektive des Berichters. Als tagesgebundene Sachdarstellung rasch vergessen ...
(aus Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur, Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 1969, S.637)


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Seit 1978 wird der nach Kisch benannte Preis für herausragende journalistische Leistungen verliehen.

Erstveröffentlichung im Sommer 1997

5. Dezember 2006