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SPRÜNGE/009: Das Hörspiel - vom Lückenfüller zum Literatur-Experiment (SB)


Die große Zeit des Hörspiels

Vom Lückenfüller der deutschen Nachkriegszeit zur Wortkunst


Wem ist eigentlich heute noch bekannt, daß das Genre des Hörspiels bei vielen namhaften Schriftstellern der Nachkriegsgeneration überraschend große Begeisterung für neue dramatische Ausdrucksmöglichkeiten hervorrief und außerdem die ersten Schwierigkeiten mit dem Aufleben des Theaters und Probleme mit der Buchproduktion durch Hörspielversionen von Dramen, Romanen und Erzählungen überbrückt wurden? Daß Hörspiele ein Bestandteil der Literaturgeschichte sind und nicht nur ins Kinderprogramm oder in die Unterhaltungssparte von Science Fiction und Krimis gehören oder in die Rundfunkabteilung "Künstlerische Elite", soll ein Blick durch die BRILLE klären.


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Nach dem Krieg verfügten die meisten Familien über eine Möglichkeit zum Rundfunkempfang. Die weit verbreitete Wertschätzung des nun vorwiegend der Unterhaltung dienenden Radios (oft noch in Gestalt des "Volksempfängers") regte schnell zu technischen Verbesserungen an, zum Beispiel zur Einrichtung von UKW-Sendern oder zur Installation von Bandmaschinen, so daß man nicht mehr auf Live-Sendungen oder deren Konservierung auf Schallplatten angewiesen war und die Produktionen unter den einzelnen Rundfunkanstalten ausgetauscht werden konnten. Der Rundfunk wurde neu organisiert, die wichtigsten Sender der Bundesländer schlossen sich 1949 zur Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in Deutschland (ARD) zusammen.

Durch diese Entwicklung erlebte das Hörspiel einen Aufschwung. Einige Autoren und Produzenten hatten schon in den 30er Jahren die neue Form des deutschen Hörspiels begründet, wollten und konnten diesen Beginn aber später nicht fortsetzen. In der nun allgemeinen Stimmung des Neuanfangs griff man auf die Konzepte der 20er und 30er Jahre zurück. Brechts Arbeiten zur Radiotheorie, sein Programm eines "Kommunikationsapparates" statt eines bloßen "Distributionsapparates" wurden von E. Schnabel und A. Eggebrecht umgesetzt. Eggebrechts Feature-Hörspiel "Was wäre wenn" schildert die Utopie eines Weltstaates, während Schnabel die dokumentarische Methode verwendet ("Wir hatten gefragt: Was erlebten Sie am 29. Januar 1947?"). Hinzu kam, daß der zunächst unter liberaler britischer Leitung stehende Nordwestdeutsche Rundfunk (NWDR) schon früh die Möglichkeit hatte, eine sehr aktive Hörspielabteilung aufzubauen. Außer der eben erwähnten Fortentwicklung neuer Ideen konnte nun dem wieder auflebenden Wunsch nach Theaterdarbietungen und Romanen durch Hörspielversionen entsprochen werden.

Die Autoren ergriffen die Verdienstmöglichkeiten durch einen Austausch mit den Sendern oder feste Mitarbeit in den Hörspielstudios. Sie waren Schriftsteller und Bühnenautoren, die nur zusätzlich für den Funk schrieben. Wenn Idee und Ausführung überzeugten, erklärte sich die Redaktion durchaus bereit, ein Risiko mit einem noch unerfahrenen und unbekannten Autoren einzugehen.

Sowohl das literarisch ambitionierte als auch das in Form des Features mehr dokumentarisch ausgerichtete Hörspiel erfreute sich schnell großer Beliebtheit. 1500 Texte wurden bei einem Hörspielwettbewerb des NWDR 1950 eingesandt. Zu dieser Zeit wurde die Abteilung in Feature und Hörspiel getrennt. Das Hörspiel deckte dramatische und sprachexperimentelle Aspekte ab, das Feature dokumentarische und zeitgeschichtliche. Günter Eichs "Träume" 1951 wurden mit ihrer "inneren Wirklichkeit", einer Abkehr von politischen Themen, die ersten charakteristischen Hörspiele für diese Entwicklung. Auch die Hörspiele von Ingeborg Bachmann ("Ein Geschäft mit Träumen", 1952, "Der gute Gott von Manhattan", 1959) und Ilse Aichinger ("Der Gefesselte", 1953) haben mehr parabelhafte Züge, während Wolfgang Borchert ("Draußen vor der Tür", 1947), Heinrich Böll ("Ein Tag wie sonst", 1953, "Bilanz", 1957), Wellershoff ("Die Sekretärin", 1956) und Weyrauch ("Die Kindsmörderin", 1955) eine realistische Linie beibehielten. Auf jeden Fall waren viele etablierte Autoren zunächst im Hörspiel zuhause und verschafften sich dann über den Rundfunkbereich hinaus Beachtung, nachdem sie durch hohe Einschaltquoten und eine großflächige Verbreitung (wovon jeder Verleger nur träumen konnte) schon Popularität erlangt hatten.

Angesichts der ausschließlichen Betonung auf das gesprochene Wort ist es nicht verwunderlich, daß sich auch gerne Lyriker als Hörspielautoren betätigten. Nur mit akustischen Mitteln, Rhythmus, dem gesprochenen Wort, mit Geräuschen und Musik dramatische Vorgänge zu gestalten, empfanden viele als neue Herausforderung. Sich aufs Sehen zu konzentrieren, nagelt die Phantasie fest. Der Verzicht auf alles Optische (Kulisse, Mimik, Gestik) macht unabhängig von Raum und Zeit. Im Hörspiel muß der Hörer ein Stück von sich selbst einbringen. Es eignet sich bestens, Atmosphäre und Stimmungen darzustellen und lebte lange Zeit wesentlich vom Dialog, mit dem man auch Gefühle übertragen kann. Ohne einen erstklassigen Regisseur jedoch verliert auch ein gutes Manuskript an Attraktivität. Der Einsatz eines erfahrenen Handwerkers macht die Qualität des Hörspiels letztlich aus.

Der auch technisch geschickt durchgeführte Aufbau von Traumwelten und die Konzentration auf Denken und Fühlen der handelnden Personen machten das Typische des Hörspiels der 50er Jahre aus. Einige Theaterautoren boten auch aufschlußreiche Einblicke in die unterschiedliche Dramaturgie von Bühnenstück und Hörspiel. Ein Beispiel ist "Herr Biedermann und die Brandstifter" von Max Frisch, ein Hörspiel, das er später erst zur Bühnenfassung umschrieb. 1953 kam das Hörspiel beim Bayerischen Rundfunk zur Uraufführung.

Daß das Hörspiel Ende der 50er Jahre merklich an Beachtung einbüßte und zunehmend einer kritisch-nüchternen Einschätzung wich, liegt nicht nur an der Ausbreitung des Fernsehens, sondern auch an den skeptisch beobachteten Auswirkungen, die die Grenzen des Hörspiels auf die Dramaturgie hatten. Man sprach schließlich von einer untauglichen Ersatzbühne mit der Beschränkung auf eine vom Hörer zu erstellenden imaginierten Hörspielwelt, die von der eigentlichen Realität der Alltagswelt wegführe und bedenkliche Fluchtfunktionen haben könne.

In den 3. Programmen versuchte man es seit den 60er Jahren mit dem Experiment: Durch W. Hildesheimer kam das absurde Theater auf die Rundfunkbühne, durch Ernst Jandl Elemente der konkreten Poesie. Neuer Technikeinsatz kam hinzu, W. Wondatscheks "Paul oder die Zerstörung eines Hörbeispiels" (1970) ist exemplarisch dafür. Das "Neue Hörspiel", von dem man von nun an sprach, versteht sich als "autonomes Hörereignis, komponiert aus allem, was hörbar ist" (G. Rühm, 1984).

Heute wirft man den Hörpielautoren künstlerisch-elitäre Ambitionen vor, vielleicht weil es die einzige kreative Sendeform des Rundfunks ist. Es entsteht eben nicht, um Informationen zu vermitteln, sondern es verwendet Fakten und Meinungen als künstlerisches Mittel. Die Autoren experimentieren und entwickeln spezifische Hörformen, die allerdings ein immer kleiner und exklusiver werdendes Publikum ansprechen. Aber die Produktionsstätten sind weit entfernt davon, für immer geschlossen zu werden.


Erstveröffentlichung am 15. Januar 2000

29. Dezember 2006