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SPRÜNGE/014: Chancen zur Besinnung (SB)


Gedanken über die Zukunft der Literatur


Im Alter von 83 Jahren nahm sich der Feuilletonist und Literaturkritiker Fritz Raddatz das Leben. Seit seinem 21. Lebensjahr hatte er seine Stimme leidenschaftlich der deutschen Literatur gewidmet, zunächst im DDR Verlag Volk und Welt, danach (1958 siedelte er nach Westdeutschland über) als Cheflektor bei Rowohlt, wo er die Reihe rororo-aktuell gründete, und schließlich von 1976 bis 1985 als Feuilletonchef der ZEIT, für die er später außer für andere Zeitungen noch lange Jahre als Kulturkorrespondent und Autor schrieb. Ihm wird nachgesagt, daß seine Lebensgeschichte nicht zu trennen ist von der Literaturgeschichte der Bundesrepublik.

Zuletzt hörte er, dem Kommentare zu seiner zweiten Haut geworden waren, mit der Begründung auf zu schreiben, daß ihn die gegenwärtige Produktion nicht mehr interessiere, sie öde ihn an, es gebe für ihn nichts mehr, für das es sich zu schreiben lohne.

Zu viele Gedichte sind mir nur mehr halbgebildetes Geplinker, zu viele gepriesene Romane nur mehr preiswerter Schotter. Der nicht mehr liebt, der räsoniere nicht. Liebeleere ist keine Qualität. Schon gar nicht für einen Kunstrichter.
Also beende ich hiermit meine Zeitungsarbeit, die ich mit 21 Jahren begann: die als Literaturkritiker, die als kommentierender Journalist - nicht ohne indes den Dank an meine Leser zu vergessen. Ich bin vor drei Wochen 83 geworden. Time to say goodbye. Goodbye. [1]

Dieser Abschied soll für das Format "Sprünge" Anlaß genug sein, sich einige Gedanken über die Zukunft der deutschen Literatur zu machen. Ist es denn wirklich ein Generationenkonflikt, wenn die deutsche Gegenwartsliteratur Fritz Raddatz sprachlos macht und er den Literaturbetrieb in Geschwätzigkeit und Vermarktung versinken sieht? Befindet sich die Literatur in einer Entwicklung, die man als Krise bezeichnen kann?

Ich habe mich überlebt. Was heißt das für einen Autor, einen Literaturkritiker zumal? Es bedeutet: Meine ästhetischen Kriterien sind veraltet, das Besteck des Diagnostikers rostet, meine Gierfreude am Schönen der Kunst ist zu Asche geworden, der gefiederte Pegasus, mit dem ich durch Bild und Text galoppierte, lahmt. Diese Welt - in der ich mich durchaus noch kundig machen möchte - weicht von mir, gibt mir keine Kunde mehr; ich bin aus der Welt gefallen. Ihre Zeichen werden mehr und mehr zu Rätseln - unlösbar oft, abstoßend nicht selten, sind meiner Lebensart, meinem Habitus, meinem - Pardon für das harte Wort - Geschmack ungemäß. [1]

Für diejenigen, die sich trotz verbreitetem Kulturpessimismus warum auch immer heute gerne noch mit Literatur befassen, ist diese Zuspitzung von Raddatz jedoch sehr wohl aktuell und kein Generationenproblem. Denn die Gegenwart der Literaturproduktion droht sich in ein reines Marktgeschäft aufzulösen mit der Folge, daß der Verdrängungswettbewerb unter den Autoren zunimmt, die sich schon deshalb mehr und mehr selbstreferentiell gebärden. So entwickelt sich die Literaturkritik schnell zum Zuträger bzw. Dienstleister der Schreibenden bzw. der Verlage. Auf dem "16. poesiefestival berlin" im Juni 2015 (Kolloquium über die Zukunft der Poesie), auf dem "XX. Mainzer Kolloquium: Das Ende der Literaturkritik?" Ende Januar 2015 und auf Veranstaltungen der Leipziger Buchmesse 2015 zu Fragen der Standortbestimmung und Neupositionierung der Literatur wird alarmiert zu Debatten aufgerufen, und das sind nur die ersten Termine dazu in diesem jungen Jahr. Dabei geht es thematisch jedoch tatsächlich selten um die Entwicklung der Literatur selbst als vielmehr um ihre Rettung mittels Medien und Digitalisierung, um Vernetzung und den Anschluß an andere Disziplinen und immer wieder um eine Neudefinition des Begriffs.

Wie sollen sich auch die Qualität literarischer Texte oder gar literarische Strömungen entwickeln angesichts der jährlich stattfindenden Zelebrierung literarischer Großereignisse, zu deren Zweck Debütanten verschlissen werden, ohne ihnen die eigene Zeit zu lassen, ihre Fähigkeiten zu entwickeln? Die Folge davon ist, daß sich Macharten und Themen der Texte seit Jahren ähneln. Sie weisen bei einer gut funktionierenden Schreibtechnik keine Besonderheiten auf, Extreme haben keinen Platz. Was ihnen fehlt, ist Spannung, die eigene Stellungnahme, Mut zu politischen und sozialen Auseinandersetzungen, Entwicklung von Sprachkraft, so daß sich schon nachweisen läßt, wie die deutsche Sprache auch im literarischen Bereich an Ausdrucksmöglichkeiten verliert. Thematisch blickt man lieber nicht über die gesicherten Räume des deutschen Mittelschichtlebens hinaus. Die Gegenwartsliteratur meidet gern aktuelle Themen, bei denen die Betroffenheit zu groß ist. Fast könnte man meinen, daß es der Literatur die Sprache verschlägt, daß sie verstummt bzw. nichts mehr zu sagen hat. Viele Autoren weichen in die Bereiche Fantasy oder sogar wieder Science Fiction aus, die jahrelang nur noch in der Filmbranche oder in Computerspielen überlebten und heute wieder literaturfähiger geworden sind, oder schreiben historische oder Familienromane. Haben sie sich in ihre Schreibstuben zurückgezogen oder auf sich selbst feiernde Medienereignisse eingespielt, um auszublenden, was um sie herum passiert?

So gibt der Eindruck von Fritz Raddatz, "diese Welt [...] weicht von mir, gibt mir keine Kunde mehr", durchaus Anlaß genug, weiterführende Fragen zu stellen, zum Beispiel "Was kann und will Literatur bzw. Kultur heute überhaupt?" oder "Welche gesellschaftliche Funktion übernimmt sie gegenwärtig?" Zu diesen Fragen wird es in "Sprünge" noch einige Ausführungen geben. Könnte denn nicht gerade Literatur ein identitätsfördernder Bewahrer des kulturellen Gedächtnisses, ein Provokateur und Ort der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Problemen sein und damit ein gutes Transportmittel für Inhalte? Sind doch viele Menschen eher auf der kulturellen als auf der politischen Ebene zu erreichen. Und könnten nicht zuletzt Romane und Gedichte, ob selbst geschrieben oder gelesen, denjenigen, denen es die Sprache bzw. die Ausdrucksmöglichkeiten verschlagen hat, die Räume des Denkens und Sprechens wieder ermöglichen oder erweitern?


Anmerkung:

[1] http://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article132416180/Fritz-J-Raddatz-erklaert-Abschied-vom-Journalismus.html

18. März 2015


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