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BERICHT/009: Autorinnenlesung im "Ohlsenhaus" in Süderstapel (SB)


"Der Tanz der Kraniche" im Süderstapler Ohlsenhaus

Judith Kern las, gemeinsam mit Künstler Wolfgang Schröder, aus ihrem Roman vor



Seit sieben Jahren lädt die Gemeinde Süderstapel allsommerlich zu literarischen Veranstaltungen ins Ohlsenhaus ein, ein sich selbst tragendes Kulturprogramm, das gerade heutzutage nicht nur eine Seltenheit, sondern ziemlich einzigartig sein dürfte mit seiner Zielsetzung, "in unserem ländlichen Bereich ein Stück Kultur zu bieten, in einem Niveau, das in den hiesigen Regionen einmalig ist, in einem besonderen Ambiente, mit einem engagierten Team ..."[1]

Und tatsächlich erlebte der Schattenblick, der sich am 16. August zu einer der angekündigten Lesungen auf den Weg machte, eine Überraschung: In der Abendsonne lag, eingerahmt von alten Bäumen, das "Ambiente" - eine wunderschön restaurierte Fachwerk-Tenne, in dieser Gegend Lohdiele genannt, vor deren offener Tür sich schon eine beachtliche Schar von Besuchern tummelte, die sich alle zu kennen schienen und die sich angeregt und fröhlich unterhielten oder eifrigst mit kulinarischen Vorbereitungen für die Pause beschäftigt waren - alle in allerbester, festlicher Stimmung.

Foto: © 2012 by Schattenblick

Ländliche Lesekultur im Ohlsenhaus
Foto: © 2012 by Schattenblick

Vorgelesen bekommen gehört für viele von uns - und nicht etwa nur für Kinder - zum Schönsten, was es gibt, und übertrifft noch das Vergnügen des Selberlesens - vielleicht ja, weil das Ohr als ganz direkte Pforte zu Gemüt und Phantasie dient und immer schon diente, lange bevor der Umweg über Buchstaben und Schrift überhaupt bestand, in den alten Zeiten der Sänger und Märchenerzähler.

Möglicherweise macht das auch zu einem erheblichen Teil den Charme literarischer Lesungen aus, die oft von erstaunlich vielen Interessierten besucht werden, die zumeist den Gegenstand der Präsentation einfacher und bequemer zuhause im gemütlichen Lieblingssessel kennenlernen könnten.
Und möglicherweise verdanken solche Lesungen außerdem zu einem ebenfalls nicht geringen Teil ihren Reiz dem Zauber der Erinnerung an die Behaglichkeit längst vergangener Kindertage, als das Vorlesen wichtigster Bestandteil des Zubettgehrituals war oder an verregneten Ferientagen zur Rettung der guten Familienstimmung beitrug.

Was immer die Zuhörer an diesem besagten Augustabend ins Ohlsenhaus geführt haben mag, sie kamen, was Gemütlichkeit und Unterhaltung betrifft, ganz gewiß auf ihre Kosten.

Judith Kern und Wolfgang Schröder während der Lesung - © 2012 by Schattenblick

Vortrag zu zweit
Foto: © 2012 by Schattenblick

Die Lesung der sorgsam ausgewählten und in sich geschlossenen, entspannt und unterhaltsam im Wechsel vorgetragenen und immer wieder durch Überleitungen der Autorin geschickt miteinander verbundenen Romanabschnitte, die in der stimmungsvollen Lohdiele an den Zuhörern vorbeizogen wie Szenen aus einem Film, stieß auf aufmerksame und wohlwollende Ohren - zumal Judith Kerns Liebe zum Norden ganz allgemein und zur Insel Hiddensee, dem Schauplatz des Romans im Besonderen, als verbindendes Element zwischen Autorin und Hörerschaft wirkte - von der Liebesgeschichte natürlich ganz zu schweigen.

Dennoch blieben, jedenfalls für den einen oder anderen Zuhörer, mindestens ein Wunsch und eine Erwartung unerfüllt. Was nämlich Lesungen dieser Art, neben dem Charme des Vorlesens, besonders anziehend macht, ist der ganz direkte persönliche Kontakt mit der Autorin oder dem Autor und die Chance, ein bißchen die Nase in deren Kochtopf zu stecken und Details und Geheimnisse über den Roman zu erfahren, die die Lektüre des Buchs niemals hergibt und die einem sonst eben vorenthalten bleiben.

Was den Roman "Der Tanz der Kraniche" und seine Thematik, die Emanzipation einer jungen Stralsunder Malerin Ende des 19. Jahrhunderts samt der damit verbundenen gesellschaftlichen wie familiären Problematik, betrifft, wäre wünschenswert gewesen, Judith Kern hätte wenigstens hier und da ein bißchen aus dem Federkästchen geplaudert und davon erzählt, wie sie zu ihrem Stoff oder der Stoff zu ihr gefunden hat, zumal das Buch weder in einem Vor- oder Nachwort noch im Klappentext etwas über dessen historischen Hintergrund oder irgendwelche Anleihen bei diesem verlauten läßt.

Interessant wäre aber vor allem gewesen zu erfahren, ob neben der gesellschaftlichen Problematik und dem Kampf der Protagonistin um ihre Emanzipation auch das Ringen um Kunst und künstlerische Ausdrucksmöglichkeiten Gegenstand ihres speziellen Interesses und ein wesentliches Motiv bei der Wahl des Romanstoffs gewesen ist - und, natürlich, inwiefern auch diesbezüglich Autobiographisches in die Geschichte mit eingeflossen ist.

Aber alles in allem war der Abend im Ohlsenhaus tatsächlich ein Erlebnis besonderer Art und der gemeinsame Einsatz für das eigene Gemeinwesen, und zwar in bewußtem Widerspruch zur heute überall und auch bundespolitisch herrschenden Tendenz kulturellen Abbaus, höchst beeindruckend - und hat die Süderstapler Zielsetzung ganz bestimmt erfüllt.


Anmerkung:

[1] www.suederstapel.de/17.html

Foto: © 2012 by Schattenblick Foto: © 2012 by Schattenblick

In der Lohdiele
Foto: © 2012 by Schattenblick

16. September 2012