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BERICHT/042: Leipzig, das Buch und die Messe - es wächst zusammen, was nie verschieden war ... (SB)


Eindruck, Ausdruck, Buchdruck - Impressionen
Leipziger Buchmesse, 17. bis 20. März 2016

Die "Buchbeschleuniger" diskutieren über Literatur zwischen Feuilleton und Blogosphäre


Die diesjährige Leipziger Buchmesse vermochte trotz ihrer Fülle an gedruckten und elektronischen Produkten sowie lehr- oder farbenreichsten Veranstaltungen nicht vorzutäuschen, wonach Verlage, Autoren und Lesekonsumenten gleichermaßen dürsten: die Erzählung. Gesucht werden Gedanken, die so noch nicht formuliert wurden, Sichtweisen, die neue Welten eröffnen, und Geschichten, die mitzureißen vermögen. Nicht gesucht werden dagegen Texte und andere Sprachinformationsdareichungsformen wie die x-te Auflage der ewig gleichen Dreiecksbeziehungsgeschichte, in welcher befindlichkeitstriefenden oder Befindlichkeiten auffällig vermeidenden Variante auch immer, womöglich mit Protagonisten, die kaum über den Horizont ihres eigenen Bauchnabels hinauszublicken vermögen und bei der Lektüre den unangenehmen Verdacht aufkommen lassen, einen Selfie in Romanform vor sich zu haben ...


Nebeneinander hinter Tischreihe sitzend - Foto: © 2016 by Schattenblick

Die Buchbeschleuniger: (Von rechts) Andreas Platthaus, Doris Plöschberger, Thierry Chervel, Sieglinde Geisel, Ijoma Mangold, Vendela Vida, Übersetzerin
Foto: © 2016 by Schattenblick

Von der Suche nach dem Erzählerischen ist die Literaturkritik nicht ausgenommen, bewegt sie sich doch im Spannungsfeld zwischen Leser- und Autorenschaft und muß nicht nur diese, sondern auch den Verlag von ihrer Stichhaltigkeit überzeugen, es sei denn, sie verbreitete sich über ein elektronisches Medium wie den Blog. Selbst hier werden die Grenzen zu klassischen Printmedium durchlässig, wie auf einer Podiumsdiskussion am 17. März auf der Leipziger Buchmesse festgestellt wurde. Unter dem Titel "Die Buchbeschleuniger - Literatur zwischen Feuilleton und Blogosphäre" bemühten sich ausgewiesene Expertinnen und Experten der Literaturkritik um eine Positionsbestimmung dieser literarischen Gattung.

Der Untergang der Literaturkritik wurde wohl schon ebenso oft prognostiziert wie jener der Literatur selbst. Gewiß, die Literaturbeilagen von Zeitungen wie der F.A.Z. mögen auf die Hälfte geschrumpft sein, wie Thierry Chervel, Gründungsmitglied der im März 2000 online gegangenen Kultur- und Literatur-Website Perlentaucher, berichtete. Doch trotz der immer wieder in Rezensionen aufscheinenden Gefällt-mir-gefällt-mir-nicht-Dichotomie lebt die Literaturkritik. Das läßt sich unschwer daran ablesen, daß sie sich bereits seit längerem sehr selbstbewußt auch über die neuen Medien vermittelt und beweist, daß fachlicher Gehalt nicht an finanzielles Gehalt gebunden und schon gar nicht auf den Halt zeitungspapierhinterlegter Druckerschwärze des Feuilletons angewiesen ist.

Das wäre auch schon ein erstes Resümee, das aus der von den bücher.machern organisierten Podiumsdiskussion der Leipziger Buchmesse, die seit 2012 dieses Format zu aktuellen Branchenthemen anbietet, gezogen werden könnte. Unter der rhetorikgeschult geschmeidigen Moderation von Andreas Platthaus (stellvertretender Feuilleton-Leiter der F.A.Z.) diskutierten neben Thierry Chervel die Journalistin und Autorin Sieglinde Geisel (tell-review.de, Magazin für Literatur und Zeitgenossenschaft), Ijoma Mangold (Ressortchef Literatur, Die Zeit), Doris Plöschberger (Lektorin für deutschsprachige Literatur im Suhrkamp Verlag) und Vendela Vida (Autorin und Herausgeberin der Kulturzeitschrift The Believer, San Francisco) über Themen wie Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Literaturkritik in Print- und Netzmedien, die mangelnde Refinanzierung von Literaturkritik und die Zukunft dieses literarischen Zweigs. Eine ebenfalls eingeladene Bloggerin habe sehr kurzfristig abgesagt, bedauerte Platthaus, der die auf diese Weise unfreiwillig gewonnene Zeit dem Publikum schenkte, das sich hoffentlich rege zu Wort melden möge - zu gegebener Zeit, versteht sich.

Mangold bekannte freimütig, daß er von seinen 2000 Facebook-Freunden Kritiken zugespielt bekomme, von denen er "mit letzter Sicherheit gar nicht zu sagen" wüßte, ob sie "im ursprünglich substantiellen Sinne" ein Blog oder ein Zeitungstext seien oder ob jemand einfach nur eine private Beobachtung gepostet habe. Platthaus' Frage, ob unbezahlte Literaturkritik per se schlechter als bezahlte Literaturkritik sei, beantworte Mangold mit einem souveränen Nein: Er wüßte nicht, warum der nicht refinanzierte Gedanke der langweiligere sein sollte.

Wäre man spitzfindig, könnte man vermuten, daß die Frage des Moderators eine gewisse Voreingenommenheit gegenüber der Blogosphäre transportierte. Warum nicht auch umgekehrt fragen? Schließlich ließe sich darüber spekulieren, ob bezahlte Literaturkritik nicht nur für Zensur, sondern auch Selbstzensur anfällig ist, da die bezahlten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihren Geldgebern nicht allzu sehr auf die Füße treten wollen. Falls es demnach zuträfe, daß die Neigung zu Gefälligkeitskritik außerhalb der Blogosphäre größer ist als in ihr, würden die Ergebnisse dann nicht tendenziell "langweiligere Gedanken" produzieren?

Anders als vielleicht noch vor zehn, fünfzehn Jahren schien niemand aus dem etablierten Feuilleton Berührungsängste mit den elektronischen Medien zu haben. Der Suhrkamp Verlag, vertreten durch Doris Plöschberger, die im November 2013 das Suhrkamp Logbuch - die literarische Internetpräsenz, in dem Blogger zu Wort kommen -, mit aufgebaut hat und es seitdem betreut, berichtete, daß zu den Suhrkamp-Büchern pro Jahr rund 3500 Besprechungen im Printsektor erscheinen, aber daß der Verlag auch mit 500 Bloggern in Kontakt stehe, die im Durchschnitt 30 bis 40 Bücher pro Woche anforderten. "Unser Motto: Je mehr, desto besser." Es gehöre einfach zur Arbeit eines Verlags dazu, Öffentlichkeit zu schaffen für das Tun von Autorinnen und Autoren sowie das Tun des Verlags.

Es sei ihre "persönliche Leidenschaft", ihr Magazin so schön wie möglich zu gestalten, bekannte Vendela Vida. Sie hat zwar ebenfalls keine Berührungsängste mit dem Internet, schließlich gibt es das Magazin The Believer, das vor dreizehn Jahren gegründet wurde, auch online, aber sie selbst liest nicht auf dem E-book, sondern bevorzugt physische Bücher, die man in die Hand nehmen kann. Ein Buch erfahre erst dann Wertschätzung, wenn man es ins Regal stellen könne, brach sie eine Lanze für das traditionelle Lesemedium.

Wohingegen der "Print-Mensch" Mangold dasselbe für Zeit online tat. Die Online-Redaktion sähe es bestimmt nicht gerne, würde sie so angesehen, daß sie nur das auffange, was bei der Printausgabe über die Kante schwappe, sagte er. Im übrigen seien die Kriterien für Länge und Form von Texten im Print- und im Online-Medium gar nicht so verschieden.

Dem Anspruch von guter Literaturkritik versucht Sieglinde Geisel mit der Literatur-Website "tell" gerecht zu werden, die einen Tag nach dieser Podiumsdiskussion online ging (www.tell-review.de). Angeregt durch eine Debatte im Sommer 2015 auf Perlentaucher über die Medienkrise, bei der alle Leute immer nur rumgemäkelt hätten, habe sie etwas anderes machen wollen, berichtete die Kulturjournalistin, die regelmäßig für die NZZ, Deutschlandradio Kultur und andere Medien schreibt und an der FU Berlin das Fach Literaturkritik lehrt. Es gebe das Bedürfnis nach einem Raum, "in dem es keine Unterscheidung zwischen Kritikern, Autoren und Bloggern gibt", sagte sie und lud alle Autorinnen und Autoren zum Mitmachen ein. Im Unterschied zu Literaturblogs würden die Texte auf "tell" redigiert - sie selbst lasse ihre Texte auch immer gegenlesen -, aber nicht umgeschrieben.

Eine offene Frage ist die Finanzierung von "tell". Geisel möchte sich eigentlich nicht hinter einer Paywall verschanzen und setzt auf Sponsoren, womöglich auch auf "fund raising" wie in den USA. Für die Finanzierung von so etwas Abgelegenem wie Literaturkritik gebe es im Internet keine Modelle, warf Chervel ein. Geld sei allerdings nicht nur ein Problem des Internets, sondern auch der Zeitungen, wie der Rückgang der Literaturseiten belege. Das forderte Mangold zum Widerspruch heraus. Er selbst und Herr Platthaus könnten ihre Familien durchaus davon ernähren, wandte er ein.

Ein Argument, das zu entkräften an diesem sonnigen Nachmittag versäumt wurde. Wie so oft, bestätigt auch hier die Ausnahme die Regel. Die meisten Literaturkritikerinnen und -kritiker können von ihrer Tätigkeit nicht leben. Auf einen Literaturchef der "Zeit" kommen - Hunderte? Tausende? - zahllose Literaturbegeisterte, die es nicht geschafft haben, ihre Leidenschaft zum Beruf zu machen.

Im quantitativen Rückgang der Literaturkritik sieht Mangold nicht das Problem. Es bestehe sowieso eine Knappheit der Aufmerksamkeit für Informationen. "Ich glaube nicht, daß eine Welt mit mehr Literaturkritiken eine bessere Welt wäre." Er sieht den Mangel vor allem darin, "daß immer mehr darüber berichtet wird, worüber alle berichten". Würde man das nicht tun, werde befürchtet, daß man plötzlich ins "Abseits der Aufmerksamkeit" gerate.

Solange die Ökonomie das Feuilleton beherrscht, ist Mangold zuzustimmen. Ähnlich wie bei Hollywood-Filmen, für die sich die Schaulustigen rund um den Häuserblock anstellen, kaum Luft für Experimente bleibt und die Filmhandlung davon bestimmt wird, mit welchem lockeren Spruch und Klischee welche Zielgruppe nach wie vielen Filmminuten bedient werden muß, schwimmen auch die Literaturredaktionen großer Zeitungen mit dem Strom. Wobei sie mitunter ihre eigenen Shooting-Stars produzieren, die sie dann im Chor der Literaturkritiker abfeiern können.

Ein erstes Fazit haben wir bereits gezogen. Ein weiteres lautet: Von einer eineinhalbstündigen Podiumsdiskussion auf der Leipziger Buchmesse kann man offenbar nicht erwarten, daß bei ihr grundsätzlich neue Ideen zum Thema Literaturkritik aus dem Hut gezaubert werden. Wenngleich "tell" den Anspruch erhebt, etwas Neues zu machen, indem alle Beteiligten an Literaturkritik eine gemeinsame Plattform erhalten, entstand im allgemeinen der Eindruck, die Diskutanten hätten das ihnen vertraute Terrain nicht verlassen. Anstatt sich (zugegeben, nicht ausschließlich) im Konstatieren sattsam bekannter Verhältnisse zu ergehen - Literaturkritik in Print- und Netz-Medien gleichen sich an; Literaturkritik wird in der Regel nicht bezahlt; man dürfte sich eigentlich nicht auf die Hauptthemen beschränken, sondern müßte auch mal abseitigere Literatur besprechen -, hätte man gerne die Frage deutlicher in den Vordergrund rücken können, worin sich Literaturkritiken von Print und Netz angleichen, was eine wünschenswerte Literaturkritik wäre und worin sie sich von anderen unterschiede, was also auch in der Literaturkritik eine Erzählung sein könnte, um die man nicht herumkommt und die einen womöglich sogar mitnimmt. In dieser Hinsicht könnte sich die Blogosphäre (ein furchtbares Wort, das wie Blubbersphäre klingt) als genauso beweglich oder unbeweglich erweisen wie das traditionelle Feuilleton.


Seitenansicht einer Wendeltreppe über drei Etagen - Foto: © 2016 by Schattenblick

Durch das abwechselnde Beschwören von Aufstieg und Niedergang - zwei Richtungen um die gleiche Achse - bleibt der Literaturbetrieb im Gespräch ...
(Congress Center Leipzig auf der Leipziger Buchmesse, Treffpunkt der Buchbeschleuniger)
Foto: © 2016 by Schattenblick


Die Berichterstattung des Schattenblick zur Leipziger Buchmesse finden Sie unter INFOPOOL → DIE BRILLE → REPORT:

BERICHT/041: Leipzig, das Buch und die Messe - alte Animositäten ... (SB)
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INTERVIEW/048: Leipzig, das Buch und die Messe - der rote Faden Lesespaß ...    Kerstin Libuschewski und Julia Lücke im Gespräch (SB)
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INTERVIEW/049: Leipzig, das Buch und die Messe - zielgeführt und aufgeklärt ...    Christian Linker im Gespräch (SB)
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INTERVIEW/050: Leipzig, das Buch und die Messe - fast nach zwölf ...    Prof. Hans Joachim Schellnhuber im Gespräch (SB)
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INTERVIEW/051: Leipzig, das Buch und die Messe - Klassenbesinnung ...    David North im Gespräch (SB)
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INTERVIEW/052: Leipzig, das Buch und die Messe - Renaissance und Verjüngung ... Steffen Haselbach im Gespräch (SB)
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INTERVIEW/053: Leipzig, das Buch und die Messe - an der Oberfläche ...    Torsten Casimir im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbri0053.html

1. April 2016


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