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BERICHT/075: Linke Buchtage Berlin - schadensbegrenzte Beteiligung ... (SB)


Ganz offensichtlich reagierte der Bundesanwalt auf die anhaltende Kritik an der Arbeit der Bundesanwaltschaft. Sein Prolog gipfelte in einer Art Abrechnung. Vor allem im Fall Kiesewetter, bei dem die Hauptverhandlung ein "eindeutiges Ergebnis" erbracht habe, gebe es "haltlose Spekulationen selbsterklärter Experten", so Herbert Diemer wörtlich - und ergänzte: "Experten, wie Irrlichter, wie Fliegengesurre!"
Bundesanwalt Herbert Diemer am 25. Juli 2017 im NSU-Prozeß [1]


Am 11. Juli 2018 soll das Urteil im Prozeß gegen Beate Zschäpe und die vier weiteren Beschuldigten des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) gesprochen werden, der nie einer war. Diese und andere offene Fragen zur Verwicklung staatlicher Akteure in die Serie von zehn Morden, zwei Bombenanschlägen und 15 Raubüberfällen sollen nach dem Willen der Generalbundesanwaltschaft und des Gerichts mit dieser fünf Jahre währenden Simulation unabweislicher Rechtsstaatlichkeit endgültig aus dem Feld geschlagen werden. Daß Zschäpe in ihrem Schlußwort die offizielle Version der Anklagebehörde im Grundsatz gestützt hat, wonach der NSU lediglich aus drei Personen bestand und sämtliche Taten von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos begangen wurden, überrascht nicht. Als einzige Überlebende des Trios blieb sie ihrer Prozeßstrategie treu, am Schleier des Vergessens all dessen mitzuweben, was nur die wenigsten wissen sollen und wollen. Ihr mußte schon vor Prozeßbeginn klar gewesen und vielleicht auch klargemacht worden sein, was ihr im Falle des Tabubruchs blühen würde.

Mit der Version behördlichen Versagens im Falle des NSU wurde der Aufklärung geheimdienstlicher Beteiligung ein Riegel vorgeschoben und zugleich einer Qualifizierung der Nachrichtendienste Tür und Tor geöffnet. Daß die allermeisten Medien bereitwillig hinter den Stand ihrer damaligen Recherchen und der daraus resultierenden Zweifel zurückfielen, als sie sich auf die abwegige These einer unerhörten Häufung von Pleiten, Pech und Pannen einschossen, belegte einmal mehr, daß auch die vierte Gewalt allzu gern eine solche bleibt, indem sie Deutungsmacht mitproduziert. Sie machte aus der Münchner Inszenierung einen Schau-Prozeß und schwor ihre Leserschaft bis zuletzt auf das Format einer Reality-Show ein, indem sie Beate Zschäpe attestierte, sie habe ihre letzte Chance verspielt.

So blieb es einmal mehr den Angehörigen der Opfer und ihren Anwälten vorbehalten, sich einem Schlußstrich in Gestalt der bevorstehenden Urteilsfindung zu verweigern. Sebastian Scharmer sagte im Namen seiner Mandantin Gamze Kubasik, deren Vater Mehmet Kubasik in Dortmund ermordet wurde, die Aufklärung dürfe nicht mit dem Prozeß enden. Es gebe weiterhin Mitglieder, Unterstützer und Helfer, die frei herumliefen und denen sie jeden Tag auf der Straße unerkannt begegnen könne. Sie habe ein Gefühl der Verunsicherung. Für Gamze Kubasik sei das Aufklärungsversprechen der Kanzlerin nicht eingehalten worden. Für sie gehe der Kampf weiter. Man müsse diejenigen finden, die vor Ort unterstützt, Waffen geliefert und ausgekundschaftet und die möglicherweise "gedeckt, vertuscht, geschreddert" haben. Das sei der nächste Schritt, den sie nun angehen würden. [2]

Es gebe immer noch Untersuchungsausschüsse zum NSU-Komplex. Darüber hinaus würden sie neue Anzeigen prüfen und versuchen, den Generalbundesanwalt unter Druck zu setzen, die noch laufenden Verfahren zur Anklage zu bringen. Gegen neun Personen wird wegen Unterstützung des NSU weiterhin ermittelt. Weil sich unter ihnen nachweislich mindestens eine V-Person einer Sicherheitsbehörde befindet, beinhalten auch die Folgeverfahren eine Brisanz, wie sie in diesem ersten Hauptverfahren zum ungeklärten NSU-Komplex nur unter Anwendung brachialer Mittel an der Explosion gehindert werden konnte.


Buchcover 'Staatsanwaltlicher Umgang mit rechter und rassistischer Gewalt im NSU-Komplex' - Foto: 2018 by Schattenblick

Foto: 2018 by Schattenblick


"Staatsanwaltlicher Umgang mit rechter und rassistischer Gewalt im NSU-Komplex"

Im Rahmen der Linken Buchtage, die vom 1. bis 3. Juni 2018 im Berliner Mehringhof stattfanden, wurde in einem Workshop das Buch "Staatsanwaltlicher Umgang mit rechter und rassistischer Gewalt im NSU-Komplex" von Isabella Greif und Fiona Schmidt vorgestellt, das bei WeltTrends erschienen ist [3]. Die beiden Autorinnen haben Politikwissenschaften studiert, den Master in Gender Studies gemacht und die Abschlußarbeit zu diesem Thema geschrieben, die dann auch in Buchform veröffentlicht wurde.

Wie die Referentinnen eingangs unterstrichen, gibt es ungeachtet der bevorstehenden Urteilsverkündung im NSU-Prozeß nach wie vor mehr Fragen als Antworten. Die Bundesanwaltschaft hat sich in ihren Ermittlungen frühzeitig auf die These eines isolierten Trios mit wenigen Unterstützern festgelegt. Alle relevanten Personen seien in München angeklagt, gegen das Umfeld wurde nicht weiter ermittelt. Das Netzwerk des NSU, die Rolle staatlicher Behörden und die Auswirkungen der Taten und der rassistisch geführten Ermittlungen gegen die Angehörigen der Ermordeten und die Opfer der Sprengstoffanschläge waren im Prozeß kaum Gegenstand. Das liege in weiten Teilen in der Verantwortung der Bundesanwaltschaft.


Die Doppelrolle der Bundesanwaltschaft im NSU-Prozeß

Die Familie Kubasik hat als Nebenklägerin im Prozeß ihre Anwältinnen beauftragt, über die Verantwortlichkeit der in München Angeklagten hinaus zu klären, inwieweit ein Netzwerk für den Mord an Mehmet Kubasik am 4. April 2006 in Dortmund mitverantwortlich war und inwieweit ein staatliches Mitverschulden vorlag. Mehmet Kubasik war das achte Opfer, das mit derselben Tatwaffe ermordet wurde. Wie war das über einen so langen Zeitraum ohne staatliches Mitverschulden möglich? Zudem war für die Angehörigen von größter Bedeutung, daß ihre eigenen Hinweise darauf, daß es sich bei den Taten um ein rassistisches Motiv gehandelt hat, von den Strafverfolgungsbehörden bei den Vernehmungen immer abgewiegelt wurden oder ihnen teilweise sogar aufgenötigt wurde, nicht mehr davon zu sprechen. Beim Mord an Halit Yozgat am 6. April 2006 in Kassel war mit Andreas Temme sogar ein Mitarbeiter des Verfassungsschutzes am Tatort anwesend. Die Akten für den Untersuchungsausschuß in Hessen wurden bezeichnenderweise für 120 Jahre gesperrt. Die Rolle und das Wissen der staatlichen Sicherheitsbehörden wie den Ämtern für Verfassungsschutz und auch jene der V-Personen sind der strafrechtlichen Aufklärung im NSU-Prozeß entzogen worden. Es besteht ein zentraler Konflikt zwischen den Erwartungen der Nebenklägerinnen an Aufklärung des NSU-Komplexes und Formen des Staatsschutzes, die den Prozeß maßgeblich bestimmen.

Nach Auffassung der Autorinnen hat die Bundesanwaltschaft als oberste Strafverfolgungsbehörde im NSU-Prozeß eine ganz zentrale Rollen inne. Zum einen ist sie die anklagende Instanz, zum anderen vertritt sie die Bundesrepublik Deutschland als Geschädigte in dem Verfahren. In Politik, Wissenschaft und Medien ist jedoch wenig von ihrer Rolle die Rede. Es gab nach dem November 2011 ein Zeitfenster massiver Kritik vor allem an den Polizeibehörden, aber auch den Ämtern für Verfassungsschutz, während die Staatsanwaltschaften, die an verschiedenen Tatkomplexen tätig waren, fast gar nicht thematisiert wurden. Das Zeitfenster kritischer Einwände hat sich bekanntlich geschlossen, die Exekutivbehörden wurden sogar gestärkt. Diese Entwicklung zeichnet sich auch mit Blick auf den Anstieg rechter und rassistischer Gewaltdelikte, besonders gegen Geflüchtete, deren Unterstützerinnen und Unterkünfte in den letzten Jahren ab: Mit dieser Eskalation geht kein Anstieg von Strafverfahren einher. Da die Berichte der Betroffenen von Politik und Wissenschaft weitgehend ignoriert und ausgegrenzt würden, sei es wichtig, die Perspektive des migrantisch positionierten Wissens mitzuwählen und das Muster der Ausschließung einzubeziehen, so die Referentinnen.

Eine zentrale Frage sei in diesem Zusammenhang, welches Verständnis von rechter und rassistischer Gewalt dem staatsanwaltlichen Umgang zugrunde liegt und wie sich das in den jeweiligen Ermittlungs- und Strafverfahren äußert, um daraus ableiten zu können, welche Strategien und Narrative sie im Umgang mit diesem Gewaltphänomen vertreten, anwenden und durchsetzen. Die Autorinnen haben dazu drei Strategien formuliert: Entnennung - etwas wird gar nicht erst genannt. Zwar geht die Anklageschrift des Münchner Prozesses auf die politische Ideologie, die Rassismen, die Hintergründe des NSU ein, doch werden diese in der Verhandlung, wo das Mündlichkeitsprinzip gilt, nicht mehr benannt. Zum zweiten finde eine Entpolitisierung politisch motivierter Taten statt. Und drittens herrsche eine Entkontextualisierung vor - Funktionsweise und Auswirkungen rechter und rassistischer Gewalt werden jenseits ihres gesellschaftlichen Entstehungszusammenhangs behandelt.


Staatsanwaltschaften als Behörden der Strafverfolgung

Zum besseren Verständnis juristischer Laien gingen die Referentinnen auf Funktion und Stellung der Staatsanwaltschaft ein. Nach der polizeilichen Erfassung von Straftaten ist die Staatsanwaltschaft mit dem Ermittlungsverfahren und der Entscheidung zur Strafverfolgung betraut. Sie verfaßt die Anklageschrift, in der festgelegt wird, was Sache des Prozesses werden soll. Aufgrund dieser Deutungshoheit wird sie als Richter vor dem Richter bezeichnet, weil sie schon vor Prozeßbeginn Weichen gestellt hat. Die Bundesanwaltschaft ist für Straftaten zuständig, die gegen die innere oder äußere Sicherheit der BRD verstoßen sowie Straftaten nach dem Völkerstrafgesetzbuch. Bei sogenannten staatswohlgefährdenden Straftaten nach Paragraph 129a StGB (Bildung einer terroristischen Vereinigung) vertritt sie den Staat als Geschädigten. Sie wird vom Generalbundesanwalt geleitet, der den Status eines politischen Beamten hat. Er muß in Übereinstimmung mit den Zielen und Ansichten der Bundesregierung agieren und ist gegenüber dem Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz weisungsgebunden. Es können seitens des Ministeriums Weisungen erfolgen, umgekehrt gibt es eine Berichtspflicht.

Die Bundesanwaltschaft vertritt die Bundesrepublik als Geschädigte des NSU, weil in der Anklage von den rassistischen und staatsfeindlichen Motiven des NSU und konkret der Ermordung der Polizistin Michèle Kiesewetter und dem Mordanschlag auf ihren Kollegen in Heilbronn gesprochen wird. Das Feindbild des NSU habe auch die "antirassistisch verfaßte Bundesrepublik Deutschland" umfaßt. Geschädigte von Straftaten können sich mit einer Nebenklage anschließen, wodurch sie bestimmte Rechte im Prozeß, aber keinen Einfluß auf den Inhalt der Anklage haben. Themen, die nicht in der Anklage auftauchen, werden von der Bundesanwaltschaft und dem Gericht zurückgewiesen. Wenngleich formell eine strikte Trennung zwischen Gericht und Staatsanwaltschaft gilt, orientiert sich in der Praxis der Senat an den Stellungnahmen der Bundesanwaltschaft beispielsweise bei Beweisanträgen der Nebenklage, die zur Hälfte abgelehnt wurden. Im Falle des NSU-Prozesses wurde die Anklage formuliert, bevor die Ermittlungen abgeschlossen waren. Das ist nicht unüblich und folgt dem Prozeßbeschleunigungsgebot. Problematisch ist hier jedoch, daß die Bundesanwaltschaft parallel dazu neun Ermittlungsverfahren gegen Einzelpersonen führt, wovon zwei eingestellt wurden, sowie ein sogenanntes Strukturermittlungsverfahren. In diesen Verfahren gibt es offiziell keine Geschädigten, so daß die Nebenklage keine Einsichtsrechte in die Akten hat. Diese Zuordnung ist eine politische Entscheidung und hat weitreichende Konsequenzen für die Aufklärung oder die Verhinderung derselben.

Die Bundesanwaltschaft hat unausgewertetes Beweismaterial vernichtet, nämlich ein Adreßbuch von Jan Werner, einem V-Mann in Sachsen, gegen den eines dieser parallelen Ermittlungsverfahren läuft. Sein Name stand auch auf der Adreßliste, die in der Garage gefunden wurde, als der NSU offiziell untertauchte. Es gab ein Moratorium für Beweismittel im Jahr 2014, das besagte, bis wann diese nicht vernichtet werden dürfen. Nach dessen Ablauf wurde das Adreßbuch kurzerhand vernichtet, so daß darin enthaltene Aufschlüsse über Kontakte und Netzwerkstrukturen verloren sind.


Konfliktlinien zwischen Rechtspflege und Staatswohl

Bei rechten Organisationsdelikten kommt es zum Konflikt zwischen der Unabhängigkeit der Rechtspflege und dem sogenannten Staatswohl, also zwischen Aufklärungspflicht und Geheimhaltung. Die Bundesanwaltschaft arbeitet mit den Ämtern für Verfassungsschutz zusammen. Das Bundesamt für Verfassungsschutz unterliegt der Fachaufsicht des Bundesinnenministeriums, und darüber ist als Koordinierungsstelle das Bundeskanzleramt angesiedelt. Eine Konfliktlinie ergibt sich daraus, daß bei Ermittlungen zu rechtsterroristischen Organisationsdelikten aufgrund der hohen Dichte an V-Personen, die durch die Ämter für Verfassungsschutz eingesetzt werden, eine Gemengelage unterschiedlicher Interessen entsteht. 2015 wurde kurz vor der Sommerpause ein Gesetz zur Straffreiheit für szenetypische Straftaten von V-Personen verabschiedet. Obgleich Akten nicht verfügbar oder geschreddert worden waren, haben die engagierten Teile der Nebenklage ans Licht gebracht, daß im Umfeld des NSU mindestens 42 V-Personen aktiv waren.

Die Zusammenarbeit der verschiedenen Nachrichtendienste mit den Staatsanwaltschaften und der Polizei ist vor allem durch eine sogenannte Geheimhaltungsrichtlinie von 1973 geregelt. Sie besagt, daß nach Ermessen der Geheimdienste aus operativen oder anderen gewichtigen Gründen polizeiliche Ermittlungen aufgeschoben werden können. Die Dienste haben also weitreichende Befugnisse, was sie den Behörden der Strafverfolgung an Informationen zum Schutz der eigenen Quellen vorenthalten, wobei sie niemandem rechenschaftspflichtig sind.

Um das NSU-Kerntrio Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe gruppieren sich Ralf Wohlleben, Carsten Schultze, Holger Gerlach und André Eminger, die ebenfalls auf der Anklagebank sitzen. Weitere Personen können aufgrund von Aussagen im Prozeß oder in den Untersuchungsausschüssen identifiziert werden. Tino Brandt hat als V-Person in Thüringen über 200.000 D-Mark erhalten und mit diesen Geldern mit Wissen diverser Personen der rechten Szene den Thüringer Heimatschutz und andere Vorgängerstrukturen aufgebaut, die für die Radikalisierung und Bewaffnung zentral waren. Kai Dalek war als Mittelstruktur zwischen Bayern und Thüringen ebenfalls eine zentrale V-Person, Michael See alias von Dolsperg und diverse andere sind namentlich bekannt. Es existierte also ein größeres Netzwerk, von dem die Behörden wußten.

Klaus-Dieter Fritsche sagte 2012 im ersten Bundestagsuntersuchungsausschuß zum NSU aus: Es dürfen keine Staatsgeheimnisse bekannt werden, die ein Regierungshandeln unterminieren. Er war von 1996 bis 2005 Vizepräsident des Bundesamts für Verfassungsschutz und als solcher mitverantwortlich für die Führung von V-Personen. Danach machte er Karriere und war von 2014 bis März 2018 als Staatssekretär im Bundeskanzleramt zuständig für die Nachrichtendienste. Er definiert das Staatswohl als Vorrang staatlicher Interessen selbst vor der Aufklärung schwerster Straftaten, so die Referentinnen.


Das Organstreitverfahren zum Oktoberfestattentat

Im Mai 2015 erfolgte eine kleine Anfrage der Grünen und Linken zu "Erkenntnissen deutscher Sicherheitsbehörden über den Anschlag auf das Münchner Oktoberfest vom 26. September 1980 und mögliche Verbindungen von Vertrauensleuten dieser Behörden zu dem Anschlag". Die Bundesregierung lehnte eine inhaltliche Beantwortung dieser mehrfach gestellten Anfrage immer wieder ab und verwies dabei auf die Grenze geheimhaltungsbedürftiger Informationen, deren Bekanntwerden das Wohl des Bundes oder eines Landes gefährden könnte. Die Frage wurde schließlich vom Bundesverfassungsgericht geklärt, das im Juni 2017 urteilte, daß die Bundesregierung einen Teil der Anfragen beantworten müsse. Sie müsse jedoch grundsätzlich bei Fragen zum Einsatz von V-Personen den Schutz des Staatswohls und die Grundrechte von V-Personen wahren. Der Quellenschutz wurde damit als übergeordnetes Rechtsgut gewertet.

Beim Attentat auf dem Oktoberfest 1980 brachte Gundolf Köhler eine Bombe zur Explosion, wodurch dreizehn Menschen starben und mehr als 200 verletzt wurden. Das LKA Bayern übernahm die Ermittlungen und kam zu dem Schluß, daß Köhler aus persönlichen Motiven die Bombe gezündet habe. Verbindungen zur Wehrsportgruppe Hoffmann und die Herkunft seiner Sprengstoffkenntnisse blieben ausgeklammert. Diverse Beweismittel wurden nicht ausgewertet, etlichen Hinweisen ging man nicht nach, und die Ermittlungen wurden 1982 eingestellt. Werner Dietrich hat im Verlauf von 35 Jahren als Nebenklagevertreter verschiedener Geschädigter vier Wiederaufnahmeanträge gestellt. Er trug durch eigene Recherchen weitere Erkenntnisse zusammen und erreichte im Dezember 2015 die Wiederaufnahme der Ermittlungen. Allerdings sind diverse Beweismittel verschwunden und es ermittelt dieselbe Behörde wie damals. Da es an öffentlichen Verlautbarungen fehlt, ist der aktuelle Stand der Ermittlungen nicht bekannt.


Nebenklage als Korrektiv der Strafverfolgung

Ibrahim Arslan, ein Überlebender des rassistischen Brandanschlags in Mölln 1992, hat die Opfer als Hauptzeugen des Geschehens bezeichnet. Das ist in der Strafverfolgung keine Selbstverständlichkeit, meist haben die Opfer von Straftaten im Verfahren die Stellung passiver Zeuginnen inne. Sie können diese eingeschränkte Stellung verlassen, indem sie sich einer Nebenklage anschließen. Dadurch können sie Beweisanträge stellen, Zeugen befragen und ein Schlußplädoyer verfassen. So hat beispielsweise im NSU-Prozeß ein Anwohner der Kolbstraße berichtet, daß er in seiner Vernehmung darauf hingewiesen hatte, daß es sich um ein rassistisches Motiv gehandelt haben könnte. Der vernehmende Polizeibeamte deutete ihm demnach mit einer vielsagenden Geste an, er solle darüber nicht mehr reden. Von entsprechenden Erfahrungen berichten auch Angehörige von Opfern. Daher ist das Engagement in Nebenklagen von besonderer Bedeutung für die Aufklärung.

Im Falle staatlichen Mitwissens werden Komplexe der Strafverfolgung entzogen, es vergehen lange Zeitspannen, Betroffenen wird kein Glauben geschenkt, teils werden sie aktiv gehindert, ihr Wissen einzubringen. Die Begrifflichkeiten der Strafverfolgung sind am Staatsschutzinteresse ausgerichtet: Seit den 1950er Jahren gibt es "Staatsschutzdelikte", erst in den 90ern wurden diese um antisemitische oder fremdenfeindliche Straftaten erweitert und 2015 um "Haßkriminalität". Politische Motive, die sich gegen Individuen und bestimmte Gruppen richten, sind angesichts dieser Terminologie nicht im Fokus.

Der NSU wurde nicht wie von der Bundesanwaltschaft behauptet umfassend ermittelt. Weder die Größe des Netzwerks noch das staatliche Mitverschulden wurde aufgeklärt. Das Narrativ wurde dahingehend verändert, die staatliche Verantwortung zu leugnen. Im Abschlußplädoyer der Bundesanwaltschaft vom Sommer 2017 hat Bundesanwalt Herbert Diemer die Bemühungen der Nebenklage, die weiteren Hintergründe der Taten und der staatlichen Beteiligung aufzuklären, als "Fliegengesurre" und "Irrlichter" diskreditiert.

Angehörige der Opfer haben sich bereits 2006 zusammengeschlossen, als der NSU noch gar nicht aufgeflogen war. Die Familien Kubasik, Simsek und Yozgat organisierten Demonstrationen in Kassel und Dortmund mit der Forderung, es dürfe kein zehntes Opfer geben. Damals lief die deutsche Öffentlichkeit noch dem Narrativ der Staatsanwaltschaften hinterher, das rechte rassistische Gewalt als Tatmotiv systematisch ausblendete. Ein bedeutsames Moment des Zusammenschlusses war auch das Bündnis zum Tribunal "NSU-Komplex auflösen", das im Mai 2017 fünf Tage lang in Köln stattfand. In die bundesweite Netzwerkarbeit wurden die Familien einbezogen, deren Anliegen im Mittelpunkt stehen und solidarisch unterstützt werden. Die Kontexte des Tribunals bestehen weiterhin. Es gibt im NSU-Prozeß 86 Nebenklägerinnen, deren Interessen teils sehr unterschiedlich sind. Einige beharren auf weitere Aufklärung, andere sind froh, wenn es ein Ende findet. Offen ist vorerst, ob weitere Rechtswege ausgeschöpft werden.

Der NSU-Prozeß hat gezeigt, was mit einer engagierten Nebenklage möglich ist. Die Plädoyers der Nebenklägerinnen werden veröffentlicht, so daß die zentralen Fragen noch einmal zur Sprache kommen. Es wurde viel Wissen zusammengeführt und zugänglich gemacht, auch wenn die Prozeßführung das verhindern wollte. Allerdings sind auch dieser Aufklärung Grenzen gesetzt, wurden doch zahlreiche Beweisanträge der Nebenklage abgelehnt. NSU Watch fertigt das einzig vollständige Wortprotokoll an, das von diesem Prozeß existiert und allgemein zugänglich ist. Von den Prozeßbeobachtern der bürgerlichen Medien, die ohnehin nur sporadisch präsent waren, ist hingegen nicht viel zu erwarten, zumal ihren Berichten grundsätzlich die Dimension der Staatskritik, geschweige denn einer linken Staatskritik fehlt. Sie argumentieren mit der Bundesanwaltschaft, daß weitere Erkenntnisse für die Schuldfrage der Angeklagten nicht relevant seien.

Die Arbeit der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse ist nicht durch eine Klageschrift beschränkt und soll die politische Verantwortung klären. Allerdings können diese Ausschüsse keine Ermittlungen anstrengen, sondern sind darauf angewiesen, daß sie die angeforderten Akten auch bekommen. Nach Einschätzung der Autorinnen haben die Ausschüsse sehr unterschiedliche Arbeit geliefert, was wohl nicht zuletzt von den jeweiligen Regierungen und der Parteistruktur in dem Gremium abhing. Sie bleiben indessen nach Ende des Prozesses insofern wichtig, als sie dann die einzigen Orte sind, an denen das Thema offiziell weiter bearbeitet wird.


Exkursion auf die andere Seite

Da die Seite jenseits des Schleiers ihrer Natur nach geheimgehalten wird, lassen sich darüber keine beweiskräftigen Aussagen treffen, sondern allenfalls anhand gewisser Fakten Fragen aufwerfen. Am 16. September 2013 verbrannte der 21jährige Florian Heilig in seinem Auto. Der Nazi-Aussteiger starb wenige Stunden vor seiner geplanten zweiten Vernehmung beim LKA angeblich durch Selbstmord. Am 3. April 2014 wurde der 39jährige Thomas Richter alias "Corelli" tot in seiner Wohnung aufgefunden. Als offizielle Todesursache wurde ein Zuckerschock angegeben, ausgelöst durch eine bis dahin nicht entdeckte Diabetes-Erkrankung. "Corelli" war bis 2012 V-Mann und lebte zum Zeitpunkt seines Todes in einem Zeugenschutzprogramm. Ende März 2015 starb Melisa M. an einer Lungenembolie, die bestritten hatte, der Grund für Heiligs Selbstmord "aus Liebeskummer" gewesen zu sein und sich bedroht fühlte. Am 8. Februar 2016 wurde der 31jährige Sascha W., ihr damaliger Verlobter, tot in seiner Wohnung aufgefunden. Die Polizei ging von Selbstmord aus.

Am 15. Juni 2018 starb der international renommierte Brandsachverständige und Kriminaltechniker Frank Dieter Stolt im Alter von 62 Jahren in einem Krankenhaus in Mannheim. Er war bei seiner Einlieferung ins Koma gefallen, aus dem er nicht wieder erwachte. Weil die Ärzte die Ursache seines Todes nicht benennen konnten und der Tod für seine Familie "sehr überraschend" kam, hat diese eine Obduktion in Auftrag gegeben. Stolt war im Zusammenhang mit den NSU-Ermittlungen als Experte und Gutachter herangezogen worden und hatte sich mehrmals kritisch über das Vorgehen der Ermittler geäußert. [4]

Soweit die bislang bekannten unverhofften Todesfälle im Kontext der Ermittlungen zum NSU-Komplex. Von einer Kette zu sprechen, verbietet sich insofern, als dies einen nachweislichen Zusammenhang unterstellen würde. Wundern darf man sich darüber aber schon. Feststehen dürfte hingegen, daß viele mutmaßliche Unterstützer des NSU nicht auf der Anklagebank sitzen, wenn Richter Manfred Götzl am Oberlandesgericht in München sein Urteil spricht.


Fußnoten:

[1] www.heise.de/tp/features/NSU-Prozess-Anklaeger-verteidigen-ihre-tendenzioese-Anklage-3783314.html

[2] www.heise.de/tp/features/Schlussworte-im-NSU-Prozess-Zschaepe-vertut-die-letzte-Chance-4097489.html

[3] Isabella Greif/Fiona Schmidt: Staatsanwaltschaftlicher Umgang mit rechter und rassistischer Gewalt. Eine Untersuchung struktureller Defizite und Kontinuitäten am Beispiel der Ermittlungen zum NSU-Komplex und dem Oktoberfestattentat, WeltTrends 2018, 303 S., 19,90 EUR.

[4] www.wsws.org/de/articles/2018/07/04/nsuz-j04.html


Berichte und Interviews zu den Linken Buchtagen im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → DIE BRILLE → REPORT

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6. Juli 2018


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