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BERICHT/083: Richtige Literatur im Falschen - fürs Kapital ein immer größer werdender Gewinn ... (SB)



Das Gesetz endlich, welches die relative Übervölkerung oder industrielle Reservearmee stets mit Umfang und Energie der Akkumulation in Gleichgewicht hält, schmiedet den Arbeiter fester an das Kapital als den Prometheus die Keile des Hephästos an den Felsen. Es bedingt eine der Akkumulation von Kapital entsprechende Akkumulation von Elend. Die Akkumulation von Reichtum auf dem einen Pol ist also zugleich Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralischer Degradation auf dem Gegenpol, d.h. auf Seite der Klasse, die ihr eignes Produkt als Kapital produziert.
Karl Marx: Das Kapital, MEW Band 23, S. 675

Wenngleich sich die Frage von Armut und Reichtum als Verteilungsproblem darstellen mag, blendet diese Sichtweise doch die Herrschaft als menschheitsgeschichtliches Leitmotiv des eigenen Überlebens zu Lasten anderer aus. Erschöpft sich das höchste Streben des Unterworfenen darin, selbst zum Herrn aufzusteigen und exzessiv von menschlicher Substanz zu zehren, dreht sich das Rad von Ausbeutung und Verfügung weiter, wird der Brand forcierten Wachstums und zügelloser Ausplünderung jeglicher Ressourcen unablässig angeheizt. Was Staat und Kapital kraft ihrer Zwangsmittel aufoktroyieren, korrespondiert mit der dafür unverzichtbaren Beteiligung der Besitzlosen, aus ihrer feilgebotenen Arbeitskraft ein befristetes Lehen mehr oder minder notdürftiger Existenz zu erwirtschaften.

Das westdeutsche Wirtschaftswunder als aus verschiedenen ökomomischen Quellen, politischen Konstellationen und sozialen Verhältnissen gespeister Ausnahmefall gestattete und erforderte die Etablierung eines Sozialstaats, der in der Konkurrenz der Systeme eine unabweisliche Überlegenheit der hiesigen Gesellschaftsordnung demonstrieren, sie zum vorgeblichen Dauerzustand verklären und radikaler Opposition den Boden entziehen sollte. Das ist gelungen. Als dann wieder einsetzende Krisen der Kapitalverwertung mit der neoliberalen Offensive gedämpft und die herrschenden Verhältnisse in ihrem Fortbestand gesichert wurden, trafen die damit verbundenen sozialen Grausamkeiten auf eine Arbeitsbevölkerung und deren Interessenvertretung, denen der Zahn des Widerstandsgeists und der Kampfbereitschaft gezogen war.

Im Bild des deutschen Kuchens, der nur deswegen größer als der anderer Volkswirtschaften sei, weil man um seines Erhaltes willen das Maul halte, sich ins Zeug lege und den Gürtel enger schnalle, verschränken sich ideologische Fiktion und materielles Substrat zu einer Zwangsjacke aus Drohung und Bestrafung, Unterwerfung und Fügsamkeit. Die höhere Produktivität als Voraussetzung des erfolgreichen Wirtschaftskriegs ist mit einem entuferten Niedriglohnsektor samt sozialer Kontrolle der ausgebeuteten und ausgemusterten Arbeitskraft und Menschenkörper erkauft. Die unabweislich anmutende Ratio, daß es uns selbst als Fußmatte dieser Räuberbande immer noch besser ergeht als deren Opfern da draußen, von deren Fleisch und Knochen für uns noch ein Brocken abfallen könnte, ist ebenso mörderisch wie suizidal. Wie die gravierenden Unterschiede der Lebenserwartung von Armen und Reichen in Deutschland, aber viel mehr noch zwischen der Bundesrepublik insgesamt und der europäischen Peripherie oder gar dem globalen Süden handfest belegen, geht es um eine Auseinandersetzung von existentieller Tragweite.


Armut in einem reichen Land

Beim Symposium "Richtige Literatur im Falschen", das vom 7. bis 9. Juni 2018 in der Dortmunder Zeche Zollern zum Thema "Literatur in der neuen Klassengesellschaft" stattfand, war die Sektion III dem Thema "Pauperisierung" gewidmet. Unter Moderation von Klaus Kock von der Kooperationsstelle Wissenschaft-Arbeitswelt TU Dortmund sprach Prof. Dr. Christoph Butterwegge als Gastreferent über "Prekarisierung, Pauperisierung und soziale Polarisierung", worauf Annett Gröschner in einem Co-Referat über ihr Romanprojekt "Schwebende Lasten" berichtete.

Der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge hat in Bremen promoviert und war bis 2016 Professor für Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Er ist Mitglied der Forschungsstelle für interkulturelle Studien und war neben seiner wissenschaftlichen Arbeit stets auch politisch tätig, in der Friedensbewegung und in der Sozialpolitik engagiert und hat 2017 zum Amt des Bundespräsidenten kandidiert. Er wird oft als Armutsforscher bezeichnet, weil er viel zu diesem Thema veröffentlicht hat. Drei Titel seiner neuesten Bücher: "Auf dem Weg in eine andere Republik. Neoliberalismus, Standortnationalismus und Rechtspopulismus", "Hartz IV und die Folgen" und "Armut".

Annett Gröschner hat Germanistik studiert und ist Schriftstellerin. Sie war Mitbegründerin der Frauenzeitschrift "Ypsilon", Herausgeberin und Redakteurin der Zeitschriften "Sklaven" und "Sklavenaufstand", hat für das Prenzlauer Berg Museum als Historikerin gearbeitet. Sie ist freiberuflich als Journalistin und Schriftstellerin tätig, aber auch für verschiedene Berliner Theater unterwegs. Sie ist Gast beim Performance-Kollektiv "She She Pop", Gastprofessorin für Kulturjournalismus an der Universität der Künste in Berlin und erhielt zahlreiche Stipendien und Preise. Einige ihrer Bücher: "Mit der Linie 4 um die Welt", "Walpurgistag" und "Backfisch im Bombenkrieg". In ihrem neuen Romanprojekt "Schwebende Lasten" geht es um eine Kranfahrerin im ehemaligen Ernst-Thälmann-Werk in Magdeburg.


Auf dem Podium mit Mikro - Foto: © 2018 by Schattenblick

Christoph Butterwegge
Foto: © 2018 by Schattenblick


Prekarisierung, Pauperisierung und soziale Polarisierung

Wie Christoph Butterwegge ausführte, hält er die wachsende soziale Ungleichheit aus verschiedenen Gründen für das Kardinalproblem der Menschheit, vor allem deshalb, weil sie zu ökologischen und ökonomischen Krisen, Kriegen und Bürgerkriegen wie auch zu Migrationsbewegungen führt. Diese Ungleichheit herrsche nicht nur global, sondern auch in Deutschland, doch halte man hier das Bild einer sozial homogenen Gesellschaft vor. Warum ist das so? Der Soziologe Helmut Schelsky hat 1953 die Bundesrepublik als nivellierte Mittelstandsgesellschaft bezeichnet. Dieser Begriff war damals schon falsch und umstritten, aber diese Formel ist gewissermaßen ins kollektive Bewußtsein eingegangen. Bis heute berufen sich Politiker der etablierten Parteien darauf, um sogar die Bundesrepublik im 21. Jahrhundert so zu bezeichnen. Wenn man das Massenbewußtsein untersucht und fragt, welches besonders ungleiche, gespaltene Gesellschaften sind, wird Deutschland so gut wie nie genannt, während die USA, Kolumbien, Brasilien, vielleicht noch Großbritannien die Liste anführen. Die Bundesregierung veranstaltet dieser Tage einen Festakt zum Thema "70 Jahre soziale Marktwirtschaft". Das war zwar damals schon ein Kosenamen für den Kapitalismus, ist aber für den Finanzmarktkapitalismus der Gegenwart grotesk. Das ist ein Grund, warum die wachsende soziale Ungleichheit in der eigenen Gesellschaft nicht erkannt wird, so der Referent.

Wie sieht diese soziale Ungleichheit aus? Weil man die Armut nicht wirksam bekämpfen kann, wenn man den Reichtum nicht antastet, soll zuerst von diesem die Rede sein. Die beiden reichsten Geschwister unseres Landes, Stefan Quandt und Susanne Klatten, haben kürzlich eine Milliarde und 126 Millionen Euro an Dividende nur aus ihren BMW-Aktien für das Vorjahr bezogen. Bei uns wird die Armut im wesentlichen verharmlost, indem man sagt, in Kalkutta gibt es Armut, wenn die Menschen an den Straßenecken verhungern, aber in Köln gibt es sie nicht, weil höchstens die Hartz-IV-Bezieher, die im Hochhaus wohnen, auf einem hohen Niveau klagen. Zugleich wird der Reichtum verschleiert. Im fünften Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung wird derjenige als einkommensreich bezeichnet, der das Zwei- bis Dreifache des mittleren Einkommens zur Verfügung hat, das heißt also 3500 Euro netto. Da das Einkommen jederzeit entfallen kann, ist das Vermögen ein viel wichtigerer Parameter. Die Bundesregierung siedelt Vermögensreichtum bei 500.000 Euro Nettovermögen an. Er habe in Dortmund das Haus seiner Mutter für sehr viel weniger verkauft und davon in Köln eine eher kleinere Eigentumswohnung erworben, so Butterwegge. Da sei man die 500.000 Euro schnell los. Bei 500.000 Euro fange nicht der Reichtum an, sondern in seinem Empfinden allenfalls der Wohlstand. Der Reichtum spiegelt sich in einigen Zahlen des Berichts wider, wo es heißt, daß 10 Prozent der Reichsten 51,9 Prozent des Nettogesamtvermögens auf sich vereinigen. Das beschönigt und verharmlost jedoch, weil beispielsweise das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) zu anderen Ergebnissen kommt: Das reichste Prozent vereinigt 33 Prozent des Nettogesamtvermögens auf sich, und der Reichtum konzentriert sich wiederum bei den Reichen in wenigen Händen. Das reichste Promille vereinigt 17 Prozent auf sich. Die Konzentration des Vermögens ist inzwischen in Deutschland ähnlich hoch wie in den USA. Der Gini-Koeffizient, ein Maß der Ungleichheit, besagt, daß bei Null alle das gleiche haben, während bei eins einem alles gehört. In den USA beträgt dieser Koeffizient 0,8, in der Bundesrepublik beim Vermögen 0,79. Das deutet darauf hin, daß die Ungleichheit insbesondere unter Konzentration des Vermögens sehr ausgeprägt ist.

Was die Armut betrifft, setzt die EU folgenden Maßstab an: Wer in einem Mitgliedsland weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat, gilt als armutsgefährdet, ist de facto aber einkommensarm. Das sind für einen Alleinstehenden 969 Euro. Wenn die Miete abgezogen ist, bleibt nicht mehr viel zum Leben übrig. 15,7 Prozent der Bevölkerung, das sind 12,9 Millionen Menschen, fallen unter dieses Armutsmaß der EU. Man kann bei solchen Statistiken zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Bedient man sich der Zahlen des Instituts der Deutschen Wirtschaft in Köln (IDW), einer Lobbyeinrichtung der deutschen Wirtschaft, dann gibt es keine große soziale Ungleichheit in Deutschland, zumindest ist sie seit 2005 nicht mehr gestiegen. Nimmt man hingegen der Zahlen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), dann ist sie seither um fünf bis sechs Prozentpunkte gestiegen. Die Zahlen des IDW lassen sich leicht widerlegen, wenn man von der Sache etwas versteht, so der Referent.

Wo liegen die Ursachen? Grundsätzlich neigt eine kapitalistisch organisierte Gesellschaft zur sozialen Polarisierung. Wenn den einen die Produktionsmittel gehören und den anderen nur ihre Arbeitskraft, die sie auf einem Arbeitsmarkt verkaufen müssen, vermehrt sich der Reichtum. Die Tendenz der sozialen Polarisierung ist strukturell angelegt. Dennoch wird man angesichts des Ausmaßes dieser Spaltung in Arm und Reich zusätzliche Ursachen suchen müssen wie insbesondere den Einfluß des Neoliberalismus und eine entsprechende Politik, die von Regierungen unterschiedlicher Zusammensetzung betrieben wird. Es seien drei Ursachenkomplexe zu nennen:

Erstens die Deregulierung des Arbeitsmarkts. Wenn man im Zuge der Agenda 2010 und der Hartz-Gesetze den Kündigungsschutz lockert, die Leiharbeit liberalisiert, prekäre Beschäftigungsverhältnisse schafft, Werk- und Honorarverträge erleichtert, dann entsteht als logische Folge ein breiter Niedriglohnsektor. 24,3 Prozent aller Beschäftigten arbeiten im Niedriglohnsektor, der inzwischen das Haupteinfallstor für Erwerbs-, Familien-, Kinder- und Altersarmut ist. Das ist nicht zufällig so, es ist kein unsozialer Kollateralschaden der Globalisierung, kein sozialpolitischer Betriebsunfall, sondern gewollt. Die Lohndumpingstrategie zielt darauf ab, den Wirtschaftsstandort Deutschland noch konkurrenzfähiger zu machen. Gerhard Schröder lobte in seiner Rede auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Davos im Januar 2005 seine rot-grüne Koalition dafür, daß sie "einen der besten Niedriglohnsektoren in Europa" geschaffen habe. Man wollte durch Prekarisierung der Beschäftigungsverhältnisse die Stellung als Exportweltmeister ausbauen und andere Länder wie jene der südeuropäischen Peripherie niederkonkurrieren.

Zweitens die Demontage des Sozialstaats. Man hat nicht nur Leistungen gekürzt, sondern Strukturen verändert. Verharmlost als Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, wurden bestimmte historisch relevante Strukturelemente des Sozialstaates seit Bismarck außer Kraft gesetzt. Die Arbeitslosenhilfe als eine den Lebensstandard von Langzeiterwerbslosen noch halbwegs sichernde Lohnersatzleistung wurde gestrichen und dafür mit dem Arbeitslosengeld II eine reine Fürsorgeleistung, eine Lohnergänzungsleistung eingeführt. Das angestrebte Ergebnis wurde erreicht, nämlich Druck auf die Gewerkschaften, Betriebsräte, Vertrauensleute und Belegschaften auszuüben, schlechtere Arbeitsbedingungen und niedrigere Löhne zu akzeptieren. Durch diesen Um- und Abbau des Sozialstaates hat man das Prinzip der paritätischen Finanzierung außer Kraft gesetzt und mit der Riesterreform durch eine Teilprivatisierung der Altersvorsorge dafür gesorgt, daß Arbeitgeber und Arbeitnehmer nicht mehr paritätisch an der gesetzlichen Rentenversicherung beteiligt sind. Beteiligt sind sie schon, aber an den 4 Prozent, die die Arbeitnehmer für eine finanzmarktabhängige Altersvorsorge zahlen sollen, die als kapitalgedeckt beschönigt wird, als sei sie sicher, die gesetzliche Rente hingegen nicht. Durch dieses Umlageverfahren hat man die Struktur des Sozialstaats so verändert, daß die soziale Sicherheit für ganz unterschiedliche Gruppen ausgehebelt wurde. Das gilt für Alleinerziehende, Familien und Kinder, die Altersarmut wächst aufgrund der Teilprivatisierung der Altersvorsorge und wegen des Einbaus von sogenannten Dämpfungsfaktoren in die Rentenanpassungsformel, man hat mit Hartz IV auch bewirkt, daß die Löhne sinken, und scharfe Sanktionen etabliert.

Drittens eine Steuerpolitik, die ganz bewußt Wohlhabende, Reiche und Hyperreiche entlastet. Die Globalisierung wurde als Vorwand benutzt, um eine Steuerpolitik nach dem Matthäusprinzip durchzusetzen: Wer hat, dem wird gegeben, und wer wenig hat, dem wird auch das noch genommen. Man hat den Spitzensteuersatz, die Körperschaftssteuer, die Kapitalertragssteuer gesenkt, die Vermögenssteuer seit 1997 nicht mehr erhoben, die Erbschaftssteuer für Firmenerben so gestaltet, daß man heute einen ganzen Konzern erben kann, ohne einen einzigen Cent betriebliche Erbschaftssteuer bezahlen zu müssen. Auf der anderen Seite wurden für Transferleistungsbezieher, prekär Beschäftigte, Geringverdiener die Steuern erhöht, nämlich die Mehrwertsteuer am 1. Januar 2007 von 16 auf 19 Prozent. Das Ergebnis einer solchen Steuerpolitik ist eine soziale Polarisierung, eine stärkere Prekarisierung des Arbeitsmarkts und eine Verarmung, also Pauperisierung in einem reichen Land. Es kommt darauf an, dieses Problem nicht zu verdrängen, es zu erkennen und etwas dagegen zu tun, schloß Butterwegge seinen Vortrag.


Voll besetztes Podium - Foto: © 2018 by Schattenblick

Wer hat die Tore aufgemacht?
Foto: © 2018 by Schattenblick


SPD und Gewerkschaft neoliberal kontaminiert

Warum haben die Gewerkschaften diese sozialen Grausamkeiten hingenommen? Auf die von Erasmus Schöfer aufgeworfene Frage erwiderte Christoph Butterwegge, daß er diesbezüglich ziemlich ratlos sei. Jeder Gewerkschafter konnte voraussehen, was bei Hartz IV passiert: Wenn man Lohnersatzleistungen wie Arbeitslosenhilfe streicht und die Jobcenter befähigt, den Betroffenen jeden Job aufzudrücken, auch wenn er weder ortsüblich noch tariflich entgolten wird, und die Menschen durch Sanktionsdrohung veranlaßt, sich gefügig zu verhalten, läuft das darauf hinaus, willige und billige Arbeitskräfte zu schaffen. Obgleich die Position der Gewerkschaften dadurch strukturell geschwächt wurde, haben sie das akzeptiert. Ein Grund war sicher die sozialdemokratische Loyalität, zumal Gerhard Schröder die Partei mit brachialen Mitteln auf Kurs gebracht hat. Daß aber die Vorsitzenden der Einzelgewerkschaften und die DGB-Spitze, die ein höheres Maß an Autonomie als Bundestagsabgeordnete besaßen, mitgemacht haben, ist nicht allein mit Reformismus und Opportunismus zu erklären, so Butterwegge.

Der Druck aus den Gewerkschaften selbst war schwach. Es gab große Demonstrationen gegen Hartz IV im Vorfeld, die dezentral in mehreren Städten zusammen einige Hunderttausend Menschen auf die Straße brachten. Dann gingen sie wieder nach Hause, die Gewerkschaftsführung ließ den Protest versanden. Der Widerstand gegen die Agendapolitik war überschaubar, sowohl was die Basis als auch die Führung angeht. Eine große Rolle spielte die neoliberale Meinungsführerschaft, da der Sozialstaat allenthalben als Klotz am Bein des Wirtschaftsstandorts diskreditiert wurde. Selbst gestandene GewerkschafterInnen waren der Auffassung, daß der Sozialstaat in abgespeckter Form nur zu retten sei, wenn man die Reformpolitik der rot-grünen Koalition mittrage. Die Philosophie, wenn wir den Sozialstaat vor dem Neoliberalismus retten wollen, dann müssen wir diesen in homöopathischen Dosen selbst praktizieren, entsprach der Linie des Schröder-Blair-Papiers. Blair brachte die Labour-Partei auf den Kurs, man müsse die Thatcher-Politik des harten Neoliberalismus durch einen Neoliberalismus mit menschlichem Antlitz kontern. Globalisierung, demographischer Wandel und Digitalisierung wurden als Erzählungen des Neoliberalismus so vermittelt, daß die Leute bereit waren, den Gürtel enger zu schnallen. Das Modewort "Digitalisierung" taucht im Koalitionsvertrag 298mal auf, "Armut" elfmal und "Reichtum" kein einziges Mal. Mit Vehemenz wird vorgetragen, daß uns die Digitalisierung zwingt, stillzuhalten und keine unmäßigen Lohnforderungen zu stellen, so Butterwegge.

Thomas Wagner begrüßte den Verweis auf die Digitalisierung als bevorzugtes Einfallstor für neoliberale Anpassungsprozesse innerhalb der SPD und der Gewerkschaften unter dem Stichwort Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse. Es werde ein neues Vehikel aufgesattelt, um neoliberale Politik weiter voranzutreiben. Seiner Erfahrung nach sei es jedoch sehr schwer, solche Themen medial ins Gespräch zu bringen.

Eberhard Weber, von 1990 bis 2009 DGB-Vorsitzender in Dortmund, räumte ein, daß die Haltung zu Hartz IV kein Ruhmesblatt für die Gewerkschaft war, doch teile er die Auffassung nicht, daß sie als Ganzes versagt habe. Gesellschaftlich betrachtete sei sie eine kleine Minderheit gewesen, deren Positionen öffentlich kaum wahrgenommen wurden. Zudem habe es weder eine verbürokratisierte Führungsclique noch eine revolutionäre Basis gegeben, die neoliberale Ideologie sei in der Bevölkerung und unter den Beschäftigten tief verankert. Man habe danach noch jahrelang hart gerungen, doch auch das finde in der Öffentlichkeit kaum Gehör. Zudem habe sich die Medienlandschaft in den letzten Jahren dramatisch verändert, Auseinandersetzungen über Kommunalpolitik, über zentrale Fragen in der vom Strukturwandel arg gebeutelt Stadt fänden nicht mehr statt. Die Rahmenbedingungen hätten sich weiter verschlechtert.

Manfred Koch verwahrte sich als Sozialist und Gewerkschafter gegen Stimmen, die damals von Verrat an der Spitze sprachen. Allerdings habe es eine schleichende Öffnung gegenüber neoliberalen Einflüssen gegeben, in einem hochkomplexen Vorgang der Auseinandersetzung seien Arbeitsplätze und schließlich auch die Kampfstärke der Gewerkschaft verlorengegangen, so daß man von einer ideologischen Verwüstung sprechen müsse. Erasmus Schöfer ging diese Kritik nicht weit genug, erinnerte er doch daran, daß die Gewerkschaften bereits 1968 die Notstandsgesetze unterstützt und die Protestbewegung gespalten hätten. Die Folgen könne man heute an den neuen Polizeigesetzen ablesen.

Stefanie Hürtgen nannte als einen weiteren Grund der gewerkschaftlichen Schwäche die dramatische Ost-West-Spaltung. Der Osten wurde mit Transformationsproblemen und Prekären assoziiert, die es zu aktivieren gelte. Widerstand gegen Hartz IV, der letzte Massenprotest im Osten, wurde als rechte Bewegung stigmatisiert. Ursula Engelen-Kefer rief als stellvertretende DGB-Vorsitzende nicht gesamtdeutsch zu Protesten auf, weil die Bewegung in Ostdeutschland rechts unterwandert sei. Das wurde später wissenschaftlich widerlegt, doch die Bezichtigung der Ostdeutschen war längst auch an den Universitäten und von Linken mitproduziert worden.

Wie Christoph Butterwegge abschließend anmerkte, habe Erich Ollenhauer Dortmund einst als Herzkammer der Sozialdemokratie bezeichnet. Die SPD habe jedoch nicht die Tradition von Bebel über Brandt zu etwas ähnlichem fortgesetzt, sondern sei den Weg den Weg Helmut Schmidt, Gerhard Schröder, Olaf Scholz gegangen. Der Unterbezirk Dortmund schrumpfte von 35.000 Mitgliedern Mitte der 70er Jahre auf heute unter 8000. Als Jusofunktionär 1974/75 gerade aus der SPD ausgeschlossen, sei ihm im Westfalenpark Günter Samtlebe begegnet, der jahrzehntelang Dortmunder Oberbürgermeister war. Dieser sagte gleichsam im Scherz: Laß uns mal hinter den Busch da vorne gehen, damit mich niemand mit dir sieht. Diese Anekdote mache die damalige Stimmung in der Sozialdemokratie kenntlich, in der Neoliberale gegen Parteilinke mobil machten. Diese Auseinandersetzung wurde mit harten Bandagen geführt und wir haben sie verloren, so Butterwegge.


Auf dem Podium mit Mikro - Foto: © 2018 by Schattenblick

Annett Gröschner
Foto: © 2018 by Schattenblick


Romanprojekt "Schwebende Lasten"

Annett Gröschners Roman "Moskauer Eis" kam 2000 heraus und beschreibt einen Mann, der seinen Arbeitsplatz verliert, als das Kälteinstitut geschlossen wird, in dem er beschäftigt war. Er friert sich ein und hofft, daß er wieder auftauen kann, wenn sich die Verhältnisse ändern. Der zweite Teil "Schwebende Lasten" ist die Geschichte seiner Frau, die ihn nach zwölf Jahren Ehe verlassen hat. Barbara Kobe ist eine jener 800.000 ostdeutschen Frauen, die sich zu DDR-Zeiten scheiden ließen. Sie wurden im Einigungsvertrag "vergessen", beziehen nur eine sehr geringe Rente und sind mit ihrem Anliegen mittlerweile bis vor die UNO gezogen. Jedes Jahr werden es weniger.

Im Mittelpunkt des Romans steht die Kranfahrerin und Blumenbinderin Hanna Krause, die 1913 geboren wurde und zwei Revolutionen, zwei Diktaturen und einen Aufstand, zwei Weltkriege, zwei Niederlagen, zwei Demokratien, den Kaiser und andere Führer, gute und schlechte Zeiten erlebt hat. Die nie aus ihrer Stadt herauskam, sechs Kinder zur Welt gebracht hat und zwei davon nicht begraben konnte, was ihr naheging bis zum Lebensende. Die unter einer Kirche verschüttet und jeglicher Güter beraubt wurde, ihren einbeinigen und im Alter stummen Mann Karl, der nach der Schicht im Stahlwerk in die Kneipe mußte, weil er kein Flaschenbier mochte und gern Skat spielte, auf dem Rücken durch die Welt trug und die jeden Abend sieben Haufen dreckige Wäsche vor den Füßen hatte. Die später, nachdem der Blumenladen im Knattergebirge längst Geschichte war, von einem Kran im Schwermaschinenbaukombinat Ernst Thälmann einen guten Überblick auf die Beziehungen der Menschen fünfzehn Meter unter ihr hatte und die rechtzeitig starb, bevor sie die Welt nicht mehr verstand.

Das ist die Zusammenfassung. Der Roman selbst spielt im Juni 2013, als die Stadt Magdeburg in den Fluten der Elbe versinkt, und die Töchter Hannas ihre Sachen packen müssen, weil sie alle im Überflutungsgebiet wohnen. Die zweitälteste Tochter, Barbara Kobe, ist Kultursoziologin und schreibt in ihrer Wohnung auf einer ansonsten geräumten Elbinsel einen Vortrag, den sie im Museum der Arbeit in Hamburg halten soll. Sie wohnt im zweiten Stock, unten schießt das Wasser durch die Straßen, nur Deichwachen patrouillieren noch. Der Strom ist ausgefallen, der Akku ihres Laptops hat nur noch 20 Prozent, sie muß sich beeilen.

Barbara Kobe hat Chemielaborantin gelernt, was sie vorwiegend dazu nutzte, den besten Nagellack der Stadt zu machen, mit dem sie angeben konnte. Von zehn Mitlehrlingen ihrer Generation sind vor 1961 sieben nach Leverkusen abgeworben worden, dann aber in Reihenhausküchen von Kleinstadtvororten gelandet. Sie hat Klaus Kobe geheiratet, einen Kälteingenieur, der seine Arbeit mehr liebte als sie. Als ihre Tochter zwölf war, verließ sie die Familie und ging nach Berlin, wo sie in einem Kino arbeitete, im Grenzgebiet wohnte und ein Fernstudium Kultursoziologie absolvierte. Daß sie Mann und Tochter verlassen hatte, hing ihr an, doch irgendwann hörte sie auf, sie zu erwähnen.

Sie hat sich als Kultursoziologin auf Frauen in Männerberufen spezialisiert. Sie selbst hat wie alle in ihrer Familie im Thälmann-Werk gearbeitet und wußte also, wovon sie redete. Ihr Fachbereich wurde evaluiert und abgewickelt, sie war kurzzeitig arbeitslos und wurde dann zu einer Vortragsreise nach Amerika eingeladen, wo man ihre Forschungen interessanter fand, als die derjenigen, die jetzt den Fachbereich an der Humboldt-Universität übernommen hatten. Sie kam herum in der Welt, Gastprofessuren hier und dort, vor allem in Amerika, jahrelang nicht in Deutschland. Sie kehrte erst mit 60 zurück und dann gleich wieder auf die Insel, wo sie schon mal gewesen war. Von ihrem Ersparten kaufte sie eine Eigentumswohnung, als in der DDR geschiedene Frau hatte sie nicht viel Rente, eine Lücke im Einigungsvertrag.


Annett Gröschner und Christoph Butterwege auf dem Podium - Foto: © 2018 by Schattenblick

Analytische Schärfe, ästhetische Würze
Foto: © 2018 by Schattenblick

Vortrag für die Konferenz "Arbeit und Geschlecht" Hamburg 2013.

Meine sehr verehrten Damen, liebe Herren (...) Gestatten Sie mir, in meinem Vortrag etwas persönlicher zu werden, als wir Kultursoziologinnen und -soziologen es uns im allgemeinen zugestehen. Die Nähe zu unserem Gegenstand läßt uns einer Sprache bedienen, die sich im größtmöglichen Abstand zur Alltagssprache begibt. Jetzt am Ende meines akademischen Lebens gestehen Sie mir bitte zu, daß ich meinen Vortrag so formuliere, daß meine Mutter ihn verstünde, wäre sie noch auf der Welt. In diesem Jahr wäre sie hundert geworden, und ja, es geht auch um sie.

Es gibt ein Gemälde des ostdeutschen Malers Wolfgang Mattheuer, er lebte von 1927 bis 2004, der sich in den 70er und 80er Jahren in der DDR einiger Beliebtheit erfreute, weil er seine Kritik an den Verhältnissen so formulierte, daß keiner, der kritisch, aber nicht mutig war, sich von ihm wegen zu großer Renitenz ins Unrecht gesetzt fühlen mußte. (...) Wichtig ist das Gemälde, das den Titel "Die Ausgezeichnete" trägt und 1973/74 entstanden ist. Es zeigt nichts weiter als eine ältere Frau, halb verdeckt von einem weiß gedeckten Tisch, auf dem fünf verschiedenfarbige Tulpen liegen. Als ich das Bild Anfang der 2000er Jahre in der Neuen Nationalgalerie in einer gesamtdeutschen Ausstellung sah, ergriff es mich, als verfügte es über eine eiserne Faust, mit der es mich an die Decke emporhob und von dort wieder auf den Boden zurückschleuderte. Ich, die ich nicht zu Gefühlsausbrüchen neige, mußte plötzlich heulen und schluchzte so laut, daß es mich schüttelte, und die Leute um mich herum mich seltsam ansahen und eine Frau mich fragte, ob ich eine schlechte Nachricht erhalten habe. SMS waren gerade in Mode gekommen. Ich weiß bis heute nicht, warum mir das geschah. Ich war nie ein Fan des ostdeutschen Realismus. Ich fand eher, daß er mit seiner vorsichtigen kryptologischen (das streicht sie wieder) Kritik das System eher noch unterstützte. Und vielleicht hätte mich das Gemälde, hätte ich es in den 70er Jahren in einer Kunstausstellung gesehen, gar nicht beeindruckt. Aber nun, einige Jahre, nachdem die Gesellschaftsordnung, die die Frau für was auch immer ausgezeichnet hatte, untergegangen war, sah ich dort wie in einem Spiegel die ganze Größe und Tragik der arbeitenden ostdeutschen Frau einschließlich ihres erzwungenen Niedergangs lange nach der Entstehung des Gemäldes, der aber, und darin besteht seine künstlerische Größe, darin schon eingeschrieben ist.

Ich muß Ihnen das Bild mit Worten beschreiben, ich habe bisher nur Schwarz-Weiß-Reproduktionen gefunden, die das Gemälde nicht annähernd zeigen. Es ist horizontal dreigeteilt. Oben eine orange Wand, in der Mitte ein weiß gedeckter Tisch, der wie ein Riegel zwischen Oberkörper und Unterleib der Frau die ganze Breite des Gemäldes einnimmt, und im letzten Drittel die Dunkelheit unter dem Tisch, aus der nur zwei helle Fesseln in Schuhen hinausleuchten. Die Frau hat Wasser in den Beinen, vom vielen Stehen wahrscheinlich, von zahlreichen Schwangerschaften vielleicht (...). Die Frau ist in der Totale, älter schon, kurz vor der Rente. Sie hat sich feingemacht für den Tag der Auszeichnung. (...) Aber die Schultern hängen, die Augen sind geschlossen, ihr Gesicht strahlt eine sehr große Müdigkeit aus.

Der Dank des Systems dafür besteht aus kümmerlichen fünf Tulpen, eigenartigerweise fünf Blüten, aber nur drei Stile, da kann sie schon froh sein, daß sie verschiedenfarbig sind. In meiner Erinnerung sind es immer Nelken gewesen, und auch in den Quellen, die ich im Netz gefunden habe, war von Nelken die Rede, nicht von Tulpen. Wenn ja, zu Auszeichnungen gab es in der Regel Nelken, aber Mattheuer wollte wahrscheinlich Klischees vermeiden. Wir haben sie im Kopf. Nelken, immer mit Blumendraht versehen, versteift, damit sie nicht umkippen in der Vase, ein Zeichen unserer Existenz in der Garotte, die ab und an mal angezogen wurde, aber gleich wieder losgelassen, und den Rest der Zeit zwang sie uns geradezusitzen. Meine Mutter, die in den 30ern mit Leib und Seele Blumenbinderin gewesen war (...) haßte genau zwei Blumensorten: Mainelken und Gerbera. Aus ebenjenem Grund, daß sie einer Stütze bedurften und künstlicher aussahen, als eine nachgemachte Blume es vermochte. Nelken hätte sie nicht entgegengenommen (...). Das Bild ist still, nicht aufmüpfig, eine große Melancholie geht von ihm aus. (...) Das ganze Bild spricht bis auf die Wand von einer Grundresignation, die nach Günter de Bruyn zur Bejahung des Bestehenden neigte, ein bequemes Einrichten in der Zwangslage gestattete, und Gedanken an Veränderung verbot. (...)

Die Ausgezeichnete hätte meine Mutter sein können, zur Feier des Abschieds in die Rente vielleicht eine Auszeichnung für Selbstverständliches oder weil sie halt mal wieder dran war am Frauentag. Angefangen hatte meine Mutter im Verwaltungsgebäude von Krupp als Putzfrau, bis es im August 1944 in Schutt und Asche lag. Mit derselben Bombe ging auch die Wohnung gegenüber dem Werkseingang kaputt. Nach der Rückkehr aus der Evakuierung ging sie wieder ins Werk, erst als Kantinenhilfskaft, dann als Lagerarbeiterin. Nach dem 17. Juni 1953, der in Magdeburg zu weit heftigeren Protesten geführt hat als irgendwo anders in der Republik, von Berlin abgesehen, kam sie mit Hilfe des Frauenförderungsplans auf den Brückenkran im nun Thälmann-Werk genannten Krupp-Werk. Dort blieb sie 20 Jahre. Sie arbeitete in drei Schichten. Da es viele Leerzeiten gab, weil mal wieder kein Material da war, hatte sie viel Zeit, um zu stopfen, zu stricken und da oben Bücher zu lesen. Hanna liebte den "Zauberberg", hat sie viermal gelesen und immer gesagt, Kinder, so ein Schweizer Sanatorium ist schon was Feines. Dieses Ausgezeichnetwerden war ein schlechter Tausch, und vielleicht kam daher auch die allgemeine Unzufriedenheit. Dieser ständige Einsatz war mit drei traurigen Blumen und einem Blechabzeichen nicht zu kompensieren, denn er hätte mehr als dieses bedurft. Natürlich ist auch meine Mutter Aktivistin gewesen und Mitglied des Kollektivs der sozialistischen Arbeit. Sie hatte Wettbewerbspokale auf Vorrat, bis ein anderer den Wanderpokal bekommen hat. (...) Ich ging manchmal nur durch den Betrieb, um meine Mutter oben auf dem Kran zu beobachten. Ihre präzisen Bewegungen, nie kam eine Last ins Rutschen. Beinahe wäre sie da oben gestorben, als sie Angst hatte, wegen der Herzschmerzen den Verkehr aufzuhalten. Es war ein Herzinfarkt. (...)

Viele Jahre habe ich über die Wanderbewegung der Industrie nachgedacht. Sie ging immer dahin, wo die Löhne so niedrig und die Rechte so beschnitten waren, das sie faktisch nur auf dem Papier existierten. Heute sind die Fabriken in Mexiko, China oder Bangladesch und es gibt dort so gut wie keine Arbeitsschutzbestimmungen, kein Mitbestimmungsrecht, keine Arbeitszeitbegrenzungen, einen Hungerlohn. Das Mitbestimmungsrecht bestand im Thälmann-Werk darin, mit Streik zu drohen, wenn es bestimmte Zigarettenmarken im Werk nicht zu kaufen gab. Es gab sie dann sofort wieder. Damals waren wir noch selbst Teil dieses gigantischen Molochs aus Stahl und Reinigungsspänen, der Erlenmeyerkolben, der Sirenen, Teil des gefräßigen Wesens, das uns in ein Zeitfenster zwang, 6 bis 14, 14 bis 22, 22 bis 6. Manchmal sahen wir uns tagelang nicht, weil alle andere Schichtzeiten hatten. Geht ja nicht ins Werk, das Werk frißt euch auf, ein Moloch, werdet was anderes, hat unser Vater gesagt. Aber wir landeten früher oder später alle im Werk und gingen auch wieder. (...)

Meine Mutter Hanna hat das Werk als Brache nicht mehr gesehen. Ich bin mir nicht sicher, ob sie es schlimm gefunden hätte. Ich fand es schlimm. Ich finde, es ist eine Leerstelle in der Stadt. Die Frauen verloren als erste ihre Arbeit. Sie klammerten sich verbissen an die Vorstellung, morgens aus dem Haus gehen zu müssen und abends wiederzukommen, um am Ende des Monats genügend Geld für das Nötigste auf dem Konto zu haben, obwohl die aus dem Westen kommenden Arbeitsvermittler ihnen eine Hausfrauentätigkeit schmackhaft machen wollten: Nehmen Sie doch den Männern die Arbeit nicht weg! Setzen Sie sich zur Ruhe, lassen Sie ihren Mann arbeiten. Aber die Frauen waren trotzig, bockbeinig, eigensinnig. Sie blieben sitzen auf den angeschraubten Stühlen der Leistungsanteilung, gingen nicht weg, wollten arbeiten, was Männer machten, nicht Reinigungskraft, Tagesmutter oder Blumenbinderin. Sie wollten den Geruch nach Öl, Stahlspänen, sie wollten am Abend wissen, was sie am Tag gemacht hatten. Sie wurden zu Umschulung, ABM-Stellen, Ich-AGs genötigt. Jede Dekade ein neuer Name, und immer weniger Geld. Die Frauen blieben zäh.

Das Bild von Mattheuer ist das Bild meiner Mutter als fast alte Frau. Die Kinder sind aus dem Haus, bis auf die Nesthäkchen haben alle einen Beruf und sie leben für den Betrieb. Ihr Mann kann nicht mehr gehen, er hat nur ein Bein, und sprechen inzwischen auch nicht mehr. Das Rauchen und die Arbeit in der Stahlgießerei haben ihm einen Luftröhrenkrebs beschert. Er raucht durch das Loch im Hals. Sie kommuniziert mit Hilfe von Kranzeichen, die können sie beide. Karl Marx hat gesagt, die Landschaft der Industrie ist das aufgeschlagene Buch der menschlichen Psychologie. Dieses Buch gibt es nicht mehr. Der Bildschirm wird schwarz. Ist auf dem Hängeboden nicht noch eine Schreibmaschine oder muß ich jetzt mit der Hand weiterschreiben? Es klopft an der Tür.


Gebäude und Förderturm - Foto: © 2012 by Schattenblick

Früher Lohnhalle, heute Hotelbetrieb ... Hotel Alte Lohnhalle in Essen
Foto: © 2012 by Schattenblick


Erzählende Wissenschaft, analytische Essenz der Geschichte

Wie ihre Romanfigur Barbara Kobe weiß auch Annett Gröschner, wovon sie spricht. Sie ist in Magdeburg aufgewachsen, wo zu Zeiten der DDR jedes Kind ab der fünften Klasse zeitweise im Fach Produktive Arbeit im Schwermaschinenbau gearbeitet hat. Die meisten Gasherde in der DDR wurden von Schülern hergestellt, und wenn diese älter wurden, schnitten sie Gewinde in Verseilmaschinen. Ich kannte diese Welt sehr gut, so die Autorin, habe zudem für diesen Roman mit mehreren Kranfahrerinnen gesprochen, die jetzt alle als Rentnerinnen in ihren Wohnungen sitzen. Ich war ein Jahr im Archiv und habe mit vielen Leuten Interviews geführt, die länger in den Betrieben waren als ich. Meine Familie hat in der Stahlgießerei gearbeitet. Das bleibt drin, auch wenn die meisten von uns Künstlerinnen geworden sind. Man wird seine Klasse nicht los. Im Werk haben früher 60.000 Menschen gearbeitet, heute ist das ein leerer Ort, so groß wie 50 Fußballfelder. Das Herz der Stadt, wo überhaupt nichts passiert.

Wie in der Diskussion zur Sprache kam, biete der Text die Möglichkeit anzuknüpfen, auch wenn das nicht die eigene Erfahrungswelt ist, weil er nicht theoretisch daherkommt, sondern sinnlich die konkreten Arbeitsbedingungen erschließt, wie sie heute nur noch selten beschrieben werden. Die Analyse sei eingebunden in die Erzählung, die Essenz der Geschichte werde zu einer analytischen Kraft. Der Roman mache etwas sichtbar, was es so gar nicht mehr gibt. Im Ästhetischen könne man etwas aufleben lassen, das über Beschreibung hinausgehe und mithin kunstvoll sei. Literatur sei kein bloßer Dienstleister, der Konflikte nachzeichnet. Sich selbst und die Gegenwart in den Ring zu werfen, berge das Risiko, die Reflexion der Verstrickung nicht mehr vermeiden zu können, was aber gerade das Interessante und Spannende sei.

Anke Stelling fand es als Literaturwissenschaftlerin attraktiv, wie bei Annett Gröschner eine Akademikerin über andere Berufsgruppen berichten kann, ohne sie zu vereinnahmen und zu überschreiben, weil es deren eigene Erinnerungen sind: Erzählende Wissenschaft als Medium der Selbsterkenntnis und Welterfahrung. Dabei sei die Literatur der Arbeitswelt zugleich mehr als die Literatur der ArbeiterInnen. Die Arbeit sei auch als Metapher und Denkmodell dabei, wenn man etwa über Lebenssinn spricht.

Ingar Solty unternahm den Versuch, sozialwissenschaftliche Grundierung und Literatur anhand der geführten Diskussion zusammenzubringen. Die Agenda 2010 war eine der zentralsten Zäsuren in der jüngsten deutschen Geschichte, die AfD ihr verspätetes Ergebnis. Das Romanprojekt ist so interessant, weil es aus einer Arbeitswelt berichtet, die nicht die der akademischen Klasse ist. Viele deutsche Romane über das 20. Jahrhundert enden in den 1990er Jahren und reichen nicht bis in die Gegenwart. "Schwebende Lasten" ist eines der wenigen Beispiele, in denen über die Agenda 2010 hinausgeschrieben wird. Eigentlich müßte eine derartige Zäsur viel stärker in der Literatur behandelt werden. Man könnte drei Gründe nennen, warum das nicht geschieht: Durch die Deindustrialisierung vor allem im Osten gibt es keine Berufsbiographien mehr. Zudem fehlt ein politologischer Spannungsbogen wie Krieg, Revolution oder Neuaufbau. Dem langen Prozeß der Neoliberalisierung seit den 90er Jahren fehlt der historische Knalleffekt. Es gibt aber eine dritte Erklärung, daß nämlich die Zäsur selber umstritten ist. Teile der Sozialdemokratie behaupten bis heute, daß es die richtige Entscheidung war, obwohl sie die SPD zerstört hat, und die Grünen sind wirtschaftspolitisch noch weiter nach rechts gerückt. Die Einschreibung der neuen Linken in Neoliberalismus hat dazu beigetragen, diese Zäsur nicht als solche erscheinen zu lassen. Aber eine Erzählung brauchen wir. Wie kann die Literatur die verschiedenen sich auseinander entwickelnden Erfahrungen bündeln in eine Erzählung, in der die Agenda 2010 vorkommt und vielleicht auch die Spaltung der Linken an vielen Fragen und Fronten behandelt wird? Erzählt werden muß die Zäsur, weil man andernfalls keine Erzählung für die unteren Klassen hat, die ohne sie nach rechts wandern, so Solty.

Annett Gröschner fand indessen die Vorgabe schwierig, daß es diese Zäsur gebe und man darüber schreiben müsse. Es sei ja umgekehrt, da man die Figuren der Geschichte entwickle und dann darüber schreibe. Barbara Kobe steht am Wendepunkt ihres Lebens und wendet sich nun ihrer Mutter zu. Die Überflutung setzt Geschichten frei. Zuerst werden die Keller ausgeräumt, und dabei findet man hunderttausend Erzählanlässe. Wir können ganz viel und wir können ganz wenig und wir können es vor allem nicht so schnell, wenn es Erzählungen oder Romane sind. Ich war im Archiv und habe viele Interviews geführt. Aber wenn ich das eins zu eins aufschreiben wollte, würde das niemand lesen wollen, ich zuallererst nicht. Das muß erst eine Geschichte werden, und das braucht manchmal zehn Jahre.


Steinkohle als Exponat im Hotel Alte Lohnhalle - Foto: © 2012 by Schattenblick

Kohlebrand kaltgestellt
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19. August 2018


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