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BERICHT/084: Richtige Literatur im Falschen - Objekt der Unterwürfigkeit und der Übergriffe ... (SB)


Die identitätspolitische Wende des Feminismus passte nur zu gut zum Aufstieg eines Neoliberalismus, dem es vor allem darum ging, den Gedanken der sozialen Gleichberechtigung aus dem öffentlichen Gedächtnis zu tilgen. Das heißt, wir haben die Kritik des kulturellen Sexismus ausgerechnet in dem Augenblick verabsolutiert, in dem die Verhältnisse eine energische Besinnung auf die Kritik der Politischen Ökonomie erfordert hätten.
Nancy Fraser: Neoliberalismus und Feminismus - Eine gefährliche Liaison [1]


Die politische Entfaltung der Geschlechterverhältnisse driftet zusehends auseinander. Auf der einen Seite anwachsende Sensibilität für Erscheinungsformen patriarchaler und sexualisierter Gewalt, auf der anderen der Rollback in Richtung tradierter Geschlechterhierarchien und Familienkonzepte lassen erkennen, daß mit dem Aufwerfen der "Gender-Frage" bereits Position zugunsten der emanzipativen Bearbeitung des Themas bezogen wird. Unter dem Obertitel "Spezielle Widersprüche in der ausdifferenzierten Gesellschaft" wurde diese Frage auf der Tagung "Literatur in der Klassengesellschaft" verhandelt, die als vierte Ausgabe der Reihe "Richtige Literatur im Falschen?" vom 7. bis 9. Juni in Dortmund stattfand.

Daß es dabei womöglich weniger um einen speziellen Widerspruch als ein grundsätzliches Problem spätkapitalistischer Gesellschaften in Zeiten der multidimensionalen Krise geht, belegen die Angriffe auf das Vorhaben, Geschlechtergerechtigkeit über den bloßen Gleichstellungsanspruch hinaus herzustellen, indem die normativen Zwänge der etablierten Geschlechterdichotomie hinterfragt und überwunden werden. Der Antifeminismus hat die Nischen rechtsradikaler und völkischer Gesinnung längst verlassen und ist im bürgerlichen Feuilleton wieder diskutabel geworden. Die naturalistische Ideologie vom organischen Volkskörper und die quasi existenzielle Notwendigkeit seiner Reproduktion, die durch die traditionelle Arbeitsteilung in der Kleinfamilie zu gewährleisten sei, genießen neue Akzeptanz nicht nur unter ewig Gestrigen. So erhalten christlich-fundamentalistische AbtreibungsgegnerInnen, die neue Rechte und sich in ihrer beanspruchten Männlichkeit gedemütigt fühlende Herrenmenschen viel Raum für breit orchestrierte Kampagnen gegen neue wie alte Feministinnen, gegen die staatliche Förderung der Gender-Studies, gegen Gleichstellungsprogramme in Staat und Gesellschaft als auch die Nutzung einer geschlechtergerechten Sprache.

Da der organisierte Antifeminismus [2] eng verbunden ist mit der imperialen Lebensweise, deren Zerstörungskraft im Nord-Süd-Gefälle höchst ungleicher Lebenschancen, der Sicherung dieser Ausbeutungsverhältnisse durch Neokolonialismus und Militarismus, dem globalen Raubbau an natürlichen Ressourcen wie menschlicher Arbeit, dem anwachsenden Tierverbrauch, dem motorisierten Individualverkehr wie der touristischen Kolonisierung der Welt mit Hilfe von Flugreisen auf höchst schmerzhafte Weise wirksam wird, ist er für die Austragung gesellschaftlicher Konflikte um Zukunftsfragen wesentlich. Daß mit Donald Trump ein Macho sondergleichen Präsident desjenigen Landes wurde, in dem der größte Verbrauch an lebenswichtigen Ressourcen im globalen Pro-Kopf-Vergleich erfolgt, verweist auf diesen grundlegenden Zusammenhang. Trumps Eintreten für fast alle Formen rabiater Naturausbeutung geht konform mit einer nationalchauvinistischen Selbstbehauptung, deren maskuliner Habitus in seiner raumgreifenden Physis unverkennbar in Erscheinung tritt. Da die US-Gesellschaft zugleich Austragungsort avancierter Kämpfe um die Rechte von der heterosexuellen Norm abweichender Minderheiten als auch der aggressiven Unterdrückung der körperlichen Selbstbestimmung von Frauen durch militante Evangelikale ist, zeigt sich dort auf exemplarische Weise, daß Geschlechterverhältnisse für die Austragung gesellschaftlicher Widersprüche kaum weniger bedeutsam sind als Klassenantagonismen.

Selbstverständlich gilt das nicht nur für die Vereinigten Staaten. In osteuropäischen, katholischen wie christlich-orthodoxen Gesellschaften grassiert die Homophobie. In Rußland wurde 2017 die Strafbarkeit häuslicher Gewalt entschärft, indem sie nur noch verfolgt wird, wenn sie einen Krankenhausaufenthalt zur Folge hat oder mehrfach im Jahr geschieht. Einmal pro Jahr Frau oder Kind zu schlagen ist heute eine Ordnungswidrigkeit. In der bislang in Geschlechterfragen säkularen Türkei setzt die AKP-Regierung ein konservativ-religiöses Frauenbild durch, das mit immer mehr Einschränkungen für die Bewegungsfreiheit von Frauen in der Öffentlichkeit einhergeht.

Die Emanzipationsbewegung der Kurdinnen in Rojava im Norden Syriens wird nicht nur von der Türkei bekämpft, sondern auch in der Bundesrepublik kriminalisiert. Als sei ein feministischer Gegenentwurf zur patriarchalen Ordnung mehrheitlich islamischer Gesellschaften nicht aller Unterstützung wert, soll der Despot Erdogan auch noch von der deutschen Regierung gerettet werden, um deren eigene Hegemonialpolitik zu schützen.

Aus den Analysen und Konzepten des Ökofeminismus geht hervor, daß auf Frauen in den Ländern des globalen Südens die Hauptlast der sozialen Reproduktion liegt und sie daher eine Schlüsselstellung bei der Überwindung sozialökologischer Gewaltverhältnisse einnehmen. Während in den postmodernen und postindustriellen Metropolengesellschaften Westeuropas und Nordamerikas die bereits erkämpften Erfolge der Frauenemanzipation wie selbstverständlich vorausgesetzt werden, wird mitunter vergessen, daß das Leben von Frauen weltweit nach wie vor unter dem Diktat patriarchaler Willkür steht. Dessen Beseitigung zum Arbeitstitel imperialistischer Kriege zu machen, wie im Fall der Eroberung Afghanistans unter anderem von der damaligen Ehefrau des US-Präsidenten und späteren US-Außenministerin, Hillary Clinton, propagiert, heißt die Schraube unüberwindlicher Unterdrückung noch einmal extra fest anzuziehen.

Von daher betrifft der Anspruch auf Geschlechtergerechtigkeit die Ausbeutung von Frauen in der globalen Textilindustrie und an den Montagebändern der Computerfertigung, die massenhafte Versklavung von Frauen als Zwangsprostituierte und die reproduktionsmedizinische Ausbeutung sogenannter Leihmütter ebenso wie die Probleme flüchtender Menschen, die kapitalistische Negation der Ernährungssouveränität, die Vertreibung indigener Bevölkerungen durch extraktivistische Ressourcenstrategien und die durch den Klimawandel bedingte Verödung ganzer Regionen in den tropischen Zonen der Welt.


Auf dem Podium - Foto: © 2018 by Schattenblick

Stefanie Hürtgen
Foto: © 2018 by Schattenblick


Entsolidarisierung im Vexierspiegel der Geschlechterdichotomie

Der "Verschränkung von Klassen- und Geschlechterverhältnissen" auf den Grund zu gehen, hatte sich die Politikwissenschaftlerin Stefanie Hürtgen vorgenommen. Zu Beginn ihres Vortrags im großen Saal des Landesmuseums LWL Zeche Zollern führte sie einige in der Entwicklung der industriellen Arbeitsteilung des modernen Kapitalismus geprägte, für das Wesen der Geschlechtlichkeit geltend gemachte Charakteristika auf. So sei das Männliche besetzt mit Merkmalen wie sachlich, rational, vorausschauend, durchsetzungsstark, konkurrenzfähig, individuell und objektiv. Demgegenüber werden für das Weibliche Kriterien wie gefühlvoll, sensibel, anpassungsfähig, sozial und intuitiv genannt. Im warenproduzierenden Kapitalismus dominiert demgemäß das Männliche, weil es für das materielle Erzeugen von Produkten und Gütern wie ganz allgemein für Produktivität stehen soll. Das Weibliche wiederum wird mit Naturverhältnissen im ökologischen Sinne als auch der Natur des Menschen, um deren Schutz und Erhalt sich zu sorgen quasi die Aufgabe der Frau sei, synonym gesetzt.

In dieser Dichotomie, die an die von der Historikerin Karin Hansen geprägte Begrifflichkeit der "Geschlechtscharaktere" anknüpft, ziehen als männlich geltende Verhaltensweisen mehr öffentliche Aufmerksamkeit auf sich und erhalten dementsprechend mehr gesellschaftliche Anerkennung. Weibliches findet eher im Privaten statt und bleibt mithin häufig unsichtbar. Die Referentin warnt allerdings vor der moralisierenden Betrachtung solcher Abstraktionen, arbeiten sie doch, wenn nicht ausdrücklich als gesellschaftlich produzierte Kategorien dargestellt, der biologistischen Verankerung vermeintlicher Wesensmerkmale in die Hände. Ihr Nutzen für die Kritik tradierter Geschlechterrollen erschließt sich denn auch in der Aufhebung des instrumentellen Charakters derartiger Stereotypien. Ohnehin seien mit männlichen Geschlechtscharakteren nicht nur empirische männliche Personen gemeint, sondern diese könnten auch unter Frauen angetroffen werden, so Hürtgen.

Entscheidend für sie und damit das eigentliche Thema sei das Trennende und Zerreißende der Dichotomie, das sie mit vermeintlichen Verbesserungen bei der Gleichstellung der Geschlechter kontrastiert. So hinterfragt sie das als Erfolg der Frauenbewegung verbuchte Aufbrechen tradierter Geschlechterrollen in der modernisierten Arbeitswelt unter Verweis auf die Feministin Nancy Fraser, die die Vereinnahmung des Feminismus durch den neoliberalen Kapitalismus seit längerem kritisiert.

Die Privatisierung vordem zu weiten Teilen staatlich alimentierter Versorgungstätigkeiten etwa in der Pflege resultiere in der erneuten Inanspruchnahme von Frauen im Sinne einer Retraditionalisierung ihres Rollenbildes. In der ungeheuren Krise der Sorgearbeit sei gesellschaftlich völlig ungeklärt, wer für deren Behebung zuständig ist. Dies resultiere in der kostenlosen Inanspruchnahme unsichtbarer weiblicher Arbeit im Privaten einerseits durch die Frauen in der Familie als auch die Inanspruchnahme illegaler Dienstleistungen aus anderen Ländern. Selbst wenn die Arbeit von nichtdeutschen Kräften in der Hauspflege legal erfolgt, entfällt sie in den Familien der Arbeitsmigrantinnen, wo sie ebenfalls benötigt wird. Auf der einen Seite wird gefordert, daß Frauen auch jenseits ihnen traditionell zugeschriebener Berufsbilder Lohnarbeit verrichten, auf der anderen Seite bleibt die Frage, wer die notwendige Sorgearbeit verrichtet, ungeklärt. Diese Krise stelle die dunkle Seite dieser Modernisierungsbewegung dar, meint Hürtgen.


Podium des Panels 'Die Gender-Frage' - Foto: © 2018 by Schattenblick

Center Stage für Frauen
Foto: © 2018 by Schattenblick

Doch auch unter LohnarbeiterInnen resultiere die Intensivierung, Flexibilisierung und Rationalisierung der Arbeit in einem Verlust an Kollegialität wie der sorgenden Einstellung zur Arbeit selbst. Da ein kollektiver Arbeitsprozeß immer auch eine Abstimmungsleistung darstelle, wirke sich das Streben nach Wettbewerbsfähigkeit und Kosteneffizienz darin aus, daß die ArbeiterInnen keine Zeit mehr haben, sich um mehr als das Nötigste zu kümmern, und nurmehr Dienst nach Vorschrift verrichten, wie die Referentin unter Verweis auf Ergebnisse der empirischen Arbeitsforschung berichtet.

Die geschilderten Geschlechtscharaktere wirkten sich weltweit dahingehend aus, daß Frauen überall in den betrieblichen Hierarchien wie bei den verfügbaren Jobs die niederen Plätze einnehmen müßten. Signifikant ist die meist von Frauen verrichtete Arbeit in der globalen Textilindustrie, die unter krankmachenden und ausbeuterischen Bedingungen fertigen läßt. Mit der 68er-Bewegung sei es zu verstärktem Widerstand gegen schlechte Arbeitsbedingungen gekommen, wie die europaweite Streikwelle von Frauen und MigrantInnen an den taylorisierten Arbeitsbändern in den frühen 1970er Jahren zeige. Sie richteten sich auch gegen den sexualisierten Charakter der Abwertung von Frauen auf den niedrigeren Arbeitsplätzen. Diese Streikwelle trug zur Humanisierung der Arbeitswelt bei, indem eine breite gesellschaftliche Debatte nicht nur über Lohnsteigerungen und Arbeitszeitverkürzungen, sondern auch die konkreten Arbeitsbedingungen von Frauen entfacht wurde.

Dieser Aufbruch war jedoch nicht von Dauer. Den auf der einen Seite erzielten Verbesserungen wie die Einführung von Frauenbeauftragten, eine größere Präsenz von Arbeiterinnen in den Betriebsräten und deren Eintreten für frauenspezifische Verbesserungen stehe eine neue Art der Verwertung als spezifisch weiblich dargestellter Fähigkeiten im Arbeitsprozeß gegenüber. Als hochproblematisch empfindet die Referentin zum Beispiel die Einverleibung des Weiblichen durch sogenannte Emotionsarbeit. Als Beispiele nennt sie die häufig erotisierten Stimmen, die beim Anruf eines Call Centers erklingen können, oder die nach wie vor sexualisierte Produktwerbung. Frauen haben schlank, schön und geschmeidig zu sein. Daß dies auch für Männer gilt, unter denen Eßstörungen dramatisch zunehmen und die verstärkt sogenannte Schönheitschirurgen aufsuchen, macht die Sache nicht besser. Was einst als weiblich in der Privatsphäre verortet wurde, werde nun in die vermarktlichte und konkurrenzialisierte Sphäre der Erwerbsarbeit eingesaugt, ohne daß allerdings eine qualitative Einbindung des Moments der Sorge, der Rücksichtsnahme und der Ethik stattfindet, kritisiert Hürtgen.

Zugleich seien die traditionellen Männerbünde in der Arbeitswelt nicht wirklich aufgebrochen worden, wie das Beispiele des VW-Skandals um sogenannte Lustreisen zu Prostituierten zeige, die gemeinsam von Führungskräften wie Betriebsräten unternommen wurden. Das regelrechte Zelebrieren einer Leitungshierarchie anhand des Ausagierens sexueller Potenz, die sich in gnadenloser Weise auf die Verfügbarkeit des Weiblichen ausrichte und das gewissermaßen in gewerkschaftlicher Funktion tue, sei ihres Erachtens nicht einmal wissenschaftlich aufgearbeitet worden. Auch habe die IG Metall eher in Schockstarre verharrt als den Skandal zum Anlaß zu nehmen, die sexualisierte Gewalt in der Arbeitswelt zum Thema zu machen.

Eine Soziologin aus Dortmund ergänzte, der VW-Skandal illustriere die Entkopplung zwischen der rechtlichen Ebene und der Praxis von Organisationen, von denen sich keiner mehr vorstellen könne, daß es dort heute noch zu krassen sexuellen Übergriffen kommt. Die Kodifizierung dieser Vergehen im strafrechtlichen Sinne habe zwei Seiten: Zum einen werde der Schutz vor sexuellen Übergriffen erhöht, zum andern gelten die Probleme als geregelt. Wenn Frauen dann noch über sexuelle Attacken klagen, laufen sie Gefahr, daß ihnen persönliches Versagen angelastet wird, was nicht mehr das Problem der Unternehmen oder Gewerkschaften sein könne.


Ausstellungsbilder von Tieren mit Publikum - Foto: © 2017 by Schattenblick

Ein Ensemble von Gewaltverhältnissen? Ausstellung "Welt der Wunder" im Gasometer Oberhausen [3]
Foto: © 2017 by Schattenblick


Der Körper des maskulinen Dominanzstrebens

Schließlich kam die Referentin darauf zu sprechen, daß Arbeitshierarchien Machthierarchien im Sinne einer vertikalen Arbeitsteilung der Zuständigkeiten seien. Dort, wo über die innerbetriebliche Personal- und Finanzpolitik entschieden werde, reproduziere sich ein gesellschaftlich-hierarchisches Verhältnis, das als Mann-Frau-Arbeitsteilung mit entsprechenden sozialen und gesellschaftlichen Folgewirkungen manifest werde. Dieses Verhältnis betreffe nicht nur den unterschiedlich hohen Verdienst, sondern trete, wie Erkenntnisse aus der Arbeitsforschung belegten, auch auf ganz körperliche Weise hervor. So berichteten niedriger gestellte Frauen davon, daß sie von Vorgesetzten massiv angebrüllt wurden, was ein paternalistisches Vater-Kind-Verhältnis inmitten nüchterner, sachbezogener Arbeitsbeziehungen etabliere.

Die körperlichen Attribute dieses hierarchischen Verhältnisses seien zudem sexualisiert. Vorgesetzte Männer verlangten von ihnen untergebenen Frauen wie selbstverständlich, ein adrettes Äußeres aufzuweisen und bei Präsentationen als schmückendes Beiwerk zu posieren. Nicht selten erwarteten Männer auch, von ihren Kolleginnen im Sinne einer affektiven Dienstleistung emotional versorgt zu werden. Frauen müßten sich als geduldige Zuhörerinnen bewähren, wenn die Männer mit ihnen Familien- oder gar sexuelle Probleme besprechen wollten, und natürlich würden für bestimmte Förderungen sexuelle Dienste eingefordert.

In Diskussionen über derartige Probleme falle häufig der Satz, daß man Frauen nicht auf ihre Körperlichkeit reduzieren, sondern lieber ihre Arbeitsleistungen würdigen solle. Diese Forderung sei insofern falsch, als keine Arbeit ohne Körperlichkeit stattfindet und das Körperliche in der Zusammenarbeit nicht aus der Arbeitswelt ausgeschlossen werden könne. Die Arbeit sei an Leib und Körper gebunden, das gelte es anzuerkennen. Nicht die Reduktion auf den Körper sei das Problem, so Hürtgen, sondern die Reduktion auf einen sexualisierten, verfügbaren, jungen, attraktiven und niedrigergestellteren Körper. Ihr gehe es nicht darum, das Trennende zu vertiefen, indem die Abgrenzungen noch höher gezogen werden, sondern ihrer Ansicht nach müsse die Frage der Arbeit als solche ganz neu aufgeworfen werden.

Dies betreffe auch die Gewerkschaften, die in die patriarchalen Trennungen des Männlichen und Weiblichen hochgradig verstrickt seien. Das gelte nicht nur für die Zusammensetzung der Geschlechter im Dienstleistungsbereich, sondern vor allem die Orientierung auf einen Arbeitsbegriff, der seinerseits stark rationale, konkurrenzfähige und marktförmige Behauptungsstrategien reflektiere. Als Klassiker bezeichnet die Referentin die gewerkschaftliche Verteidigung des Exportmodells Deutschland zugunsten der Sicherung von Arbeitsplätzen, was sich gegen Belegschaften und Unternehmen in anderen Ländern richtet. Die Selbstwahrnehmung der eigenen Konkurrenzfähigkeit als Merkmal der Stärke deklassiere die Arbeit von Frauen, von Prekären und der ArbeiterInnen anderer Länder. Dabei greife eine paradoxe Lohnlogik Raum, laut der der geringere Verdienst prekärer weiblicher und peripherer Arbeitskräfte etwa aus Griechenland oder Osteuropa Anlaß zu dem Urteil gibt, daß deren Arbeit weniger wert sei. Der Lohn werde auch von gewerkschaftlicher Seite her als Ausdruck eines starken oder weniger starken Arbeitsgehaltes verstanden, was im Loblied auf die Potenz und Konkurrenzfähigkeit deutscher Produkte und Technik wie etwa im Falle der Autos führender deutscher Marken resultiere.

Stefanie Hürtgen plädiert dafür, sich auf den Gewerkschaften ebenfalls eigene Traditionen zu besinnen, die Arbeit als sinnvollen Beitrag für andere zu würdigen wissen. Das werde zwar häufig an Dienstleistungsarbeit wie der Pflege festgemacht, betreffe aber alle konkrete, stoffliche und sinnliche Arbeit, mit der produziert werde, was Menschen zum Leben in seinen stoffwechselgebundenen und verbrauchsgemäßen Formen benötigen. Es bedürfe eines fundamental neuen Verständnisses dessen, was Arbeit, Lohnarbeit, Hausarbeit, private und öffentliche Arbeit bedeute und in welcher Form Gewerkschaften dabei als Interessenvertretung der Lohnabhängigen tätig werden. Aus ihrer Sicht sei wichtig, daß sie bei der erforderlichen Erweiterung des Arbeitsbegriffs nicht an der Verwertungstärke auf den globalen Markt orientiert sind, sondern sich an Mitmenschlichkeit und einer Ethik des Sozialen in der Gesellschaft ausrichten.


Auf dem Podium mit Mikro - Foto: © 2018 by Schattenblick

Anke Stelling
Foto: © 2018 by Schattenblick


Aus der Unsichtbarkeit hervortreten

Die Perspektive kritischer Selbstbefragung, die, wie Hürtgen lobte, auf der Tagung häufig zum Entwurf progressiver Ansatzpunkte beitrug, war auch in der anschließende Lesung Anke Stellings präsent. "Die Stimme verstellen" [4] hatte die Schriftstellerin ihren Text überschrieben. "Wer kriegt die Krise? Was Literatur politisch macht" - hier sollte mit gebotenem Unernst eine ernste Frage gestellt werden. Der Besserwisserei eines Journalisten, der das Politische in der Literatur recht konventionell in der Bearbeitung aktueller gesellschaftlicher Diskurse verortet und seine Interviewpartnerin auch noch im Gestus abfälliger Belehrung auf den Topf einer "Nabelschau als Politikum" setzt, entspricht Stelling ihrerseits mit unüberhörbarer Ironie: "was sonst das Politische in der Literatur sein solle, wenn nicht die Verheißung, endlich zum Subjekt zu werden, die Macht zu übernehmen, die Deutungshoheit innezuhaben!"

Um so naheliegender der Schluß, daß ihr ganz und gar unterschiedliches Verständnis vom Politischen in der Literatur "etwas mit den Klassen- und Geschlechterverhältnissen zu tun hat, zu deren Verschränkung ich hier sprechen soll." Anke Stelling nimmt ihre Position als Frau, die sie von vornherein im Kampf um die Deutungsmacht zurücksetze, zum Anlaß, erst recht "ich" zu sagen und die sich sofort dagegen aufrichtenden Widerstände zur Reibungsfläche der literarischen Auseinandersetzung zu machen. "Der Nabelschauvorwurf ist ein Machtinstrument, dazu da, Subjektivität zu verhindern, Stimmen zu unterdrücken und Hegemonie zu behalten. Er trifft diejenigen, deren Los es zu sein hat, zu dienen und sich selbst zurückzunehmen. Er erinnert sie daran, wer sie sind."

Diese zum Standardrepertoire der Abwehr unbequemer Fragen avancierte Bezichtigung könnte Frauen und andere Objekte patriarchaler Verächtlichkeit auch daran erinnern, daß die erlittene Ohnmacht nicht das Ende, sondern der Beginn des Widerstandes gegen derartige Formen der Herabwürdigung sein kann. Anke Stelling hält den Gladiatoren der Debattenkultur, die sich angeblich gerne streiten, entgegen, daß sie nur Leute kenne, die gerne rechthaben und sich deshalb notgedrungen streiten. Dennoch geht sie dem Streit nicht aus dem Weg, will sie sich doch von den unsichtbaren Einhegungen und paternalistischen Regeln des Metiers, in dem sie tätig ist, befreien.


Anke Stelling mit Mikro - Foto: © 2018 by Schattenblick

Im Infight mit den Bedingungen literarischer Produktion
Foto: © 2018 by Schattenblick

"Die Literatur und das mit ihr verbundene Weltverstehen und Welterklären sind umkämpfte, streng bewachte Sphären." In der Schilderung ihres Werdegangs zur anerkannten, diplomierten und mit Preisen bedachten Schriftstellerin lernt Anke Stelling ein System sozialer Selbstbehauptung und gesellschaftlicher Standesordnung kennen, das alles andere ist als frei im Sinne dessen, als Schreibschülerin "an einem Ort angekommen zu sein, der frei von Standesdünkel und Distinktionsabsichten erst mal offenließ, was Literatur war und wer sie wie und für wen verfassen durfte." Politisch werde Literatur gerade dann, wenn sie offensiv mit den Imperativen fremder Ansprüche und Interessen umgeht, die ihre Konstitution und Verwertung, ihre Definition und Verbreitung betreffen.

Die institutionelle, kommerzielle und wissenschaftliche Verfügungsgewalt über Literatur anzugreifen, so kann man Anke Stellings Text zumindest verstehen, ist unbedingt erforderlich, wenn die Schreibende als Subjekt hervortreten und in einer kapitalistischen, von patriarchaler Herrschaft bestimmten Welt souverän agieren will: "Entmachtung von Literaturpäpsten, Enteignung von Verlagskonzernen, Abschaffung von Genres, Kanons, Buchpreisen und dem Preis für Bücher, keine Kunst mehr als Ware, sondern ästhetische Erfahrung als Grundrecht. Kurzum: grundlegende Wandlung der Gesellschaft, Abschaffung des Kapitalismus, Geburt des neuen Menschen, und das alles braucht es ja sowieso."

Das Unabgegoltene und scheinbar Unmögliche der sozialen Revolution in Gebrauch zu nehmen steht auch und gerade dann auf der Tagesordnung, wenn alles dagegen spricht, weil alles dafür spricht. Anke Stellings erfrischende Unbescheidenheit verlieh dieser Literaturtagung den besonderen Esprit, den Grenzüberschreitungen immer verströmen, wenn sie nicht im Kalkül auf die Rückkehr ins Vertraute erfolgen, um die Meriten notwendiger Beschwichtigung einzusammeln, die schon am Horizont aufschienen, bevor der Sprung ins daher gar nicht so Unbekannte gewagt wurde. Kurzum, der Infight mit den Fesseln eigener Beteiligung an den zu überwindenden Zumutungen und Aggressionen ist zweifellos ein essentielles Thema literarischer Weltbemächtigung.


Blick vorbei am Gasometer auf urbane Landschaft - Fotos: © 2017 by Schattenblick Blick vorbei am Gasometer auf urbane Landschaft - Fotos: © 2017 by Schattenblick Blick vorbei am Gasometer auf urbane Landschaft - Fotos: © 2017 by Schattenblick

Industriepanorama am Gasometer Oberhausen
Fotos: © 2017 by Schattenblick


Fußnoten:


[1] aus: "Blätter" 12/2013, Seite 29-31
https://www.blaetter.de/archiv/jahrgaenge/2013/dezember/neoliberalismus-und-feminismus-eine-gefaehrliche-liaison

[2] BERICHT/078: Linke Buchtage Berlin - der gleiche Kampf noch immer ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbrb0078.html

[3] BERICHT/043: Innensicht und Außensicht - Deutungsdilemma Naturbetrachtung ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/bildkult/report/bkrb0043.html

[4] https://www.jungewelt.de/artikel/334294.die-stimme-verstellen.html


Berichte und Interviews zum Symposium "Richtige Literatur im Falschen 2018" im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → DIE BRILLE → REPORT

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20. August 2018


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