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BERICHT/093: Messe links - vergessene Opfer ... (SB)


Niemand saß zu Recht im KZ, auch Menschen mit dem schwarzen und dem grünen Winkel nicht.
Aus der Petition an den Deutschen Bundestag [1]


Zwischen 1933 und 1945 wurden mehrere zehntausend Menschen durch Kriminalpolizei oder GeStaPo in die Konzentrationslager eingewiesen, die bis heute nicht als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt sind. Neben Menschen, die als "Asoziale" diskriminiert und der Vernichtung zugeführt wurden, waren dies sogenannte "BerufsverbrecherInnen", die durch frühere Haftstrafen einen inneren Drang zu kriminellen Taten unter Beweis gestellt hätten und nicht resozialisierbar seien. Sie wurden nach Verbüßung ihrer Strafhaft gegriffen und ohne weiteres Strafverfahren in die KZs gebracht, wo sie den grünen Winkel tragen mußten. Dies galt auch für die "Sicherungsverwahrten", eine Personengruppe, gegen die Gerichte auf Grundlage des Ende 1933 eingeführten "Gewohnheitsverbrechergesetzes" eine dauerhafte Verwahrung in Haftanstalten angeordnet hatten. Ab Ende 1942 wurden Tausende "Sicherungsverwahrte" aus den Justizanstalten zur "Vernichtung durch Arbeit" in die Konzentrationslager überstellt, wo diese Gruppe eine enorm hohe Todesrate aufwies.

Daß die Häftlinge mit dem grünen oder schwarzen Winkel im öffentlichen Bewußtsein nicht als Opfer des Nationalsozialismus präsent sind, ist auf ihren durchgängig niedrigen sozialen Status zurückzuführen. Das galt lange vor dem NS-Staat, der dann jedoch die Verfolgung dieser Menschen bis hin zu ihrer Vernichtung massiv verschärfte. Es griff in der inneren Hierarchie der Konzentrationslager mit ihrem System der "Funktionshäftlinge" und der Differenzierung in unterschiedliche Gruppen. Und es wirkte nach 1945 nahezu ungebrochen im administrativen Umgang wie in der vorherrschenden Auffassung weiter, daß man dem "Führer" immerhin zugute halten müsse, daß er die Straßen sicher gemacht und die Gesellschaft von "Arbeitsscheuen" und "Verbrechern" gesäubert habe.

Wenngleich der Begriff des "Untermenschen" nach dem NS-Staat delegitimiert war und tubuisiert wurde, wirkte er doch in diversen Maskierungen zumindest tendentiell in der ungebrochenen Klassifizierung von Menschen bis heute fort. In der forcierten Konkurrenz der Klassengesellschaft feiert das verwertungsgetriebene, identitäre und sozialrassistische Zwangsregime Urständ, per aufoktroyiertem Druck und jederzeit mobilisierbarer Teilhaberschaft die Ausgrenzung als unbrauchbar, nicht zugehörig und delinquent bezichtigter Menschen und Kollektive zu betreiben.

Daß die Betroffenen mit dem grünen oder dem schwarzen Winkel unter diesem Umständen die diskriminierenden Zuschreibungen häufig verinnerlicht, so gut wie keine Lebenserinnerungen verfaßt und oft selbst in den Familien geschwiegen haben, verwundert nicht. Die beiden Opfergruppen haben sich bis heute nicht assoziiert, keine Interessengruppen gebildet, keine Forderungen gestellt. Die wissenschaftliche Forschung hat sie jahrzehntelang ausgeblendet. Erst in den letzten Jahren wurden einige wichtige Forschungsarbeiten vorgelegt, die ein Ende des Verschweigens anmahnen, diese Opfergruppen der Vergessenheit zu entreißen trachten und sich für ihre Anerkennung einsetzen.


Bei der Buchvorstellung mit Laptop am Tisch - Foto: © 2018 by Schattenblick

Sylvia Köchl
Foto: © 2018 by Schattenblick


"Das Bedürfnis nach gerechter Sühne"

Im Rahmen der 23. Linken Literaturmesse in Nürnberg stellte die Politikwissenschaftlerin und Journalistin Sylvia Köchl aus Wien ihr Buch "Das Bedürfnis nach gerechter Sühne. Wege von 'Berufsverbrecherinnen' in das Konzentrationslager Ravensbrück" vor, das im Mandelbaum Verlag erschienen ist [2]. Sie ist Aktivistin in der "Österreichischen Lagergemeinschaft Ravensbrück und FreundInnen" sowie in diversen weiteren antifaschistischen und feministischen Zusammenhängen engagiert.

Wie die Autorin ausführte, träumten die Nazis von einer verbrechensfreien Gesellschaft. Um diesen Traum Wirklichkeit werden zu lassen, versuchten sie in den Kernländern des nationalsozialistischen Regimes im Deutschen Reich, also Deutschland und Österreich, eine Volksgemeinschaft ohne Verbrecher herzustellen. Dabei konnten sie auf längst etablierte Ansätze und Diskurse rechtsextremer Kriminalisten zurückgreifen, die sie mehr oder weniger eins zu eins umsetzten. Das Konzept nannte sich "vorbeugende Verbrechensbekämpfung" und lief darauf hinaus, Verbrechen zu bekämpfen, bevor sie überhaupt geschahen. Zu diesem Zweck wurden bestimmte vorbestrafte Menschen als "BerufsverbrecherInnen" klassifiziert und mit diversen Methoden an der Ausübung ihres Berufes gehindert. Eine dieser Methoden war die sogenannte Vorbeugungshaft, was nichts anderes bedeutete als die Einweisung in ein KZ durch die Kriminalpolizei.

Das vorliegende Buch ist das erste zu "Berufsverbrecherinnen" im Frauen-KZ Ravensbrück. Dafür hat die Autorin die Lebensgeschichte von acht österreichischen Frauen rekonstruiert, die zum Zeitpunkt des Anschlusses Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938 alle bereits mehrfach vorbestraft waren. Drei der Frauen waren wegen Eigentumsdelikten und fünf wegen illegaler Abtreibungen, die sie an anderen Frauen vorgenommen hatten, vorbestraft. Sie waren gerichtlich belangt worden und hatten diverse Freiheitsstrafen abgesessen. Ab Frühjahr 1938 wurden sie sukzessive Opfer dieser vorbeugenden Verbrechensbekämpfung seitens der Kriminalpolizei und ins Frauen-KZ Ravensbrück deportiert. Von den acht Frauen haben vier überlebt.


Eigentumsdelikte im Fokus der Klassengesellschaft

Im Zuge der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre rückten Eigentumsdelikte immer stärker in den Fokus der Aufmerksamkeit. Daß sie aufgrund von Armut, Arbeitslosigkeit und Ausgrenzung tatsächlich stark angestiegen sind, ist sehr wahrscheinlich, doch war die politische, polizeiliche und wissenschaftliche Reaktion auf die veränderten sozialen Verhältnisse nicht allein der Kriminalstatistik geschuldet. Die Logik jeder kapitalistischen Gesellschaftsordnung, das Eigentum der besitzenden Klassen vor den verarmenden Unterschichten zu schützen, beherrschte bereits in den ersten Republiken Deutschlands und Österreichs das Feld. Sie brach sich um so mehr in der Krise mit ihren verheerenden Elendsfolgen Bahn. Es wurden zunehmend Konzepte entwickelt, wie den Eigentumsdelikten zu begegnen sei, darunter auch fortschrittliche Diskurse um soziale Phänomene von Verarmung und Ausgrenzung von Arbeitslosen aus der Gesellschaft, die zu mehr Kriminalität im allgemeinen führen. Es setzte sich jedoch der starke Strang eines rechtsextremen Diskurses durch, der allein auf polizeiliche Mittel setzte. Kriminalisten behaupteten, es gebe ein Berufsverbrechertum, das als Kern des Problems bekämpft und entfernt werden müsse, so die Referentin.

Kurz nach der Weltwirtschaftskrise kam es in beiden Ländern zur faschistischen Machtübernahme. Die Vorstellung der Nazis von der deutschen Volksgemeinschaft war die einer Säuberung von sämtlichen schädlichen Elementen. Dazu gehörte in erster Linie die rassistische Verfolgung, zu der sich aber auch eine sozialrassistische gesellte. Zu den Feinden der Volksgemeinschaft wurde bereits ab 1933 das Berufsverbrechertum gezählt, und dieser repressive Ansatz griff vor allem in den großen deutschen Städten, wo er mit allen Mitteln durchgesetzt wurde. In einigen Gesetzen und diversen Erlassen wurde festgelegt, wer zu dieser Gruppe gehörte. Das war anfangs dezidiert geregelt: Wer dreimal zu einer Haftstrafe von mehr als sechs Monaten verurteilt worden war, gehörte bereits dazu. Diese Bestimmungen wurden mit den Jahren immer mehr ausgeweitet.

Zumal die KZs zunächst noch im Aufbau waren, bediente sich die Kriminalpolizei anfänglich der Strategie, die härtesten Fälle zur Abschreckung herauszugreifen. Im Zuge das Ausbaus der KZs und einer Verwaltungstrennung eskalierten die Zugriffe. Die Lagerverwaltungen wollten Geld verdienen und forderten die Kripo auf, Razzien durchzuführen und für Nachschub zu sorgen. Die GeStaPo war für die politischen und rassistischen Verhaftungen zuständig, die Kripo für die Roma und Sinti, die "Asozialen" und "GewohnheitsverbrecherInnen". Vor allem mit dem Etikett "asozial" konnten alle, die nicht genau in das Muster des Berufsverbrechertums paßten, genauso kriminalpolizeilich verfolgt und deportiert werden. Die Kriminalpolizei wurde im NS-Staat mit einer großen Machtfülle ausgestattet, die zu einer Produktion von "Berufsverbrechern" führte. Diese Bezeichnung wurde in den KZs übernommen, wo solche Häftlinge den grünen Winkel auf ihrer Kleidung tragen mußten.


Buchcover 'Das Bedürfnis nach gerechter Sühne' - Foto: © 2018 by Schattenblick

Foto: © 2018 by Schattenblick


Petition an den Deutschen Bundestag

Soweit der Autorin bekannt, befassen sich bis heute lediglich fünf WissenschaftlerInnen mit den ehemaligen Grünwinkelhäftlingen. In Deutschland sind dies die Berliner Historikerin Dr. Dagmar Lieske, Dr. Julia Hörath vom Hamburger Institut für Sozialforschung und Prof. Dr. Frank Nonnenmacher vom Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main sowie in Österreich der Wiener Soziologe Andreas Kranebitter von der Gedenkstätte Mauthausen und sie selbst. Diese fünf ExpertInnen haben Anfang des Jahres gemeinsam eine Petition auf change.org online gestellt, die "vergessene opfer" heißt. Dafür haben sie eine lange und prominente Liste von Erstunterzeichnern gewonnen, da sich die Petition an den deutschen Bundestag richtet und fordert, die KZ-Häftlingsgruppe der "BerufsverbrecherInnen" endlich als Opfer des Nationalsozialismus anzuerkennen. Die Kernaussage der Petition lautet: Kein Mensch war zu Recht in einem KZ. So gut wie alle Menschen dieser Gruppe mußten die KZ-Haft nicht als Ersatz für eine vom Gericht verhängte Freiheitsstrafe verbüßen. Sie kamen vielmehr ins KZ, nachdem sie ihre gerichtlichen Strafen abgesessen hatten. Es handelte sich um eine kriminalpolizeiliche, nicht aber um eine gerichtliche Maßnahme, und sie galt unbefristet, in vielen Fällen bis zur Vernichtung durch Hunger, Zwangsarbeit, Krankheit und Lagerstrafen.

Unter den zahlreichen Reaktionen auf die Petition im Netz findet sich oftmals Verwunderung darüber, daß es überhaupt noch KZ-Opfer gibt, die nicht anerkannt sind. Das gilt auch für Österreich, wo es allenfalls über den Umweg eines Fonds, auf dessen Zahlung jedoch kein Rechtsanspruch besteht, zumindest die Möglichkeit gibt, wenigstens einen Antrag einzureichen. Ob aus dieser Häftlingsgruppe heute noch jemand lebt, ist nicht bekannt, indessen wenig wahrscheinlich. Im nächsten Jahr soll auch in Österreich eine Initiative zur Anerkennung gestartet werden, ein Ausschuß des Deutschen Bundestages behandelt die Petition im Dezember.

Wer sich für die Würdigung dieser bislang ignorierten Opfergruppen engagiert, muß mit Widerständen rechnen. Die Referentin berichtete in diesem Zusammenhang über eine Freundin, die sie von der Lagergemeinschaft Ravensbrück her kennt. Diese Enkelin einer ermordeten österreichischen "Asozialen" gehe offensiv mit der Geschichte um, wofür sie immer wieder beleidigt werde und sich viele schlimme Dinge anhören müsse. Vor ein paar Jahren habe sie an der Befreiungsfeier im KZ Mauthausen teilgenommen, wo ein älterer Antifaschist an einem kleinen Stand rote Winkeltücher verkaufte, das Zeichen der politisch Verfolgten. Auf ihre freundliche Frage, ob er auch schwarze Tücher habe, reagierte er aggressiv und fragte empört, wer in aller Welt sich einen schwarzen Winkel umhängen wollte. Sie habe das Tuch mit dem schwarzen Winkel und der Häftlingsnummer ihrer Großmutter schließlich selbst genäht und trage es bei solchen Gelegenheiten.


Spurensuche in einem Minenfeld

Ende April 1945 verbrannte die Lager-SS im KZ Ravensbrück zweieinhalb Wochen lang Aktenberge, doch fertig geworden ist sie nicht. Daß einige Aktenstücke gerettet werden konnten, darunter ein erheblicher Teil der sogenannten Zugangslisten, ist indessen dem Einsatz polnischer Häftlingsfrauen zu verdanken, die diese Unterlagen über längere Zeit aus dem Lager schmuggelten. Neben diesen Unterlagen, die von KZ zu KZ völlig unterschiedlich erhalten blieben, sind die Nachkriegsprozesse gegen die Täter und Täterinnen, die wenigen schriftlichen Unterlagen der verschiedenen Verwaltungsstellen sowie Aussagen von überlebenden Häftlingen die zentrale Quelle, um in Erfahrung zu bringen, was damals tatsächlich geschehen ist, erläuterte die Autorin die gängige wissenschaftliche Herangehensweise.

Um diese Vergangenheit zu erschließen, greift die Forschung auf Selbstzeugnisse, Aufzeichnungen wie Bücher, aufgezeichnete Erzählungen oder Interviews zurück. Selbstzeugnisse sind jedoch von höchstens 40 Prozent der Überlebenden von Ravensbrück bekannt, und darin sind einige Opfergruppen überhaupt nicht vertreten. Von sogenannten asozialen Frauen sind nur ganz wenige Selbstzeugnisse bekannt, von sogenannten Berufsverbrecherinnen kein einziges. Für ihr Buch habe sie letztendlich auch aus Ressourcengründen zunächst auf die Akten diverser Strafgerichte wie auch weitere Dokumente, die beispielsweise in Ravensbrück erhalten geblieben sind, zurückgegriffen, berichtete Köchl. Aufgrund solcher Unterlagen habe sie dann entlang der dokumentierten Vorstrafen die Lebensgeschichten der acht Frauen rekonstruiert. Wenngleich keine Berichte der Grünwinkligen selbst bekannt seien, kämen sie doch in Berichten anderer Häftlinge ständig vor. Deswegen habe sie ein Kapitel über das sogenannte Imageproblem geschrieben, das diese Häftlingsgruppe hat. Es dürfte bereits im KZ aufgrund der Art und Weise entstanden sein, wie die SS die einzelnen Gruppen markiert und diskursiv hergestellt hat. Dies führte zu Realitäten, in denen die Farbe an den Menschen klebt, und die kriegten sie nach 1945 praktisch nicht mehr weg, so die Referentin.

Wohl wissend, daß sie dabei ein Minenfeld betritt, steuerte Sylvia Köchl in ihrem Vortrag behutsam die Frage an, warum die Grünwinkel selbst unter den Überlebenden anderer Opfergruppen schlecht angesehen sind. Vor allem männliche ehemalige Widerstandskämpfer könnten Gefühle von Angst und Ohnmacht nicht so gut zum Ausdruck bringen. So habe sich eine Art des Sprechens durchgesetzt, die eine Abweichung weitgehend ausschließe. Erwähnte jemand etwas Positives über die Grünwinkligen, fügte er sofort hinzu, daß dies eine Ausnahme sei. Am Ende seien stets ähnliche Erzählungen dabei herausgekommen. Das heiße keineswegs, daß diese Erzählungen nicht stimmten, doch hätten sie Lücken und sich über die Jahrzehnte verformt. WiderstandskämpferInnen kamen vergleichsweise spät in die KZs und fanden dort diejenigen vor, die ausreichend Gefängniserfahrung hatten. Sie lernten Menschen aus sozialen Herkünften kennen, mit denen sie vorher nie einen Berührungspunkt hatten. Hinzu kommen kulturelle Unterschiede, die in die Erzählung einfließen, woraus dann negative Bilder entstehen. Zudem hat die SS einen Teil ihrer Überwachungsaufgaben an die sogenannten Funktionshäftlinge delegiert. Immer wieder werde die Behauptung kolportiert, die Grünen hätten alle diese Funktionen innegehabt. Das wird zu jedem KZ erzählt. In dem einen stimmt es mehr, in dem anderen weniger. Diese Geschichte ist nahezu unerforscht, warnte die Referentin vor der unhinterfragten Sichtweise, welche die Grünwinkel per se mit dem Kapo-System gleichsetzt und sie pauschal zu Kollaborateuren der Lagerleitung und Feinden insbesondere der politischen Häftlinge erklärt.


Sylvia Köchl bei der Buchvorstellung - Foto: © 2018 by Schattenblick

Fundierte Forschung, engagierte Parteinahme
Foto: © 2018 by Schattenblick


Abgestempelt, entwürdigt, drangsaliert ohne Ende?

Als "BerufsverbrecherInnen" abgestempelt und ins KZ gesteckt, dort noch einmal ausgesondert zu werden, nach 1945 nicht zu den Opfern zu zählen, weder Anerkennung noch Fürsorgeleistungen zu erhalten - das Schicksal der Grünwinkel ist von einer dauerhaften Entwürdigung und Drangsalierung geprägt. In Deutschland gab es 1946/47 die "Schicksalsgemeinschaft der Vergessenen", so die Selbstbezeichnung einer Gruppe KZ-Überlebender, die aus "Asozialen", "BerufsverbrecherInnen" und Homosexuellen bestand. Ihnen wurden rechtliche Schranken in den Weg gestellt, sie durften nicht einmal einen Verein gründen. In Österreich gibt es bis heute einen Paragraphen, der alle von solchen Fürsorgeleistungen ausschließt, die Vorstrafen in einer bestimmten Höhe haben. Das kann auch andere Opfergruppen betreffen, doch die "BerufsverbrecherInnen" trifft es in jedem Fall.

Ihr Schweigen und die fehlende Selbstorganisation sind nur allzu verständlich. Auch die in den 1970er Jahren einsetzende linke feministische Forschung zur Geschichte der ArbeiterInnenbewegung hat es nicht geschafft, sich mit dieser Opfergruppe zu beschäftigen und sie aufzusuchen. Frank Nonnenmacher ist bei dieser Thematik deshalb eine Ausnahme, weil sein Onkel als "Berufsverbrecher" im KZ war. Daß die neue Frauenbewegung, die sich das Recht auf den eigenen Körper auf ihre Fahnen geschrieben hatte, nicht auf diese Problematik stieß, mutet erstaunlich an. Denn unter den "Berufsverbrecherinnen" befanden sich viele Frauen, die wegen illegaler Abtreibungen vorbestraft waren.

Im Jahr 2015 gründete sich der "Zentralrat der Asozialen in Deutschland" als aktionistische Kunstform. Die Gruppe reiste durch Deutschland und Österreich, um über die Verfolgung der sogenannten Asozialen aufzuklären und Angehörige von Opfern zu ermutigen. Hinzu kommen lokale Gruppen wie jene, die sich um das Mädchen-KZ Uckermark kümmert. Dieser selbstorganisierten Gruppe ist es gelungen, daß seit einigen Jahren Frauen, die als Mädchen über das Fürsorgesystem in dieses KZ kamen, bei der Befreiungsfeier sprechen können. Diese Gruppen sind Bündnispartnerinnen, auf die man auf jeden Fall zählen kann, so die Referentin. Die Petition haben nach und nach alle GenkstättenleiterInnen unterschrieben, diese Häftlingsgruppe wird inzwischen überall erwähnt. Schwierig werde es bei anderen Häftlingsverbänden wie jenem der Roma und Sinti, was mit einer Art von Opferkonkurrenz zusammenhänge, die in der Nachkriegszeit entstanden sei und sich seither auswirke.

Obgleich es logisch wirke, auch die letzten Opfergruppen anzuerkennen, tauchten immer wieder unverhoffte Probleme auf. Es werde langsam nervig, selbst 2018 das Gefühl zu haben, daß offenbar noch mehr Zeit vergehen muß. Wie man heute sagen müsse, ist es höchstwahrscheinlich zu spät. Die meisten Frauen der von der Autorin untersuchten Gruppe waren zwischen 30 und 40 Jahre alt, als sie ins KZ kamen. Daher sind auch die Überlebenden mittlerweile gestorben. Dessen ungeachtet gebe es gute Gründe, sich um diese Geschichte zu kümmern, die Folgen des Schweigens für die Einzelnen und die Gesellschaft zu untersuchen und gemeinsam die Anerkennung als Opfergruppe zu erreichen, schloß Sylvia Köchl ihre Buchvorstellung.


Fußnoten:

[1] www.change.org/p/deutscher-bundestag-anerkennung-von-asozialen-und-berufsverbrechern-als-opfer-des-nationalsozialismus

[2] Sylvia Köchl: Das Bedürfnis nach gerechter Sühne. Wege von "Berufsverbrecherinnen" in das Konzentrationslager Ravensbrück, Mandelbaum Verlag Wien und Berlin 2016, 340 Seiten, 24,90 Euro, ISBN: 978385476-507-3


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12. Dezember 2018


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