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BERICHT/106: 24. Linke Literaturmesse - zur Protestkundgebung gegen den Deutschen Genderkongress ... (SB)


Seit etwa 10 Jahren wird das Geschlechterthema wieder verstärkt thematisch von Rechts besetzt. Strömungsübergreifende Themen sind ein völkisch-konservativer Familienpopulismus, Männlichkeits- und Weiblichkeitsfetische, Schwulen-, Lesben-, Trans*- und Inter*feindlichkeit, Feminismus und 'Political Correctness' als Feindbilder, verbissene Kämpfe gegen Gender Mainstreaming und Abtreibung, eine konservative Sexualmoral sowie Angriffe gegen eine enthierarchisierende Sexualpädagogik, die als 'Umerziehung' diffamiert wird. Diese Thematisierungen stehen in enger Wechselwirkung mit Diskursen im bürgerlichen Mainstream.
Andreas Hechler & Olaf Stuve: Geschlechterreflektierte Pädagogik gegen Rechts [1]


Der vor allem in der Neuen Rechten grassierende Antifeminismus ist ein wesentliches Element des breit orchestrierten Rollbacks, mit dem die Errungenschaften linker Bewegungen zunichte gemacht werden sollen. Der Aufbruch der radikalen Linken in den westlichen Metropolengesellschaften ist zwar zeitgeschichtlich in die Jahre gekommen, doch die zu bewältigenden Machtverhältnisse haben sich qualifiziert, so daß der dagegen gerichtete Kampf heute anders geführt wird, aber nicht leichter geworden ist. Wer vor einem halben Jahrhundert gegen die antikommunistische Blockbildung, die Gefahr faschistischer Restauration und die kriegerische wie diktatorische Unterdrückung antikolonialistischer Befreiungsbewegungen protestierte, verlor die eigenen Unterdrückungsverhältnisse leicht aus dem Blick. Die Befreiung der Frauen von patriarchaler Herrschaft mußte auch innerhalb linker Zusammenhänge erst erkämpft werden und wurde in Sicht auf die Totalität imperialistischer Gewalt häufig zu einem Nebenwiderspruch erklärt.

Die Erkenntnis, wie sehr die herrschenden Gewaltverhältnisse miteinander verwoben sind, ließ lange auf sich warten und führte erst im neuen Jahrhundert dazu, Kapitalismus, Rassismus, Sexismus und andere Unterdrückungsformen zusammenzudenken. Feministische Aktivistinnen haben dadurch, daß sie die Abschaffung männlicher Dominanz in linken Strukturen in die eigenen Hände nahmen, wesentlichen Anteil daran, daß Herrschaftsverhältnisse heute nicht mehr exklusiv, sondern zumindest tendentiell intersektionell gedacht werden. Der hegemonialen Wirkmächtigkeit kapitalistischer und patriarchaler Strukturen wurden ganz andere Lebensentwürfe entgegengestellt, zu deren befreiender Wirkung die Erkenntnis der Bedingtheit geschlechtlicher Sozialisation und die Aufkündigung des binären Geschlechterkonstruktes wesentlich beigetragen haben.

Nicht fremdbestimmt leben zu wollen, heißt eben auch, keiner wie auch immer gearteten Erwartung oder Vorstellung, die andere Menschen an das persönliche Sein richten, entsprechen zu müssen. Durch die Überwindung natürlich konstruierter Festlegungen und ihre Aufhebung in weder weiblich noch männlich definierten Identitäten sind Freiräume und Lebensmöglichkeiten für Menschen entstanden, deren schwule, lesbische und bisexuelle Orientierung wie trans- und intergeschlechtliche Identität zuvor verborgen werden mußte, um Angriffen psychischer wie physischer Art als auch konkreten Benachteiligungen in Beruf und Sozialstatus zu entgehen. Diese Fortschritte mußten nicht minder erkämpft werden, als es im Fall einer offiziell etablierten Gleichstellungspolitik der Fall ist, die den strukturellen Anlaß patriarchaler Herrschaft nicht beseitigt, aber sichtbarer und angreifbarer als zuvor gemacht hat.

Frauen wie LGBTIQ-Menschen erleiden bis heute verschiedene Formen der Benachteiligung und Unterdrückung, wobei nicht zu vergessen ist, daß die offizielle Anerkennung des Anspruches auf eine diskriminierungsfreie Existenz nicht heteronormativ lebender Menschen meist das Privileg westlicher liberaler Gesellschaften ist. Im weltweiten Vergleich stehen Frauen und nicht heterosexuell lebende Minderheiten nach wie vor unter dem Verdikt patriarchaler Herrschaft, was schwerwiegende Folgen bis zu Freiheitsentzug, Hinrichtung und Ermordung haben kann. Homo-, Trans- und Inter-Phobie [2] als auch Femizid [3] haben in osteuropäischen Ländern wie Rußland oder lateinamerikanischen Staaten wie Brasilien und Argentinien das Ausmaß sozialer Epidemien angenommen, was leicht vergessen wird, wenn die noch sehr jungen Fortschritte in der Liberalisierung der Geschlechterverhältnisse in der Bundesrepublik gefeiert werden.

Daß die Aufbrüche zu geschlechtlicher Vielfalt und diversen Lebenswirklichkeiten dennoch nicht rundheraus begrüßt werden, hat viel zu tun mit dem Bestehen auf Ordnungsvorstellungen und Eigentumsansprüchen, die im Konzept der heterosexuellen Ehe und bürgerlichen Kleinfamilie als Kernform sozialer Reproduktion ihr Gravitationszentrum haben. Angegriffen mit der Auflösung dieser Form wird nicht nur das seit Jahrtausenden tradierte Prinzip maskuliner Dominanz, sondern auch die Funktionsfähigkeit des kapitalistischen Staates, die mit der Kontrolle über die biologische Reproduktionsfähigkeit steht und fällt, wie auch die anwachsende Bezugnahme auf demographische und bevölkerungspolitische Konzepte belegt.

Der Zugriff auf den weiblichen Körper, manifest zum Beispiel im bis heute aufrechterhaltenen Abtreibungsverbot, dient der Erzeugung des Nachwuchses für Krieg und Fabrik, der wie selbstverständlich verlangten Erbringung kostenloser Arbeit zu seiner Aufzucht, dem Erhalt häufig männlicher Arbeitskraft wie der Pflege kranker und alter Familienmitglieder. Heute, da sich die Grenzen kapitalistischer Verwertungsmöglichkeiten immer schwieriger ausdehnen lassen, ist die meist von Frauen unentgeltlich verrichtete Arbeit zur sozialen Reproduktion unverzichtbarer denn je. Auch deshalb bleibt die Adaption geschlechtlicher Gleichstellung durch den neoliberalen Kapitalismus meist auf die hochproduktiven Industriegesellschaften beschränkt, bringt zusehends prekäre Arbeitsverhältnisse hervor und geht mit verschärften Klassenwidersprüchen einher.

Je weiter die Auflösung dieses gesellschaftlichen Funktionsensembles durch feministische und queere Bewegungen voranschreitet, desto aggressiver wird der Bestand weißer und männlicher Herrschaft von kulturkonservativen, christlich-fundamentalistischen und nationalchauvinistischen Kräften verteidigt. Ein Ergebnis dieser Auseinandersetzung ist die sogenannte Männerrechtsbewegung, die feministische Forderungen weitreichend mit dem Argument ablehnt, daß Männer die wahren Opfer der Frauenemanzipation seien. Ob diese Einstellung auf negative Erfahrungen in gerichtlich ausgetragenen Sorgerechtsfällen oder vermeintlich zu Unrecht sanktionierte sexuelle Übergriffe zurückgeht oder in dem Vorwurf gipfelt, feministische und queere Bewegungen schüfen durch die Aufhebung der binären Geschlechterordnung und abtreibungsbedingt geringere Geburtenraten sowie die Verweichlichung männlicher Kinder und Jugendlicher durch sogenannte Frühsexualisierung den angeblich geplanten Bevölkerungsaustausch zu Lasten Herkunftsdeutscher und schwächten die Kriegsbereitschaft Deutschlands, unterscheidet sich lediglich im Ausmaß ideologischer Verallgemeinerung.


Protestkundgebung gegen den Deutschen Genderkongress, Bildunterschrift Zitat aus  Rede auf der Protestkundgebung - Foto: © 2019 by Schattenblick

"Wir fordern einen wahren Feminismus und eine echte Emanzipation aller Menschen unabhängig von Geschlecht, Nationalität oder Herkunft"
Foto: © 2019 by Schattenblick


Laut werden gegen patriarchalen Betroffenheitskult

Der zum vierten Mal in Nürnberg abgehaltene Deutsche Genderkongress distanziert sich zwar auf seiner Webseite "von rechts- und linksradikalem Gedankengut", doch bieten die dort präsentierten Thesen und genannten Verbände Anlaß genug, ihn zumindest im Dunstkreis der Männerrechtsbewegung anzusiedeln. An die Stelle des ersten Eindrucks, hier ginge es nicht anders als bei den Agenturen staatlicher Gleichstellungspolitik um prinzipielle Chancengleichheit für alle, tritt schon bei flüchtigem Lesen des dort vorhandenen Materials die Gewißheit, daß es sich um ein Treffen handelt, bei dem Männer sich zu Opfern von Frauen stilisieren.

Unter dem Motto "Antifeminismus für Chancengleichheit? Den Deutschen Genderkongress plattmachen!" rief ein Bündnis feministischer und queerer AktivistInnen zu einer Protestkundgebung am Samstag, den 2. November, in der Nürnberger Altstadt auf. Mobilisiert für diesen Protest wurde auch am Vorabend auf der Linken Literaturmesse, wo eine gut besuchte Auftaktveranstaltung stattfand. Dennoch fanden nur wenige, wenn überhaupt, BesucherInnen der Messe ihren Weg in die Altstadt, um an der Kundgebung teilzunehmen. Womöglich wird die Bedeutung dieser Front im Kampf gegen die rechtsradikale Restauration nicht wirklich ernst genommen, obwohl die Verteidigung des Patriarchates zu den essentiellen ideologischen Grundsätzen der Neuen Rechten weltweit gehört, so auch im Fall der AfD.

Wenn Björn Höcke darüber klagt, Deutschland habe "seine Männlichkeit verloren", dann legt seine Partei mit einen Frauenanteil von etwa 20 Prozent Zeugnis ab für den faschistischen Tenor eines Programmes, durch die sich die Angriffe auf die "Gender-Ideologie" und die Infragestellung traditioneller, vermeintlich naturgegebener Geschlechterrollen wie ein roter Faden ziehen. Fest im männerbündischen Umfeld studentischer Burschenschaften verankert wirbt die AfD mit einem Verständnis von Frauenrechten um Zustimmung, das seinen Fokus in der Unterstellung findet, die zentrale Gefahr für Frauen gehe von muslimischen Männern aus, die Vergewaltiger aus Veranlagung seien, während der deutsche Mann so etwas nicht tut, es sei denn in den eigenen vier Wänden, und darüber redet man schließlich nicht.

Da der Deutsche Genderkongress beispielsweise das Aktionsbündnis Demo für alle, auf dessen Umzügen christliche AbtreibungsgegnerInnen als auch Personen aus neurechten Bewegungen vertreten sind, oder die Webseite Wikimannia zählt, deren ressentimentgeladene Beiträge keinen Zweifel an ihrer antifeministischen und rechtslastigen Ausrichtung aufkommen lassen, als Partnerorganisationen aufführt, muß über seine dominante politische Ausrichtung nicht lange spekuliert werden. Sich darüber Gedanken zu machen ist angesichts dessen, was auf der Protestkundgebung an Thesen aus dem Selbstverständnis der VeranstalterInnen des Kongresses zitiert wurde, ohnehin müßig.


Transparent mit Zitat des Genderkongresses 'Die Unterdrückung der Frau durch den Mann ist ein Mythos', Bildunterschrift Zitat aus Rede auf der Protestkundgebung - Foto: © 2019 by Schattenblick

"Wir sind als weiblich gelesene Personen einer permanenten Bedrohung ausgesetzt. Unsere Körper werden als Ware betrachtet, die es zu benoten und zu beurteilen gilt. Wir unterliegen vermeintlichen Schönheitsidealen, welche in vielen Fällen krankmachend sind. Wir werden als sexuell verfügbar gesehen und müssen uns permanent auf der Hut befinden, um möglichen Grenzüberschreitungen zu entgehen. Und wenn die Ergänzung eines Paragraphen ein kleines Stück dazu beiträgt, unsere persönlichen Grenzen weniger angreifbar zu machen, dann ist ja wohl kaum von einer Senkung der Messlatte zu sprechen."
Foto: © 2019 by Schattenblick


Geschlechtliche Gewaltverhältnisse auf den Kopf gestellt

Vieles von dem, was auf der Seite des Deutschen Genderkongresses als Männern angetanes Unrecht angeprangert wird, geht von einer prinzipiellen Gleichbehandlung aus, die für Frauen allerdings niemals eingelöst wurde. Wenn vor dem Hintergrund einer ahistorischen, patriarchale Dominanz ignorierenden Haltung behauptet wird, daß "primär Männer, Väter und Jungen massive Benachteiligungen in Deutschland" erlitten, dann werden mehrheitlich anzutreffende Gewaltverhältnisse regelrecht auf den Kopf gestellt. So auch im Falle der Klage, daß Männer bei der strafrechtlichen Verfolgung sexueller Belästigung immer stärker benachteiligt würden, während die "sexuelle Belästigung durch Frauen sowohl von der Gesellschaft als auch von der Justiz weitgehend ignoriert" [4] werde.

Damit gemeint sein soll laut den Redebeiträgen auf der Protestkundgebung die Änderung des Sexualstrafrechtes 2016. Er wurde durch einen sogenannten Nein-heißt-Nein-Paragraphen ergänzt, der alle Grenzüberschreitungen unter Strafe stellt, die sich über den erkennbaren Willen der Betroffenen hinwegsetzen. Was die feministische Bewegung in jahrzehntelangen Kämpfen erstritten hat, ist nicht das willkürliche Senken einer strafrechtlichen Meßlatte zu Lasten von Männern, sondern das Einziehen einer definierten Grenze gegen sexuelle Gewalt. Wenn jemand Nein artikuliert, dann ist das unverhandelbar und vor allem nicht im Nachhinein als versteckte Aufforderung zu deuten, sich darüber hinwegzusetzen.

Der demgemäßen These, Männer seien "weitaus häufiger Opfer von Gewalt als Frauen. Dennoch heißt es ständig nur 'Gewalt gegen Frauen beenden'" [5], hielten die Aktivistinnen entgegen, daß sie Gewalt gegen Menschen generell verurteilen. Gewalt gegen Frauen allerdings sei strukturell bedingt und resultiere aus einer Jahrtausende andauernden Unterdrückung. Daß dem auch heute noch so ist, wurde mit Zahlen der polizeilichen Kriminalstatistik 2017 belegt, laut der 82,1 Prozent der Opfer von Gewalt weiblich und 17,9 Prozent der Opfer von Gewalt männlich sind. 2017 wurden in der Bundesrepublik 364 Frauen Opfer von Mord oder Totschlag, davon 144 Frauen, die nach einem Angriff des Partners gestorben sind. Partnerschaftliche Gewalt in Deutschland sei in allen sozialen Verhältnissen und allen ethnischen Gruppen präsent, wobei die Täter in drei von vier Fällen Männer seien. Jede 4. Frau erlebe in ihrem Leben mindestens einmal sexuelle oder körperliche Gewalt, und zwar über niedrigschwellige Aggressionen wie Schubsen und Anschreien hinausgehende Formen von Übergriffen, so die Aktivistinnen.

Einen bezeichnenden Einblick in geschlechterkonnotierte gesellschaftliche Gewaltverhältnisse bot auch die 3. Ausgabe des Magazins Kreatur des TV-Kanals Arte, das dem Thema Frauen und Justiz gewidmet war [6]. Laut den dort angegebenen Zahlen sitzen weltweit 700.000 Frauen im Knast. Sie machen durchschnittlich 4,4 Prozent der gesamten Gefangenenbevölkerung aus und wurden zu 80 Prozent wegen Eigentumsdelikten oder Drogenhandels verurteilt, was nicht für eine ausgeprägte Gewaltneigung spricht. Ihr Rückfallrisiko ist nur halb so groß wie das von Männern, und sie erleiden häufig härtere Haftbedingungen, weil der Mangel an Frauenabteilungen dazu führen kann, daß sie ihre Haftstrafe in großer Entfernung von Familie und Freunden absitzen müssen.

In der angeblich so geschlechtergerechten Bundesrepublik gibt es bei einem Frauenanteil von 5,8 Prozent der Gefangenenbevölkerung und damit über 3000 inhaftierten Frauen nur in 13 Justizvollzuganstalten Mutter-Kind-Abteilungen, insgesamt gerade einmal 100 Plätze. Aus diesem Grund und weil einige Bundesländer überhaupt keine derartigen Vorkehrungen getroffen haben werden Frauen immer wieder bei Haftantritt von ihren Kindern im Säuglingsalter getrennt. Offiziell sollen Kinder im geschlossenen Vollzug bis zum Alter von 3 Jahren bei ihrer Mutter bleiben können, im offenen Vollzug bis zum Alter von 6 Jahren.

Zur sexuellen Gewalt gegen Frauen wurde in dem Arte-Magazin erklärt, daß diese zu 97 Prozent von Männern ausgehe und sich lediglich 10 Prozent der weiblichen Gewaltopfer dazu überwänden, die Tat zur Anzeige zu bringen. Dafür gebe es verschiedene Gründe wie die Angst vor Stigmatisierung als Vergewaltigungsopfer oder die erlittene Traumatisierung. Anzunehmen ist auch, daß das Vertrauen in die Staatsgewalt in Anbetracht der negativen Rolle, die Frauen in Vergewaltigungsprozessen immer wieder zugeschanzt wird, nicht gerade ausgeprägt ist. Andere Gründe für das Ausbleiben der Sanktionierung von Nötigung und Vergewaltigung resultieren aus der sozialökonomischen Benachteiligung vieler Frauen und den sich daraus ergebenden Abhängigkeitsverhältnissen. Besonders drastisch ist dies bei wohnungs- und obdachlosen Frauen. Während sie auf der Straße Gefahr laufen, zum Freiwild von Männern zu werden, müssen sie bei Angeboten zur kostenlosen Unterbringung damit rechnen, daß ihnen sexuelle Gefälligkeiten als Gegenleistung abverlangt werden.


Protestkundgebung gegen den Deutschen Genderkongress, Bildunterschrift Zitat aus Rede auf der Protestkundgebung - Foto: © 2019 by Schattenblick

"Wir freuen uns auf eine Zukunft, in der alle Realitäten und Geschlechter sowie Nichtgeschlechter Platz haben. Life is queer, my dear."
Foto: © 2019 by Schattenblick


Befreiung universal oder gar nicht

Die auf dem Deutschen Genderkongress verbreiteten Thesen könnten auch die Frage aufwerfen, wieso sich mensch überhaupt mit Behauptungen befassen sollte, die kaum anders denn als jenseits aller gesellschaftlichen Realität gelegen verstanden werden können. Zu den abstrus wirkenden Thesen, mit denen herrschende Gewaltverhältnisse in ihr Gegenteil verkehrt werden, tragen sicherlich auch die zahlreichen Zwänge und Probleme bei, denen kapitalistisch vergesellschaftete Marktsubjekte ausgesetzt sind und die sie nach einfachen Lösungen suchen lassen. Angesichts des weltweit erfolgenden Rückgriffes auf vermeintlich unveränderbare Gewißheiten von Staat und Nation, von Familie und Geschlecht ist immer weniger davon auszugehen, daß gesellschaftlichen Widrigkeiten auf rationale und zweckmäßige, die eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten erweiternde Weise entgegengetreten wird. Emanzipatorische und sozialrevolutionäre Anliegen hatten es immer schwer, nur geht der patriarchale Rollback heute mit einem fortschreitenden Vergessen bereits geführter Kämpfe und erlangter Erkenntnisse einher, so daß nicht nur gegen den Status quo, sondern auch seine regressive Zementierung angegangen werden muß.

Antifeminismus zur tragenden Säule rechtsradikaler Ideologie zu erheben, weil sich Frauen damit wieder auf den Status persönlichen Eigentums reduzieren lassen und das Hochgefühl chauvinistischer und rassistischer Suprematie von ganz anderer Seite her erlittene Demütigungen vergessen macht, liegt durchaus in der Logik beleidigter Männlichkeit. Sich ins kleinfamiliäre Korsett klar sortierter hierarchischer Geschlechterrollen einzufügen wird nicht einmal von allen dadurch benachteiligten Menschen abgelehnt. Die Bereitschaft zur Unterwerfung unter autoritäre Lebensverhältnisse und die Akzeptanz irrationaler Doktrine ist bis weit ins bürgerliche, keinesfalls bildungsferne Lager anzutreffen. Das nicht zuletzt deshalb, weil die Orientierung auf tradierte Gewißheiten und Geschlechterstereotypien, der Glaube an eine genetisch bedingte Natürlichkeit der Partnerwahl und des daraus resultierenden Nachwuchses oder die Favorisierung eugenischer Bevölkerungskonzepte aufs engste mit der sozialdarwinistischen Matrix der neoliberalen Konkurrenzgesellschaft und der soziobiologischen Deutungsmacht sogenannter Life Sciences korrespondieren.

Zu begreifen, daß die Überwindung der hierarchischen Geschlechterordnung und die Befreiung von der binären Geschlechterdoktrin keinesfalls nur benachteiligte Frauen und in ihrer Selbstbestimmung eingeschränkte LGBTIQ-Menschen betrifft, sondern ein elementarer Bestandteil der universalen Verwirklichung des Endes von Ausbeutung und Unterdrückung sind, setzt den Bruch mit Glaubenssätzen und Lebensverhältnissen voraus, durch den eigentlich schon aufgehoben ist, was es zu bewältigen gilt. Die Freiheit persönlicher Autonomie kann nur gelingen in kollektiver Bemühung, so widersprüchlich dies unter den Bedingungen maximaler Individualisierung erscheinen mag. Sich solidarisch zeigen mit von Gewalt betroffenen Menschen ist vom feministischen Anliegen nicht zu trennen. Von daher kann es nicht verwechselt werden mit dem Anspruch auf das Erobern der Kommandohöhen einer patriarchalen Gesellschaft, sondern läuft auf deren Einebnung hinaus - auf dem Aufruf zum Protest gegen den Deutschen Genderkongress sinnvollerweise symbolisiert durch das Bild einer Dampfwalze.


Transparent 'Antifeminismus wegstreiken' an Brückengeländer - Foto: © 2019 by Schattenblick

Foto: © 2019 by Schattenblick


Fußnoten:


[1] Vortrag am 9. Oktober 2015 in Berlin
https://gerenep.dissens.de/fileadmin/gerenep/redakteure/mp3/hechler-stuve-geschlechterreflektierte-paedagogik-gegen-rechts-vortrag-9-10-2015.pdf

[2] http://schattenblick.de/infopool/politik/kommen/sele1036.html

[3] http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/report/brrb0124.html

[4] https://www.genderkongress.org/ziel/

[5] a.a.O

[6] https://www.arte.tv/de/videos/084820-001-A/kreatur-3/


17. November 2019


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