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INTERVIEW/010: Linksliteraten - Schienenband in Bürgerhand ...    Dr. Winfried Wolf im Gespräch (SB)


19. Linke Literaturmesse Nürnberg

Winfried Wolf über eine Bahnreform, die nicht an Bahninteressen ausgerichtet ist, und den Versuch von Politik und Wirtschaft, der kleinen, streitbaren Lokführergewerkschaft GDL Zaumzeug anzulegen



Am 2. Dezember 1993 hat der Bundestag eine Bahnreform verabschiedet, deren zweifelhafter Erfolg darin besteht, daß Bahnfahren für viele Menschen unattraktiver geworden ist. Hohe Fahrpreise, systematische Unpünktlichkeit, witterungsbedingte Ausfälle, Strecken- und Bahnhofsstillegungen auf der einen Seite - Umbau der Deutschen Bahn zu einer profitorientierten Aktiengesellschaft, steigende Managergehälter, Expansion auf ausländischen Märkten und Ausbau von risikoreichen Hochgeschwindigkeitsstrecken auf der anderen Seite.

Für die Verkehrsexperten Winfried Wolf und Bernhard Knierim Anlaß genug, ein kritisches Resümee zu ziehen und mit Bitte umsteigen - 20 Jahre Bahnreform (Schmetterling Verlag, 2014) ein fundiertes Buch zu diesem Thema vorzulegen. Die drei Hauptziele der Bahnreform - mehr Verkehr auf die Schiene bringen, weniger Steuergelder in die Bahn stecken und Umbau der "Beamtenbahn" zu einem kundenfreundlichen Unternehmen - wurden verfehlt, wie Wolf bei der Vorstellung des Buchs auf der 19. Linken Literaturmesse, die vom 31. Oktober bis 2. November 2014 in Nürnberg stattfand, berichtete.

Der ehemalige Bundestagsabgeordnete und verkehrspolitische Sprecher der Partei Die Linke erklärte, daß der Schienenverkehr immer mehr an Bedeutung verloren hat. Lag der Anteil der Bahn am Verkehrsaufkommen 1950 noch bei 40 Prozent, so sank er 1960 auf 20 und 1970 auf 14 Prozent. 1990 hatte die Bahn nur noch einen Anteil von 7 Prozent am gesamten Personenverkehr. Beim Güterverkehr fällt der Rückgang sogar noch krasser aus.

Hatte es früher bei der Bahnwerbung geheißen, "alle reden vom Wetter - wir nicht", so sind heute das Hauptproblem der Bahn "die vier Jahreszeiten: Frühling, Sommer, Herbst und Winter", witzelte Wolf mit einer gehörigen Portion Sarkasmus. Es sei immer das gleiche, stets gebe es irgendwelche Ausreden für Verspätungen und Ausfälle: Zuviel Laub auf der Schiene, Weichen eingefroren, Ausfall der Zugklimaanlage oder verbogene Schienen wegen der Hitze. Darüber hinaus würden auch die Bahnhöfe massenhaft "kaputtgemacht", denn von früher 7000 Bahnhöfen gebe es heute noch ungefähr 1500. Viele Gebäude würden vergammeln oder an Investoren in den USA oder England verkauft, dann wieder rückgekauft von den Gemeinden, und so weiter. So eine Praxis sei heute gang und gäbe.

Da die Bahnhöfe oftmals in zentralen Innenstadtlagen mit hohen Grundstückspreisen angesiedelt sind, will die Deutsche Bahn AG im Rahmen der deutschlandweiten Initiative "Bahnhof 21" mit höchst umstrittenen Teilprojekten wie "Stuttgart 21", bei denen die Anzahl der Gleise reduziert und der Kopfbahnhof in einen tiefergelegten Durchgangsbahnhof umgewandelt werden soll, lediglich Immobiliengeschäfte tätigen. Die Gegner von "Stuttgart 21" haben längst nachgewiesen, daß durch die geplanten Maßnahmen der Bahnverkehr nicht verbessert, sondern im Gegenteil erheblich verschlechtert würde. Winfried Wolf glaubt nicht, daß "Stuttgart 21" jemals fertiggestellt wird, weil die technischen Schwierigkeiten zu beträchtlich sind, vor allem aber weil sich eine große Zahl von Personen in die verschiedenen Aspekte des Bauvorhabens so weit eingearbeitet hat, daß sie in vielen Dateilfragen Klagen einreichen und die Fertigstellung verhindern werden.

Luftbildaufnahme Lindaus mit dem Hauptbahnhof auf der Insel südlich des Zentrums und dem Bahnhof Reutin nordöstlich davon auf dem Festland - Foto: Böhringer, freigegeben als CC BY-SA 2.5 [http://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.5] via Wikimedia Commons

"Lindau 21" - attraktive Lage des Kopfbahnhofs in der Bodenseestadt Lindau. Der langjährige, bis heute nicht abgeschlossene Streit um das Bahnprojekt hat die Einwohner entzweit. Aufnahme vom 10. Mai 2008.
Foto: Böhringer, freigegeben als CC BY-SA 2.5 [http://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.5] via Wikimedia Commons

Die Deutsche Bahn AG ist primär zum "global player" geworden, berichtete Wolf, der im Beirat von attac sitzt, ver.di-Mitglied und Chefredakteur von lunapark21 - zeitschrift zur kritik der globalen ökonomie ist, für die Initiative "Bürgerbahn statt Börsenbahn" spricht und verantwortlich für die jüngst herausgegebene Streikzeitung [1] zum Arbeitskampf der Gewerkschaft der Lokführer (GDL) zeichnet. Als international aufgestelltes Unternehmen bedient die Bahn sogar Außenwirtschaftsinteressen der Bundesregierung:

"Wenn die Geschäfte nicht besonders rentabel sind, sogar die Rentabilität niedriger ist als bei Inlandsgeschäften, dann ist das eine Art Begleitwirtschaftspolitik für die deutsche Außenpolitik. Also wenn die Deutsche Bahn AG zum Beispiel in Dubai ein Streckennetz aufbaut oder wenn sie in Saudi-Arabien für die einzige Frauen-Uni eine Bahn hinstellt, die fahrerlos fahren muß, weil die Frauen keine Männer sehen dürfen, und deswegen automatisch fährt, dann ist das kein business wie üblich, sondern primär dazu da, um die Leo-II-Geschäfte mit Saudi-Arabien oder andere Rüstungs- oder Infrastrukturdeals zu begleiten."

20 Punkte haben Wolf und Knierim im Abschlußkapitel ihres Buchs genannt, was zu tun wäre, um die Weichen umzustellen und die Bahn auf ein anderes, bürgernahes Gleis zu lenken. Dazu gehört eine vernünftige Verkehrspolitik, in der die Schiene nicht stiefmütterlich behandelt wird; eine integrierte Bahn im öffentlichen Eigentum - also nicht zerschlagen in eine Handvoll Aktiengesellschaften, deren Holding nicht hält, was sie verspricht -, die jedoch vergleichbar mit dem Schweizer Modell dezentral ausgerichtet ist; hundertprozentige Elektrifizierung - wobei Ökostrom verwendet werden könnte -; Reaktivierung von Bahnhöfen und interregionalen Verbindungen. Der öffentliche Personennahverkehr sollte kostenlos sein und der Fernverkehr um mindestens 30 Prozent billiger werden als heute. Ausländische Unternehmen sollten wieder verkauft und die Erlöse in die Modernisierung und den Ausbau der hiesigen Bahninfrastruktur und die Verbesserung der Dienstleistungen gesteckt werden.

Im Anschluß an die Buchvorstellung beantwortete Winfried Wolf dem Schattenblick einige Fragen.

Schattenblick (SB): Wenn der Staat die Bahn reformiert, um Kosten zu sparen, er aber anschließend annähernd gleich hohe Summen in den Erhalt des Schienennetzes stecken muß, wie du das in deinem Vortrag geschildert hast, warum wurde das dennoch gemacht? Welche Interessen verfolgt der Staat damit?

Winfried Wolf (WW): Ich sage immer, ich vertrete eine Position der Verschwörungspraxis, also nicht der Verschwörungstheorie. Wie wir in dem Buch Bitte umsteigen beschrieben haben, ist der gesamte Bahnvorstand, seit 1989/90 von Bundesbahn und Reichsbahn, aber verstärkt seit 1994 mit der Deutschen Bahn und ganz klar ab 1999 mit der Ära Mehdorn beginnend von Interessen der Daimler AG durchsetzt. Die Leute im Bahnvorstand sind vom Bewußtsein her "Autoleute" oder "Flugzeugleute".

Bei der Vita von Herrn Mehdorn kann man das ziemlich klar sehen. Er war mehrere Jahrzehnte im Flugzeugbau tätig, wurde Spitzenmanager bei Airbus und der Daimler Benz AG und übernahm von 1999 an zehn Jahre lang den Vorstandsvorsitz der Deutschen Bahn AG. Anschließend wurde er Chef der Fluggesellschaft Air Berlin. Doch selbst noch als Bahnvorstand hatte er eine Kampagne zum Erhalt des Flughafens Tempelhof in Berlin betrieben. Neulich wurde Mehdorn in einem Interview gefragt, ob er eine Bahncard habe, was er verneinte. Er brauche nicht Bahn zu fahren, sagte er.

Das heißt, an der Spitze der Bahn sind Leute, die bereits von ihrer Mentalität her nichts mit der Bahn zu tun haben und eine Politik betreiben, durch die der Auto- und Flugverkehr gefördert wird, nicht jedoch die Schiene. Ob solche Leute bewußt zu diesem Zweck reingesetzt und bezahlt werden, möchte ich nicht behaupten, aber faktisch handeln sie so. Das spielt meines Erachtens eine ganz entscheidende Rolle.

Dazu kommen weitere Aspekte, die sich in Einstellungen ausdrücken wie: "Ich bin Erste-Klasse-Reisender, wenn ich schon Bahn fahre, dann möchte ich Hochgeschwindigkeit fahren und schnell zwischen den Städten pendeln." Oder auch, um die Reduzierung von Schlafwagen zu begründen: "Man schläft nicht in der Bahn."

SB: Diese Entwicklung ist ohne eine entsprechende Unterstützung seitens der Politik kaum vorstellbar. Gibt es dort keine Bahnlobby, so wie es eben auch eine Auto- und Flugzeuglobby gibt? Oder sind jene Branchen so viel dominanter, weil beispielsweise der Autoverkauf ein sehr viel bedeutenderer Wirtschaftsfaktor ist als die Bahn?

WW: Ja klar, die Größe ist sehr unterschiedlich. Die Autolobby hat eine ganz andere Machtbasis als die Bahnindustrie. Die ist oftmals sogar selber Zulieferer für die Autoindustrie. Zum Beispiel ist der größte Eisenbahnhersteller der Welt, Bombardier Transportation, gleichzeitig einer der größten Produzenten von Regionalflugzeugen.

Es gibt natürlich Leute, die eine ganz gute Verkehrspolitik vertreten, dazu gehören Umweltverbände, die Partei Die Linke im Bundestag und sicherlich auch einige bei den Grünen. Wobei ich wiederum einschränkend dazu sagen muß, daß da manchmal Sonderthemen eine Rolle spielen, beispielsweise die Trennung von Netz und Betrieb. Die Grünen, Teile der Linken und vor allem Umweltverbände haben anscheinend die fixe Idee, daß man mit noch mehr Privatisierung und noch mehr Wettbewerb das System Schiene retten könnte.

Aber wie gesagt, im großen und ganzen sind die Gewichte zwischen Auto- und Bahnfreunden extrem ungleich verteilt. Die Autoindustrie hat ungefähr ein Tausendfaches an wirtschaftlicher Stärke.

Porträt Winfried Wolf - Foto: © 2014 by Schattenblick

"Man kann sagen, daß die Deutsche Bahn AG mit der Bahnreform im erheblichen Maß ein Immobilienspekulant geworden ist."
(Winfried Wolf, 1. November 2014, Nürnberg)
Foto: © 2014 by Schattenblick

SB: In letzter Zeit ist eine Konkurrenz zur Bahn aufgekommen, der Fernbus. Sind Fernbusreisen eine ökologisch und ökonomisch wünschenswerte Alternative zu Bahnfahrten?

WW: Fernbusse wären als Alternative sicherlich dann sinnvoll, wenn es um Strecken geht, die die Bahn nicht betreibt. Nach Paragraph 13 Personenbeförderungsgesetz, das 1952 beschlossen wurde und bis zum 1. Januar 2013 Bestand hatte, war der Fernbusverkehr überall da, wo die Schiene vernünftige Angebote vorhält, nicht zugelassen. Umkehrschluß: Überall da, wo die Bahn nicht fährt oder keine akzeptablen Angebote vorhält, dürfen Fernbusse fahren. Das ist ein absolut sinnvoller Paragraph.

Doch es ist verrückt, denn mit der Novellierung des Gesetzes wurde diese Bestimmung gestrichen, was ein Geschenk der CDU/CSU an den Koalitionspartner FDP war, der massiven Druck ausgeübt hatte. Seitdem wächst der Fernbusverkehr genau nicht auf den Strecken, auf denen es keine Bahnverbindung gibt, sondern vor allen Dingen in Konkurrenz zur Schiene.

Wir hatten bei der Frage vorhin das Stichwort "Durchsetzung von Daimler-Interessen". Daimler ist der größte Bushersteller der Welt. Streckenweise macht die Deutsche Bahn AG Konkurrenz zu sich selber. Ein konkretes Beispiel ist die Strecke München-Zürich. Seit 20 Jahren wird eine Debatte darüber geführt, daß hiervon die Teilstrecke Lindau-München elektrifiziert werden müßte, damit die Eurocity-Züge zwischen München und Zürich beschleunigt werden können. Die Deutsche Bahn tritt auf die Bremse, obwohl die Schweiz sagt, daß sie die Elektrifizierung in Deutschland vorfinanzieren würde. Die Bahn macht es trotzdem nicht. Und seit rund einem Vierteljahr läßt sie eigene Busse - Deutsche Bahn AG-Busse mit der Banderole rot-weiß! - in Konkurrenz zum eigenen, zweistündigen Eurocity München-Zürich fahren und macht sich das Geschäft kaputt. Das ist typisch für die gegenwärtige Bahnpolitik.

SB: Wird nun die entsprechende Bahnverbindung eingestellt?

WW: Bisher noch nicht, aber die Gefahr ist groß. Nach den Reduzierungsschüben der 50er, 60er Jahre und den 7000 Kilometern Schiene, die mit der Bahnreform von 1994 bis heute abgebaut wurden, könnte es sein, daß mit den Fernbusreisen nochmals in erheblichem Maß weniger rentable, zum Teil aber auch rentablere Strecken abgebaut werden. Es heißt dann, daß wir ja auch mit dem Fernbus fahren können. Ein Beispiel dafür ist die Strecke Nürnberg-Prag. Zwischen den beiden Städten bestand früher eine Schienenverbindung - seit längerem fahren auf dieser Strecke nur noch Busse. Zusätzlich werden dann noch Angebote gemacht wie Kaffee gratis, Internet gratis und ähnliches mehr, was es im Zugverkehr gar nicht gab und nun die Bahn teilweise selber nur im Busverkehr anbietet.

SB: Seit einigen Jahren wird diskutiert und teils schon erprobt, Gigaliner zum Warentransport einzusetzen, und dadurch die Straßen und Brücken noch mehr zu belasten. Wäre eine Verlagerung des Gütertransports auf die Bahn eine wünschenswerte Alternative und vielleicht ein schlagkräftiges Gegenargument zu der Idee, jetzt auch noch überdimensionale Lkws auf die Straße zu bringen? Ist der Güterverkehr auf der Schiene ausbaufähig?

WW: Der Güterverkehr auf der Bahn hat heute ein Niveau von 140 Milliarden Tonnenkilometer pro Jahr. [2] Das entspricht dem Niveau der westdeutschen Bundesbahn und der Reichsbahn der DDR zusammengenommen im Jahr 1988. Es ist nicht höher als damals, auch wenn manchmal etwas anderes behauptet wird.

Ich schätze, daß ein Steigerung um 30 bis 40 Prozent drinliegt, wenn zum Beispiel Flaschenhälse bei den Verbindungen beseitigt und ähnliche kleinere Maßnahmen ergriffen werden. Den gesamten Lkw-Verkehr hingegen kann man nicht auf die Schiene bringen. Der Gütertransport hat so gigantisch zugenommen, daß die Bahn selbst bei einem sechsgleisigen Ausbau ihrer Strecken das nicht leisten könnte.

Mein Hauptargument gegen den Güterverkehr lautet, daß zunächst einmal geprüft werden muß, wie Dezentralität hergestellt und die Regionen wieder gestärkt werden können. Man muß das regionale Wirtschaften fördern, beispielsweise durch Beschränkungen mittels Schutzzöllen oder anderen Maßnahmen, so daß Güter im regionalen Bereich produziert werden. Dann hätten zum Beispiel hiesige Früchte oder Gemüse Priorität vor importierten Gütern. Wenn diese dann entsprechend teurer sind und den realen Preis widerspiegeln, den der Transport ausmacht, ist das für mich okay. So könnte dann eine Papaya neun Euro kosten, und wenn ich eine Freundin habe, der ich zweimal im Jahr so eine exotische Frucht schenke, finde ich das in Ordnung. Aber wenn die Papayafrucht billiger ist als der Apfel vom Bodensee, dann wird es zu einem Problem. Und genau das haben wir heutzutage.

Wein aus Chile ist billiger als württembergischer oder fränkischer Weißwein. Das liegt daran, daß alle Transportarten, vom chilenischen Hafen Valparaiso angefangen über die Schiffe mit philippinischen Billigbesatzungen und den Hafen in Hamburg bis zum Weg hierher so subventioniert werden, daß die Transportkosten einer Flasche Weißwein aus Chile sieben bis vierzehn Cent betragen. Das macht fast nichts aus angesichts der geringen Herstellungskosten und anderen Aufwendungen; zudem sind wahrscheinlich die Umweltstandards niedriger. Also, wir müssen jetzt anfangen, den Güterverkehr zu reduzieren, und dann können wir den Rest verlagern. Gigaliner kann man sich sowieso schenken.

SB: Wenn Autofahren unattraktiver wird, könnte das theoretisch eine Verlagerung auf die Schiene auslösen. Bist du für die von Verkehrsminister Dobrindt vorgeschlagene Pkw-Maut?

WW: Ich bin gegen eine Pkw-Maut, zumal die von Herrn Dobrindt schon ziemlich lächerlich ist. Heute lautet die Schlagzeile in der Süddeutschen: "Wir haben die Maut geschrumpft." Das ist sicherlich keine Alternative. Generell kann man sagen, daß der Autoverkehr zu preiswert ist und verteuert werden müßte. Wenn man das täte, ginge das am ehesten über eine Erhöhung der Mineralölsteuer. Da wird der Verbrauch am direktesten besteuert. Wozu braucht man dann noch eine Maut?

So etwas kann man natürlich in Deutschland nicht vorschlagen, ohne eine Alternative zu entwickeln. Wenn man aber sagt, wir stecken alles Geld, das wir mehr einnehmen, wirklich in Dezentralität, Wiedergewinnung von Nähe, Förderung von Fahrrad- und Fußgängerverkehr sowie in öffentliche Verkehrsmittel und die Eisenbahn, wenn also in diesem Ausmaß in Mobilität umgeleitet wird, dann wäre das sicherlich auch mehrheitsfähig.

SB: Verspielt die SPD gerade ihre Wählerstimmen mit dem Gesetzentwurf von Arbeitsministerin Andrea Nahles zur Tarifeinheit, der gegen die kleinen Gewerkschaften wie beispielsweise die GDL gerichtet ist, auch wenn Frau Nahles behauptet, daß dadurch das Tarifsystem nicht aufgebrochen wird?

WW: Ja, man muß sagen, das ist einfach heuchlerisch. Die Tarifeinheit wurde jahrzehntelang von den Unternehmern, der rot-grünen Regierung, dann der kleinen Koalition und schließlich auch der großen Koalition aufgebrochen, indem zum Beispiel Betriebe aufgespalten und outgesourct oder Leiharbeitsverträge abgeschlossen wurden - früher gab es 100.000, 200.000 Leiharbeiter, heute haben wir zwei oder drei Millionen, die eigene Verträge abschließen. Oder auch indem massenhaft Arbeitgeber aus Arbeitgeberverbänden ausgetreten sind und eigene Verbände aufgemacht oder gar eigene Gewerkschaften gegründet haben, beispielsweise christliche Gewerkschaften oder die von Siemens mitfinanzierte AUG.

Es bestehen also längst in 10.000 Betrieben zwei, drei, vier Tarifsysteme. Und jetzt zu sagen: Aber da, wo die Cockpit, der Marburger Bund und die GDL kämpfen, da geht es nicht mit mehreren Tarifsystemen, ist völlig lächerlich.

Wenn es sich so verhält, daß 90 Prozent der Lokführer und 30 Prozent der Zugbegleiter bei der GDL gelandet sind und inzwischen die EVG, die klassische Gewerkschaft im Bahnbereich, nicht mehr das Sagen hat, dann liegt es daran, daß diese Gewerkschaft eben die Interessen dieser Klientel nicht ausreichend vertritt. Und wenn eine Gewerkschaft das nicht macht, dann verliert sie Mitglieder und es entstehen Spartengewerkschaften. Wenn die dann besonders kämpferisch sind und auch Streiks durchführen, dann freue ich mich riesig darüber. Wenn sie zusätzlich zu sinnvollen Lohnerhöhungen noch eine Begrenzung von Überstunden und kürzere Arbeitszeiten fordern, finde ich das super! Das sind Forderungen, die unter Steinkühler [3] in den achtziger Jahren eine Rolle spielten und die gefälligst die DGB-Gewerkschaft aufgreifen sollte, bevor sie den Mund aufreißt über die kämpferische, nette GDL.

SB: Vielen Dank für das Gespräch.

Wasserwerfer, umringt von Polizisten, inmitten einer Demonstration in einem Park - Foto: Mussklprozz, freigegeben als CC BY-SA 3.0 [http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0] via Wikimedia Commons

"Stuttgart 21" - Der Staat fährt seine Exekutivgewalt auf, um Partikularinteressen gegen große Teile der Bevölkerung rigoros durchzusetzen. Stuttgart, Mittlerer Schloßgarten, 30. September 2010.
Foto: Mussklprozz, freigegeben als CC BY-SA 3.0 [http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0] via Wikimedia Commons


Fußnoten:


[1] http://arbeitsunrecht.de/wp-content/uploads/2014/11/StreikZeitung-pro-GDL-01.pdf

[2] Tonnenkilometer (tkm): Produkt der transportierten Masse in Tonnen (t) und der dabei zurückgelegten Wegstrecke in Kilometern (km). Das Ergebnis gibt die Transportleistung an.

[3] Franz Steinkühler, ehemaliger Vorsitzender der Gewerkschaft IG Metall.


Zur "19. Linken Literaturmesse in Nürnberg" sind bisher im Pool
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unter dem kategorischen Titel "Linksliteraten" erschienen:

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