Schattenblick → INFOPOOL → DIE BRILLE → REPORT


INTERVIEW/027: Links, links, links - strukturell faschistoid ...    Wolf Wetzel im Gespräch (SB)


Totalitäre Ordnung auf technischer Ebene realisiert

20. Linke Literaturmesse in Nürnberg


Der Autor, Journalist und Aktivist Wolf Wetzel recherchiert zum NSU-Komplex und ist in der autonomen Bewegung wie in zahlreichen linken Bündnissen engagiert. Auf der 20. Linken Literaturmesse in Nürnberg referierte und diskutierte er im Rahmen des Auftaktpodiums "Aufmärsche, Brandanschläge, Wahlerfolg" über die rechtsextreme Mobilmachung, den Staat und die Antifaschistische Bewegung. Zudem bot er die Veranstaltung "Der Rechtsstaat im Untergrund" an. Am Rande der Literaturmesse beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen.


Schattenblick (SB): Wolf, du hast bei der gestrigen Podiumsdiskussion über die rechtsextreme Mobilmachung, den Staat und die Antifaschistische Bewegung vor einem Abdriften in eine Seitenstraße der Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus gewarnt. In welchem Maße hat der Kampf gegen Rechts den Charakter, von wichtigeren Fragen abzulenken?

Wolf Wetzel (WW): Man muß jetzt vorsichtig sein, da "rechts" ein weiter Begriff ist. Ich würde sagen, die Mitte ist schon rechts. Im Kontext unserer Diskussion geht es hier um neonazistische Organisationen beziehungsweise Gruppierungen oder das, was man etwas breiter gefaßt unter Pegida subsumiert. Für alle, die eine andere Gesellschaftsvorstellung haben als den Kapitalismus, der sich selbst als das Ende der Geschichte prophezeit, ist es natürlich bitter enttäuschend, wenn es einzig und allein darum gehen soll, den Kapitalismus vor seiner schlechtesten Variante zu schützen. Wir sind nicht dazu da, den Kapitalismus vor sich selbst zu schützen. So habe ich unsere Politik zumindest verstanden.

Daß der Faschismus dem Kapitalismus immanent ist, hat er historisch bewiesen. Deswegen ist die Verlockung so stark, in die Seitenstraßen gelenkt zu werden und sich dort zu verausgaben, während auf der Hauptstraße weiterhin das gemacht wird, worunter wir alle leiden - der ganz normale Kapitalismus. Die Auseinandersetzungen in Europa und weltweit sind so heftig geworden, weil der Kapitalismus meines Erachtens an einem Punkt angelangt ist, an dem er sich für eine Mehrheit der Bevölkerung nur noch kriegerisch und zerstörerisch auswirkt. Wir kehren also an den Punkt zurück, wo der Kapitalismus nur noch für eine extreme Minderheit lebenswert beziehungsweise lohnend ist, hingegen für eine Mehrheit Hunger, Krieg, Vertreibung und Flucht bedeutet.

SB: Es gibt unter Linken einen Dauerstreit darüber, inwieweit derartige Entwicklungen geplante Strategien des Kapitalismus oder eher unkontrollierte Erscheinungen sind, derer er sich bedient. Wie würdest du dich in dieser Kontroverse positionieren?

WW: Ich glaube, man überhöht das System, wenn man meint, da gäbe es eine Masterzentrale oder ein Headquarter irgendwo ganz oben oder in oder hinter der Wall Street. Dazu muß man einfach nur die verschiedenen Fraktionen und politischen Kräfte anschauen, die dieses System prägen. Sie sind sich selbstverständlich nicht einig, weil es ganz unterschiedliche Interessen im Kapitalismus gibt, was ihm selbst durchaus bewußt ist. Er versucht ja nicht nur, die Widersprüche, die durch Ausbeutung entstehen, auszubalancieren, sondern auch jene, die durch wenig und gewaltige Profite entstehen. Heute leiden die Mittelschicht, die Selbständigen oder die Bauern darunter, daß sie sehr geringe Profitraten haben und Steuern bezahlen, während die Großkonzerne ganz offiziell 20 bis 25 Prozent Profit als ihr Minimum ausweisen und so gut wie keine Steuern mehr bezahlen.

Dementsprechend widersprüchlich sind die Strategien, weshalb ich nicht an einen Masterplan glaube, sondern der Auffassung bin, daß diese Vorgehensweisen immer wieder umkämpft sind und daß es sich auch für uns lohnt, genau hinzuschauen, um welche Widersprüche es sich handelt und welche sich darin durchsetzen. Daß Pegida eine Erfindung aus der CDU-Zentrale oder dem Geheimdienst ist, glaube ich nicht, denn man darf die Herrschenden nicht für so dumm verkaufen. Damit würde man auch der Linken keinen Gefallen tun und den Menschen, denen man die Dinge erklären möchte, noch weniger.

SB: Die verschiedenen Kräfte des rechten Lagers werden oftmals pauschal in einen Topf geworfen. Wie würdest du die Rechte differenzierter darstellen?

WW: Wie ich gestern bei der Podiumsdiskussion erklärt habe, wäre ich mit dem Begriff des Faschismus sehr vorsichtig. Das ist allerdings noch einmal ein eigenes Kapitel, das in die klassischen Faschismustheorien greift, die in unserer Diskussion nur angerissen werden konnten. Die Niederlage des Faschismus hat nicht nur die Linke getroffen bzw. nicht mehr lebend vorgefunden, weil viele ermordet worden oder geflohen sind. Die Rechten und die Faschisten kämpfen bis heute verständlicherweise darum, wie sie mit der Niederlage des Faschismus und dem Faktum des Holocaust, das man nicht mehr aus dem Grundwissen tilgen kann, strategisch umgehen sollen - ob es klug ist, einen Faschismus zu erfinden, ohne Hitler und die Shoa. Das ist innerhalb der Rechten und der neofaschistischen Organisationen umstritten, weil die einen gerne Hitler wiederhaben wollen und glauben, daß er einfach nur verloren hat. Unterdessen erklären andere Fraktionen der Rechten, daß man so nicht weiterkommt, und bauen deshalb rechte reaktionäre Theorien und Praxen um den Holocaust herum. Im Moment ist noch offen, wie dieser Streit ausgeht. In Frankreich erlebt man dies als Familienstreit im Front National: Le Pen, der Alte, der noch zu Hitlers Grab geht, während seine Tochter verkündet, wir können auf das Grab Hitlers scheißen und trotzdem reaktionäre, rassistische Politik machen. Ich befürchte insofern Schlimmeres, als sich die letztgenannte Fraktion durchsetzen könnte.

SB: Drohen sich deines Erachtens neue staatlich-administrative Formen der Kontrolle und Repression durchzusetzen, die man beim Blick auf die von der Rechten ausgehende Gefahr nicht im Visier hat?

WW: Das ist der Gegenstand meiner heutigen Veranstaltung. Die totalitäre Ordnung, die man der Genese des Faschismus zuschreibt, der eine Gesellschaft propagiert, in der es keine Privatsphäre mehr gibt, niemand etwas verheimlichen darf, der Mensch identisch mit dem Staat oder vielmehr ein Rädchen im Getriebe ist, kurzum all das, was das 1000jährige Reich in seiner Propaganda und seinem Irrsinn ausgemacht hat, ist inzwischen - ohne Propaganda und ohne Inszenierung - technisch realisiert worden. Die totale Erfassung aller, die die Faschisten als Phantasma vor Augen hatten, wenn sie "ein Volk, ein Reich, ein Führer" brüllten, ist heute auf der technischen Ebene realisiert worden: Das ist doch genau das, was die geheimen Dokumente des ehemaligen NSA-Administrators Edward Snowden belegen.

Von daher befürchte ich Schlimmeres. Es werden sich Strukturen, Lebensverhältnisse, geistige und gesellschaftliche Zustände herausbilden, die sich auf innovative Weise durchaus mit Faschismus und Diktatur messen können, zumindest für die Menschen, die nicht privilegiert und diesem System - auch ohne einen Hitler - unterworfen sind. Das kann zum Beispiel auch Angela Merkel oder irgend jemand Nettes sein.

Wenn mit Blick auf Griechenland argumentiert wird, der Faschismus habe dort als Variante der Herrschaftssicherung vor der Tür gestanden, halte ich das für eine extrem falsche Einschätzung. Tsipras war die Lösung, ein "linkes Bündnis" das Mittel der Wahl. Man hat ihm natürlich den Preis genannt: Du mußt alles selbst amputieren, was in irgendeiner Weise den europäischen Kapitalismus und dessen Grundfesten in Frage stellt. Wenn du das machst, bekommst du einen Dienstwagen, wirst umarmt, bist ein netter Kerl und wir vergessen, daß du dich ein paarmal ziemlich ungezogen verhalten hast. Die faschistische Partei "Goldene Morgenröte", die in Griechenland mit sieben Prozent präsent ist, war meiner Meinung nach nie eine politische Option. Genau das ist der Beweis dafür, daß selbst in der kapitalistischen Krise, die ja tatsächlich stattfindet, im wesentlichen nicht auf eine faschistische Lösung, sondern auf integrative Kräfte gesetzt wird.

SB: Wie auch die deutsche Erfahrung lehrt, erweist sich die Bindekraft der reformistischen Sozialdemokratie oder der Grünen in bestimmten Phasen als effektiver und jener der Konservativen überlegen.

WW: Ja, keine Frage. Ich glaube auch, daß der Kapitalismus aus dem großen Fehler des Faschismus gelernt hat. Deswegen ist der Blick auf Faschismustheorien so wichtig. Der Faschismus leugnet Widersprüche, liquidiert sie, verfolgt alles, was den Widerspruch ausmacht. Ich behaupte, daß die Dauer und Langlebigkeit des aktuell herrschenden Systems etwas damit zu tun hat, daß die Widersprüche nicht ausgemerzt, sondern produktiv gemacht werden. Es gibt uns, wir führen ein Interview und reden hier im "Komm" miteinander, das nicht nur ein Ergebnis militanter Kämpfe ist, sondern inzwischen integriert, buchstäblich überbaut und als eine Attraktion für Nürnberg gepriesen wird. Im Grunde ist dieser Ort ein ideales Beispiel für meine These. Anstatt es auszumerzen, wie es der Faschismus getan hätte, bereichert sich die rot-grüne Politik Nürnbergs am Widerspenstigen des "Komm". Daß die Stadt mit ihrer Gentrifizierung nur noch für eine Minderheit da ist oder daß Kriege blöd sind, sollen die Leute ruhig sagen dürfen. Und wir können ein Interview wie dieses führen. Wichtig ist nur, daß das, was wir sagen, zu keinem Übertrag in konkretes Handeln führt und an den realen Machtverhältnissen nichts ändert.

Davon abgesehen hört die andere Seite aufmerksamer zu als viele Linke. Wir sind - und das versteht das System durchaus - gute Analytiker. Weil wir nicht gefangen sind, machen wir kein Gefälligkeitsgutachten. Ich hatte einmal eine Begegnung mit einem Staatsschutzbeamten, der also auch intellektuell qualifiziert und in Frankfurt auf die autonome Szene und alles, was als militant galt, angesetzt war. Wie er mir verriet, hätten ihm die Analysen der Linken, die er fleißig gelesen habe, sehr gut gefallen, da er wissen wollte, wo die Binnenkonflikte zur Startbahn, zum harten Vorgehen und zur Angst vor einer Regierungsunfähigkeit herrührten. Ich glaube, daß die Abschöpfung von Konflikten und Auseinandersetzungen zu dem Produktivsten im Kapitalismus gehört. Deswegen bin ich mir sicher, daß Nürnberg sein "Komm" behalten wird, da es nun einmal so schön überbaut ist.

SB: Du hast in der Debatte der Auftaktveranstaltung die Frage des Kollektiven thematisiert. Wäre das aus deiner Sicht ein Ansatz, der geeignet sein könnte, der Spaltbarkeit und Teilhaberschaft etwas entgegenzusetzen?

WW: Die Kämpfe gegen Pegida, den Krieg oder jetzt natürlich diese reaktionäre Mobilisierung sind einerseits einer Geschichte verpflichtet, die man Antifaschismus nennt. Viele Antifas verstehen ihren Kampf automatisch auch als einen antikapitalistischen Kampf. Viele Ältere wissen aber auch, daß unglaublich viel in der "Bibel" und in Selbsterklärungen steht, aber die Antifa in den letzten zehn, fünfzehn Jahren nie etwas Reales mit Antikapitalismus zu tun hatte. Sie war vollauf mit verschiedenen Rassismen und Pegida-Applikationen beschäftigt. Hinzu kam natürlich die immer schwächer werdende Attraktion, Antifa zu sein. Man kann nicht leugnen, daß es auch Antifaschisten auf die Dauer nicht begeistert, hundertmal im Kreis zu laufen. Du hörst nach dem 50. Mal auf, weil dich das dumpfe Gefühl beschleicht, daß das irgendwie nicht reicht. Es ist nicht nur nicht erfolgreich, sondern fällt auch hinter mögliche Erkenntnisse zurück. Von daher glaube ich schon, daß es dringend notwendig ist, grundsätzlich darüber auch in Antifa-Gruppen nachzudenken.

Interessanterweise werden die Antifa-Gruppen vom Verfassungsschutz - das ist natürlich eine Orwellsche Formulierung - also vom Geheimdienst als die einzigen noch aktionsfähigen Gruppen eingestuft. Das heißt in dessen Jargon, daß sie noch in Gruppen organisiert sind und Angst und Unsicherheiten kollektiv überwinden können, was prinzipiell nur auf diese Weise möglich ist. Nur im Kino gibt es einen James Bond oder den Lonely Fighter, doch im wirklichen Leben überwindest du Angst oder unsichere Situationen nur, indem du eine kollektive Struktur hast, eine Gruppe, die das aufnimmt, und der Geheimdienst beschreibt die Antifa-Gruppen so, als hätten sie diese Möglichkeit noch. Im Verhältnis dazu, daß andere gar nichts mehr haben, mag das stimmen, doch verglichen damit, wie Gruppen früher organisiert waren, ist das doch oftmals eine Ansammlung von Individuen. Demgegenüber besäße eine Gruppe eine kollektive Struktur, die verbindlich und regional organisiert ist, die sich bundesweit in Theorie und Praxis austauscht und für die Internationalismus zentral ist, denn wenn man einerseits gegen Nationalismus kämpft und andererseits in ihm verharrt, ist das absolut unglaubwürdig. Wenn man sich nicht international vernetzt und fragt, wie die Leute in England oder in Griechenland kämpfen, ist das ein Jammer. Ich halte es für einen großer Mangel der Linken und natürlich auch der Antifa, daß sie gar keine anderen Strukturen mehr haben als diese "frei vereinzelten" Individuen. Das auf ein linkes Projekt zu übertragen käme einem Selbstmord gleich. Das funktioniert allenfalls intellektuell und wenn alle wegrennen, aber für einen Widerstand reicht es nicht einmal im Ansatz.

SB: Wie würdest du die Linke Literaturmesse in den Gesamtzusammenhang der Linken einordnen und ihre Relevanz einschätzen?

WW: Ich halte sie für die zweit- oder drittbeste Lösung. Ich war nie auf Buchmessen und bin jetzt gezwungen worden, Bücher oder Texte zu schreiben - das war natürlich ein Scherz. Ich habe das Schreiben nie mit Buchmessen und diesem literarisch intellektuellen Format verbunden. Wir haben angefangen zu schreiben, um unsere eigenen Schriften zu begreifen. Wir haben gesagt, das geht doch nicht, es ist zu plump, zu platt, wir müssen das, was wir sagen, genauer analysieren. Das war der Grund, Texte zu schreiben. Klar, irgendwann reicht es, daß man es durchnummerieren kann und dann ein Buch daraus wird. Aber Buchmessen waren für mich ein völlig anderes Genre. Bücher waren für uns - und das gilt für mich immer noch - ein Werkzeug, vergleichbar mit den Vorteilen einer Technikerausbildung, wenn man irgend etwas Praktisches machen will. Beispielsweise ist eine Blockade nur mit Menschen blöder als eine Blockade der Bahn, so daß die Nazis gar nicht erst anreisen können. Das setzt nicht nur intellektuelles Wissen und daß man Nazis identifizieren kann voraus, sondern technisch-praktische Fähigkeiten, und Analysieren ist für mich eine praktische Fähigkeit, wenn sie in solchen Zusammenhängen angewandt wird.

Von daher erwischst du mich hier auf der Buchmesse auf dem falschen Fuß. Ich finde Nürnberg schon ein bißchen anders als die Frankfurter oder die Leipziger Buchmesse, weil hier noch recht viele politische Strömungen zusammenkommen, die nicht nur lesen und sich gruseln wollen, sondern tatsächlich eine politische Praxis haben. Ich habe es gestern in der Veranstaltung gespürt, daß Leute dabei waren, die mit Empathie und politischer Praxis zu Werke gehen und nicht einfach nur über Pegida etwas Peppigeres als im "Spiegel" hören wollen. Ich weiß auch, daß die hier vertretenen Gruppen die hier geführten Diskussionen mitnehmen, daß sie im Verhältnis zu anderen Städten recht konstant und 50- oder 60jährige immer noch in einer autonomen Struktur organisiert sind und sich zugleich 15- oder 16jährige unten auf dem Boden rumgelümmelt haben und aufmerksam interessiert sind.

SB: Wolf, vielen Dank für dieses Gespräch.


Erster Bericht zur 20. Linken Literaturmesse in Nürnberg im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → DIE BRILLE → REPORT:

BERICHT/030: Links, links, links - Getrennt publizieren, gemeinsam agieren ... (SB)

16. November 2015


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang