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INTERVIEW/046: Links, links, links - Journalistenpflicht ...    Ulrich Heyden im Gespräch (SB)


Die vierte Gewalt im Propagandakrieg um die Ukraine

20. Linke Literaturmesse in Nürnberg


Wenngleich der Konflikt in der Ukraine von der sich zuspitzenden Konfrontation in und um Syrien überschattet wird, hat er doch nichts von seiner Brisanz verloren. Für die deutschen Leitmedien liegt die Schuldzuweisung zu Lasten Rußlands und seines Präsidenten Putin so zweifelsfrei auf der Hand, daß anderslautende Einschätzungen und selbst der bloße Versuch, allen Seiten in dieser Auseinandersetzung Gehör zu verschaffen, verhöhnt und diskreditiert werden. Die vierte Gewalt im Staat, so scheint es, ist ihres eigenen Anspruchs überdrüssig und zieht endgültig den Schulterschluß mit den drei anderen zu einem monolithischen Block rollenverteilter Herrschaftssicherung vor.

Um so unverzichtbarer sind demgegenüber Journalistinnen und Journalisten, die nicht auf diesen massiven Trend aufsatteln, sondern selbst die Ukraine bereisen, um dort mit den Menschen zu sprechen, und die dabei gewonnenen Erkenntnisse zu glaubwürdigen und fundierten Einschätzungen verdichten. Auf der Linken Literaturmesse stellte der Historiker, Dokumentationsjournalist und freie Korrespondent Ulrich Heyden sein Buch "Ein Krieg der Oligarchen - Das Tauziehen um die Ukraine" [1] vor, das im PapyRossa Verlag erschienen ist. Heyden, der seit 1992 für deutschsprachige Medien aus Moskau und anderen Regionen der ehemaligen Sowjetunion berichtet, verzichtet angesichts des erbitterten Propagandakriegs um so wohltuender auf Überzeichnungen und unterscheidet statt dessen deutlich zwischen gesicherten Fakten und bloßen Mutmaßungen, so naheliegend diese auch anmuten mögen.

Am Rande der Linken Literaturmesse beantwortete Ulrich Heyden dem Schattenblick einige Fragen.


Im Gespräch - Foto: © 2015 by Schattenblick

Ulrich Heyden
Foto: © 2015 by Schattenblick


Schattenblick (SB): Wie ist es bei dir lebensgeschichtlich dazu gekommen, daß du dich insbesondere mit Rußland und der Ukraine beschäftigst?

Ulrich Heyden (UH): Nach meinem Studium habe ich 1992 in der Dokumentation eines Hamburger Verlags gearbeitet, um Geld zu verdienen. Da ich mich immer schon für die Sowjetunion interessierte, habe ich nach deren Auflösung die Chance ergriffen, in dieser Region als Journalist zu arbeiten. Da ich zwar schon geschrieben, aber noch nie darüber Einkünfte erzielt hatte, war dies in doppelter Hinsicht ein Sprung ins kalte Wasser. Zum einen wollte ich fortan von meiner bezahlten journalistischen Tätigkeit leben, zum anderen waren mir nur die Grundlagen der russischen Sprache geläufig, so daß ich mir alles weitere durch ihren praktischen Gebrauch aneignen mußte. Ich hatte 1983 schon einmal eine Tour mit dem Auto von Hamburg nach Jerewan auf einer der damals erlaubten Routen gemacht. Bei einer Wanderung im Kaukasus lernte ich einen ukrainischen Philosophiestudenten namens Andrej kennen, bei dessen Familie ich dann 1992 drei Monate lang lebte. Die Ukraine hatte schon lange mein Interesse geweckt, da ihr nicht dieser imperiale Geruch anhaftete. Es hatte vielleicht auch etwas mit Romantik zu tun, weil es eine ländlich geprägte Republik ist.

Ich wußte natürlich um die Vernichtung der Juden von Kiew in Babi Jar, und wie sich dann herausstellte, hatte Andrejs Familie auch jüdische Vorfahren. Er selbst sprach von 15 verschiedenen Abstammungen, darunter Zigeuner, Juden, Russen, Ukrainer und viele andere mehr. Es war eine Familie der sowjetischen Intelligenz mit einer sehr kritischen Einstellung, die die unabhängige Ukraine zutiefst begrüßt hat. Inzwischen bin ich leider mit Andrej politisch nicht mehr einer Meinung, da er Poroschenko-Anhänger geworden ist. Ich hielt damals die Unabhängigkeit der Ukraine für einen Fortschritt, weil ich die Überzentralisierung der Sowjetunion nicht gutheißen konnte. Ich halte sie auch aus heutiger Sicht für einen Fehler, der womöglich ihre Auflösung ohne großen Widerstand der Bevölkerung beschleunigt hat.

Der extreme Nationalismus, wie er in den letzten beiden Jahren die Oberhand gewonnen hat, war damals noch nicht so deutlich sichtbar. Angesichts mangelnder Sprachkenntnisse orientierte ich mich nicht zuletzt an Symbolen und fragte Andrej beispielsweise nach der Bedeutung jener Graffitis mit einem Dreizack, die an vielen Wänden zu sehen waren. Er erklärte mir, daß dies das Zeichen einer rechtsgerichteten Strömung sei, bei der es sich aber um eine Randerscheinung handle, die man nicht fürchten müsse. Ich habe mich dann verstärkt mit der Tschernobyl-Katastrophe beschäftigt, die erst sechs Jahre zurücklag, und mit vielen Menschen über die gesundheitlichen Folgen gesprochen.

SB: Du hast demnach noch eine Ukraine erlebt, in der viele Völkerschaften zusammenleben konnten und diese Spaltung und Feindschaft, die das Land heute zerreißt, im Alltag noch nicht präsent war?

UH: Genau. Ich kam aus der linken Szene in Deutschland mit ihren ständigen Veranstaltungen und Demonstrationen nach Kiew, das mir unglaublich ruhig vorkam. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit Andrejs Mutter darüber, bei dem ich ihr auch von einer großen Kundgebung heimkehrender Tataren erzählte, deren Vorfahren unter Stalin nach Zentralasien deportiert worden waren und die nun Grundstücke auf der Krim forderten. Sie war zwar besorgt, daß das Unruhe ins Land bringen könnte, doch wirkte die Lage ansonsten geradezu entspannt. Bei Andrej, der in seinem Dachstübchen saß und Bücher las, spürte ich ein ausgeprägtes Gefühl der Übervorteilung durch die Moskauer Intelligenz, wie das möglicherweise typisch für bestimmte Kreise in der Ukraine war. Regelrecht antirussische Tendenzen erkannte ich damals aber noch nicht. Andrej würde das für sich ohnehin bestreiten, zumal er jetzt in seinem Umfeld für die Erkenntnis wirbt, daß es in Rußland auch Liberale gibt, die gegen Putin eingestellt sind.

SB: Die Außendarstellung vermittelt zumeist den Eindruck, daß die miteinander verfeindeten Lager durch einen klaren Frontverlauf in eine prorussische und eine prowestliche Fraktion voneinander getrennt sind. Entspricht das den realen Verhältnissen, wie du sie in Erfahrung gebracht hast?

UH: Ich habe bei meiner gestrigen Lesung Andrej Biletzki vom Rechten Sektor zitiert, der in der Werchowna Rada, also dem Parlament in Kiew, sitzt und erklärt, die Russen seien seine Brüder. Bei 30 Prozent seiner Kampfgefährten in der Asow-Brigade handle es sich um Russen. Sogar unter Ultranationalisten wird teilweise Russisch gesprochen, ohne daß dies ein Ausschlußgrund wäre. Offenbar hoffen sie, von der Ukraine aus Rußland aufrollen und Putin stürzen zu können. Die ukrainischen Nationalliberalen, zu denen ich meinen Bekannten zählen würde, und die russischen Liberalen in Moskau sind ähnlich gestrickt. Michail Chodorkowski hat ja nicht umsonst vor einem Jahr einen Kongreß in Kiew veranstaltet, um als russischer Liberaler mit den ukrainischen Nationalliberalen ein Bündnis zu schließen und Rußland als nächsten Schritt der Befreiung auf die gemeinsame Agenda zu setzen. Gegen Rußland als Großmacht und einen eurasischen Weg nähern sich die beiden Fraktionen einander an, die in dieser Hinsicht einer Meinung sind, während die unterschiedliche Sprache für nachrangig erachtet wird.

SB: Wie hast du den Beginn der Radikalisierung und Aufspaltung erlebt? Woher rührten die Impulse, die den Anstoß zu dieser zunehmenden Polarisierung der ukrainischen Gesellschaft gaben?

UH: Auslöser war 2000 der Mord an dem Journalisten Georgij Gongadse, der enthauptet in einem Wald gefunden wurde. Für diese schreckliche Geschichte machte man Präsident Kutschma verantwortlich, der damals eine Schaukelpolitik zwischen Moskau und dem Westen favorisierte. Es entwickelte sich eine Protestbewegung "Ukraine ohne Kutschma", die wie alles im politischen Leben Rußlands und der Ukraine extremer zu Werke ging, als wir das in Deutschland gewohnt sind. Auf einer Demonstration wurde ein Käfig mitgeführt, in dem symbolisch Kutschma saß. Als ich mich damals in einem Bericht für einen deutschen Sender darüber empörte, merkte ich, daß die ukrainische Redakteurin den Vorfall überhaupt nicht schlimm fand, da doch Kutschma ein Schurke sei. Ich machte hingegen Menschenrechte geltend, weil er zwar durchaus autoritär, aber schließlich kein Massenmörder war. Heute ist er Gefolgsmann der Regierung in Kiew, führt die Verhandlungen in Minsk und ist im Westen anerkannt. Obgleich der Mordfall nie aufgeklärt werden konnte, wurde die Bewegung "Ukraine gegen Kutschma" von westlichen Stiftungen und Menschenrechtsorganisationen massiv unterstützt. Einer ihrer Führer war Jurij Luzenko, der nach der orangenen Revolution Innenminister wurde und heute im Poroschenko-Block eine hochrangige Funktion innehat. Diese Radikalisierung mit antirussischem Einschlag nahm 2001 Fahrt auf und gab Rußland die Schuld für Kutschmas autoritäre Herrschaft.

Richtig los ging es dann 2004 mit der Protestbewegung gegen die Fälschung der Wahl, die Wiktor Janukowytsch gewonnen hatte. Im Januar 2005 wurde Wiktor Juschtschenko, Führer der orangenen Revolution, zum Präsidenten gewählt, ein Finanzexperte aus der ukrainischen Nationalbank ohne nennenswertes Charisma. Er versuchte mit verschiedenen Tricks, das Nationalgefühl der Ukrainer zu verstärken, indem er beispielsweise einen Gedenktag zum Holodomor einführte, der Hungersnot 1932/1933, bei der mehrere Millionen Ukrainer starben, weil im Zuge der Requirierung von Getreide durch die Sowjetmacht in diesem fruchtbaren Agrarland ein schrecklicher Mangel an Nahrungsmitteln herrschte. Rußland machte geltend, daß damals auch in Nordkasachstan und im südrussischen Kuban Hungersnot herrschte und sich diese Politik keineswegs gegen die Ukraine richtete. Juschtschenko sprach jedoch von einem gezielten Völkermord, um die Emotionen seiner Landsleute anzustacheln.

Leider sind die Greuel während der Stalinzeit nicht aufgearbeitet, und dieses Thema ist noch immer so politisiert wie im Kalten Krieg. Schreibe ich als Journalist darüber, wird es sofort dazu genutzt, um mit dem Kommunismus und Rußland abzurechnen. Nichtsdestotrotz wage ich mich ab und zu auch an solche brisanten Themen heran, die genauso Teil der Geschichte wie die Erschießung des Zaren oder der Verbleib seiner Gebeine sind. Diese Geschichte darf man nicht ausblenden, zumal sie natürlich im Gedächtnis der Menschen haften geblieben ist und ihr Verhalten prägt. Für einen Journalisten ist es jedoch ausgesprochen schwierig, sich dabei nicht instrumentalisieren zu lassen.

SB: Die Berichterstattung der deutschen Medien über den Konflikt in der Ukraine ist von einer Diskreditierung Rußlands und Putins geprägt, die deren Interessen ausblendet oder verzerrt darstellt. Welchen Anforderungen müßte demgegenüber eine fundierte journalistische Arbeitsweise aus deiner Sicht Rechnung tragen?

UH: Ich bin nicht froh über Putin, da man vieles an ihm kritisieren kann. Die Deutschen sollten jedoch begreifen, daß er den Russen nicht vom KGB oder FSB aufgedrückt worden ist, sondern in wesentlichen Teilen das widerspiegelt, was die Menschen denken. Wie sich bei der Krim oder Syrien zeigt, befürworten 70 Prozent der Bevölkerung seine Maßnahmen. Ich bin zwar skeptisch, was die Luftangriffe betrifft, mit denen allein man den IS nicht in die Knie zwingen kann. Ich sehe jedoch meine wichtigste Aufgabe als Journalist darin, der Entfremdung entgegenzuwirken, indem ich fair darstelle, wie sich Rußland in bestimmten Fragen verhält. Nur dann ist es möglich, diese Positionen gegebenenfalls auch zu kritisieren.

Lediglich einzelne Fragmente herauszulösen wie etwa Fälle von Soldatenschinderei und darüber die gesamte russische Armee abzuurteilen, hat es schon immer gegeben. Seit zwei Jahren unterstützen deutsche Medien jedoch kritiklos die vorgebliche Demokratiebewegung in der Ukraine, ohne sich mit deren Charakter und Akteuren zu befassen. Früher war es gängige Praxis, bei wichtigen Ereignissen in Deutschland oder Europa zu berichten, was London, Paris, New York und Moskau dazu äußerten. Daß Moskau heute weggelassen wird, halte ich für ein Verbrechen. Im Zweiten Weltkrieg zählte man viele Millionen Toten auf beiden Seiten. Man kann doch nicht so tun, als sei das im Gedächtnis der Deutschen und um so mehr der Russen nicht haften geblieben. Durch eine unfaire Berichterstattung fördern wir die Entfremdung wieder und schaffen neuen Nährboden für die Verdummung, wie sie zur Zeit stattfindet. Das können Gruppierungen vom rechten Rand ausnutzen, die spätestens dann erstarken, wenn die sozialökonomische Krise in der Bundesrepublik wächst. Das Unwissen über Rußland erlaubt es, noch schlimmere antirussische Politik zu betreiben. Das halte ich nicht für ausgeschlossen, man muß sich doch nur die deutsche Geschichte vor Augen führen. Einige Sozialdemokraten wie Erhard Eppler und Egon Bahr waren sich dessen bewußt und sprachen es aus. Aber das wird von den meisten Medien weggewischt, was mich total erschreckt.

SB: Würde man die Bundesbürger heute befragen, was sie über die Ukraine und die dortigen Auseinandersetzungen wissen, zeichnete sich vermutlich ein sehr verengtes Bild ab. Wie ist deines Wissens der diesbezügliche Kenntnisstand in Deutschland beschaffen?

UH: Was wissen die Deutschen über die Ukraine? Als Fischer 1999 Visa-Freiheit für die Ukraine ins Gespräch brachte, machten Geschichten über ukrainische Prostituierte die Runde, die dann alle nach Deutschland kämen. Dann gab es die Fußballeuropameisterschaft 2006, dann den Sarkophag von Tschernobyl, und das ist auch schon alles. Als es auf dem Maidan losging, waren auf einmal alle Ukraine-Experten, obgleich keiner wußte, welche Völker dort eigentlich leben. Daß in Transkarpatien 15 Prozent Ungarn leben, weiß kein Mensch, und daß sich die mit Rußland befreundete kleine Republik Transnistrien abgespalten hat, ebensowenig. Wer weiß denn noch, daß die Sowjetunion bei Bildung der Ukraine Teile der damaligen russisch-sozialistischen Republik abgegeben und überdies Chruschtschow der Ukraine die Krim geschenkt hat?

SB: Aus vorherrschender westlicher Sicht ist die Eskalation des Konflikts in der Ukraine auf eine russische Aggression zurückzuführen. Was könnte man dieser Auffassung deines Erachtens argumentativ entgegenhalten?

UH: Im Herbst 2014 nannte der Ministerpräsident der Donezk-Republik die Zahl von 4000 Freiwilligen aus Rußland, die in der Ostukraine kämpfen. Man kann wohl davon ausgehen, daß auch Waffen aus Rußland kommen, wobei es dafür keinerlei Beweise gibt. Offensichtlich sind russische Militärberater wie Igor Strelkow, der in Tschetschenien gekämpft hat und erster Verteidigungsminister der Donezk-Republik war, beteiligt. Er war im Grunde ein Monarchist mit romantischem Anklang, der das wahre, antioligarchische Rußland zu verwirklichen trachtete. Seit 2004 existierten organisierte Bestrebungen zur Bildung einer Donezk-Republik, weil die Leute in der Ostukraine nicht unter den Schirm der Nationalisten im Westen des Landes geraten und statt dessen die wirtschaftliche und kulturelle Verbindung zu Rußland stärken wollten.

Wenn behauptet wird, Rußland habe das alles angestachelt, widerspricht das einer fairen Berichterstattung. Man blendet dabei aus, daß auf Druck Moskaus radikale Führungskräfte wie der Vorsitzende des Volksrats, Andrej Purgin, der eine mächtige Donezk-Republik errichten wollte, oder auch Strelkow zurückgezogen werden mußten. Ich habe selber in der Ostukraine Freiwillige aus Rußland getroffen, die es offenbar nicht ausgehalten hatten, im Fernsehen zu sehen, wie die ukrainische Armee Wohnhäuser in den Städten beschießt. Als Russe fühlst du das noch zehnmal stärker, weil es sich unmittelbar vor deiner Grenze abspielt und du nicht weißt, wie weit diese Nationalisten noch gehen wollen. Du siehst Menschen, die russische Vorfahren haben, russisch sprechen und nur zufällig Ausländer sind. Dieses Gefühl ist bei den Russen stark ausgeprägt, was ich gut verstehen kann. Das würde uns Deutschen in einer vergleichbaren Situation nicht anders gehen. Natürlich gibt es unter den Freiwilligen auch russische Nationalisten, aber man findet auch Linke, die hoffen, daß sich in der Donezk-Republik etwas sozial Gerechtes entwickelt.

Der charismatische ukrainische Kommandeur Alexej Mosgawoj hat öffentlich erklärt, man kämpfe zuerst gegen die Faschisten, womit er die Freiwilligen-Bataillone auf gegnerischer Seite meinte. Ich würde jedenfalls die pauschale Bezeichnung der gesamten ukrainischen Armee als faschistisch nicht teilen, da es sich vielfach um 20jährige Soldaten handelt, die zum Militärdienst gezwungen wurden. Nach den Faschisten, so fuhr er fort, kommen die Oligarchen und die korrupten Beamten dran. Solche fast schon sozialrevolutionären Töne dürften die russischen Beamten natürlich gar nicht witzig finden. Zum 1. Mai hat Mosgawoj zusammen mit italienischen Antifaschisten eine Karawane organisiert, bei der in seinem Hauptquartier in Altschewsk auch eine Rockgruppe aufgetreten ist. Sie spielte zwar Skapunk, aber die Bevölkerung kannte aus der Sowjetzeit noch einige Lieder wie "Bandiera rossa", bei denen dann alte Omis und Opis begeistert mitgesungen haben. Die Menschen in der Ostukraine haben sich natürlich gefreut, in dieser Kriegssituation Besuch von Ausländern zu bekommen, und für sie eine Rundreise organisiert. Doch die Verwaltung der Lugansk-Republik legte ihnen Steine in den Weg und wollte sie nicht einreisen lassen. Sie hatte offenbar Angst, daß sich in Altschewsk eine antioligarchische, unkontrollierbare Macht mit bewaffneten Kämpfern formieren könnte. Als Mosgawoj dann im Mai 2015 auf offener Straße in seinem Auto erschossen wurde, kursierten Gerüchte, wonach der Ministerpräsident der Lugansk-Republik, Igor Plotnizki, hinter dem Anschlag stecke. Die Führung des Bataillons "Prisrak", das heißt Gespenst, erklärte jedoch, wir trauern um Mosgawoj und kämpfen weiter für Freiheit und soziale Gerechtigkeit, ergehen uns aber nicht in Spekulationen um die Hintergründe des Mordanschlags.

Es ist typisch für die Zeit seit August 2014 mit ihren Konflikten um die politische Ausrichtung der Volksrepublik, daß die radikaleren Kräfte die Konfrontation mit Moskau vermeiden, weil sie im Krieg stehen und sich keinen Streit in den eigenen Reihen gestatten wollen. Als im September 2014 Tausende von ukrainischen Soldaten eingekesselt wurden, waren die Freiwilligen-Bataillone im Aufschwung und trugen sozialrevolutionäre Tendenzen voran. Moskau schickte jedoch die Führung der Donezk-Republik, die aus Rußland kam, zurück ins zweite Glied. Ministerpräsident Alexander Sachartschenko erklärte, wir wollen hier Streitkräfte aufbauen und wünschen keine Gruppen, die ihre eigene Politik machen. Wer sich da nicht einordnet, wird als Plünderer angesehen und muß unter Kriegsrecht damit rechnen, erschossen zu werden. Ich habe in Donezk vor Restaurants Schilder mit einer durchgestrichenen Kalaschnikow gesehen, die das Mitführen von Waffen im Lokal untersagen. Die Freiwilligen bekommen angeblich 300 Dollar im Monat und werden möglicherweise von der ukrainischen Oligarchie oder vielleicht auch russischen Unternehmern finanziert. Zudem verfügt die Region in gewissem Umfang nach wie vor über eine eigene Produktion in Kohlebergwerken und Stahlbetrieben.

SB: Demnach wird die Produktion trotz der kriegerischen Auseinandersetzungen in dieser Region wenn irgend möglich aufrechterhalten?

UH: Ich habe selber ein Bergwerk besucht und dort die Äußerung gehört, das Leben unter der Erde sei sicherer als über der Erde. Es kam durchaus vor, daß Bergleute auf dem Weg zur Arbeit beschossen wurden. Die Werke haben weiter gearbeitet, solange die Stromversorgung gewährleistet war, da sie ständig das Wasser abpumpen und die Fahrstühle in Betrieb halten müssen. Ohne gesicherte Stromversorgung ist das Risiko zu groß, wenn man tausend Leute unter Tage hat. Sie hatten gerade in 700 Meter Tiefe einen neuen Stollen gegraben, worauf sie sehr stolz waren. Ich habe dann recherchiert und herausgefunden, daß sie sogar Kohle über Rußland in die Ukraine exportieren. Kiew hat die Grenze zu Donezk geschlossen, aber andererseits einen enormen Bedarf an Kohle. Diese wie zuvor aus Südafrika und Australien zu beziehen, ist viel teurer. Das kann sich die Westukraine nicht leisten, weil sie absolut pleite ist. Die Regierung in Kiew kann jedoch schwer rechtfertigen, daß sie aus der, wie sie sagt, von Rußland okkupierten Ostukraine Kohle bezieht. Der Westen des Landes bekommt zudem Gas aus Rußland und kauft auch Kohle aus russischen Bergwerken, was natürlich nicht öffentlich gemacht wird.

SB: Wie du in deinem gestrigen Vortrag ausgeführt hat, haben sich die Lebensverhältnisse in der Ukraine dramatisch verschlechtert. Worauf ist diese Entwicklung in erster Linie zurückzuführen und welche Folgen hat diese Verelendung der Bevölkerung?

UH: Was mich besonders erstaunt hat, war die Meldung, daß im Dezember 2014 im Zuge der dritten Mobilisierungswelle für die Armee viele Empfänger der Einberufung erklärten, sie hätten diese Post nicht bekommen. Andere versteckten sich bei Verwandten, und in Gebieten, wo die Nationalisten im Aufwind sind, fuhren viele in Bussen über die Grenze nach Rumänien, um dem Kriegsdienst aus dem Weg zu gehen. Die Lebensverhältnisse sind in der gesamten Ukraine sehr schlecht, zumal sich die Strom- und Gaspreise verdoppelt und verdreifacht haben, weil streng nach den IWF-Vorgaben die staatliche Subventionierung gekappt wurde. Der industrialisierte Gürtel im Osten der Ukraine hat früher eng mit Rußland zusammengearbeitet, und seit der Unterbrechung dieser Verbindung liegt die Wirtschaft darnieder.

Der Donbass war das Herz der Sowjetunion. In der Sowjetzeit wurde aus dem Agrarland Ukraine zugleich eine hochindustrialisierte Region, in der nun wieder eine Deindustrialisierung stattfindet. In Deutschland bekommt man wahrscheinlich nur am Rande mit, daß Millionen Ukrainer in Europa als Gärtner, Krankenpfleger oder in Privathaushalten und zwei Millionen auf Baustellen in Rußland arbeiten. In Rußland wurde diese chaotische Entwicklung 2000 gestoppt, als Putin wieder eine strenge Machtvertikale aufbaute. Hingegen fehlte in der Ukraine ein solches Zentrum, und die Oligarchen waren untereinander zerstritten. Es gab weder einen gemeinsamen Fixpunkt noch eine Übereinkunft, daß man als Staat nur vorankommen könne, wenn man sich auf einen Minimalkonsens einigt. Das ist wirklich tragisch für die Menschen, die zwischen Rußland und dem Westen zu Opfern werden. Sie tun mir wahnsinnig leid, zumal sie über Jahrzehnte relativ behütet lebten, sogar noch in der nachsowjetischen Zeit. Donezk war eine reiche Stadt, weil in der Region viel Kohle und Stahl produziert wurde. Im Zuge des geopolitischen Konflikts ist diese Basis weggebrochen.

SB: So schwer eine Prognose derzeit sein mag, möchte ich dich doch abschließend fragen, welche Perspektive du für die Ukraine siehst.

UH: Positiv sehe ich zum einen, daß die rußlandfreundlichen Kräfte nicht verschwunden, sondern politisch weiter präsent sind, wenngleich natürlich sehr eingeschränkt. Der Oppositionsblock, so nennt sich die Nachfolgeorganisation der Partei der Regionen, hat bei den Kommunalwahlen in der Südostukraine zwischen 15 und 30 Prozent der Stimmen bekommen und stellt in den drei großen Städten Odessa, Dnjepropetrowsk und Charkow den Bürgermeister. Angesichts der nationalistischen Stimmung äußert er sich sehr zurückhaltend, was die Zusammenarbeit mit Rußland betrifft. Man spürt jedoch, daß viele Menschen nur darauf warten, daß sie wieder offen reden können wie vor dem Maidan. Vorerst müssen sie auf der Hut sein, da rußlandfreundliche Leute fertiggemacht und nicht selten sogar erschossen werden. Poroschenko versucht, Oppositionelle über die Medien einzuschüchtern und als Vaterlandsverräter hinzustellen, was jedoch nicht so einfach ist, wenn sie Abgeordnete im Parlament haben. Ich halte den Oppositionsblock keineswegs für eine ideale Partei, aber man kann an den Wahlergebnissen ablesen, daß viele Menschen in ihm eine Vertretung ostukrainischer Interessen sehen und ihn deshalb wählen. Positiv schätze ich zudem ein, daß Minsk II einigermaßen stabil wirkt, weil Deutschland und Frankreich Poroschenko doch zwingen, mit seiner antirussischen Politik nicht zu übertreiben.

Für gefährlich halte ich, daß es keine landesweite politische Kraft gibt, die nicht antirussisch ist und das Leben der einfachen Menschen verbessern will. In der Zentral- oder Westukraine sind die Faschisten und Ultranationalisten keineswegs geschwächt. Die Partei Swoboda kam zwar bei den letzten Wahlen nicht ins Parlament, liegt jetzt aber in Umfragen bei etwa acht Prozent und tritt zunehmend militant auf. Vor der ungarischen Grenze haben sich ihre Anhänger ein Feuergefecht mit der Polizei geliefert, und vor der Rada demonstrierten alle Gruppierungen der Nationalisten gemeinsam gegen eine Dezentralisierung der Ukraine. Dann flog eine Granate unter die Polizisten, von denen vier getötet wurden. Diese Leute werden zunehmend radikaler, weil sie sehen, daß Poroschenko dem Westen Zugeständnisse macht und die Unzufriedenheit in der Bevölkerung angesichts der sozialen Notlage wächst. Davon hoffen die Nationalisten zu profitieren. Noch brechen sie allerdings nicht mit den Nationalliberalen, während Poroschenko mit seiner antirussischen Propaganda über die Medien versucht, sich als starker Führer der Ukraine zu präsentieren.

Nun kommt auch noch ein weiterer Konflikt mit Polen hinzu, da die neue national ausgerichtete Regierung in Warschau ganz empfindlich auf ukrainischen Nationalismus reagiert. Man erinnert sich wieder daran, daß Stepan Bandera 1934 an einem Mordanschlag gegen den polnischen Innenminister beteiligt war und die Ukrainische Aufstandsarmee in Lemberg Massaker an Polen, Juden und Kommunisten verübt hat.

Die Ukraine ist gegenwärtig ein sehr instabiler Staat, so daß weitere Überraschungen nicht auszuschließen sind. Die Führung in Kiew kann der Bevölkerung nichts außer ihrer nationalistischen Propaganda bieten, um sie zusammenzuhalten. Angesichts dieser Enge steht zu befürchten, daß sich der Klüngel um Poroschenko weiterer Provokationen bedient. Er leidet förmlich darunter, daß sich die Aufmerksamkeit nach Syrien verlagert hat, denn er kann seine verrückte Politik nur dann fortsetzen, wenn ganz Europa um diese arme Ukraine fiebert, die angeblich von Rußland zermürbt wird. Daher lebt die Regierung in Kiew zur Zeit im luftleeren Raum.

SB: Ulrich, vielen Dank für dieses ausführliche Gespräch.


Fußnote:

[1] Ulrich Heyden: Ein Krieg der Oligarchen - Das Tauziehen um die Ukraine. PapyRossa Verlag, Köln 2015, ISBN 978-3-89438-576-7


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13. Februar 2016


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