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INTERVIEW/052: Leipzig, das Buch und die Messe - Renaissance und Verjüngung ...    Steffen Haselbach im Gespräch (SB)


Eindruck, Ausdruck, Buchdruck - Impressionen
Leipziger Buchmesse, 17. bis 20. März 2016

Steffen Haselbach über Möglichkeiten und Entwicklung von Fantasy- und Science Fiction-Literatur mit neuen Erzählformen


Trotz der fortgeschrittenen Vereinzelung des Menschen in unserer Gesellschaft und seiner Überantwortung an Produktionsverhältnisse, die ihn nur noch nach seiner Nützlichkeit und Leistung bewerten, konnte der einfache Wunsch, daß das, was dieses Existieren zwischen Geburt und Tod zu bieten hat, unmöglich alles gewesen sein kann, nicht aus der Welt geschafft werden. Der Traum von Dingen jenseits des Augenscheinlichen findet auf vielfältige Weise seinen Ausdruck in Fantasy- und Science Fiction-Filmen und zahlreichen Bestsellern. Vielleicht - so die Hoffnung mancher unzufrieden Suchenden - reicht allein die geeignete Lektüre, um tatsächlich an ein Tor oder eine Schwelle zu jenen Gebieten zu gelangen, die gemeinhin der Zauberei vorbehalten zu sein scheinen, weil sie sich mit unseren alltäglichen Projektionen und Erwartungen nicht decken lassen? Sie könnten die Chance bergen, im nächsten Schritt der beengenden Ordnung, in der wir leben, eine andere Lebensform, andere Kenntnisse und Fähigkeiten bzw. neue Möglichkeiten zu denken entgegenzusetzen - oder auch die Gefahr, sich auf Nimmerwiederkehr in Wunsch- und Gegenwelten zu verlieren. Ihren Kritikern zufolge kann der Genuß von Fantasy-Literatur eine für das Leben und seine Problembewältigung gegenläufige Entwicklung auslösen: Wenige haben noch Lust, sich in ihrer Freizeit mit den Krisenerscheinungen unserer Zeit zu befassen, katastrophenübersättigt und der Warnungen müde will man in eine Welt voll Spannung, Abenteuer und Leidenschaft fliehen.


Drei Cosplayer-Elfen unter dem Glasdach der Messehallen - Foto: © 2016 by Schattenblick

... in der Gegenwelt verloren?
Foto: © 2016 by Schattenblick

Steffen Haselbach, Leiter der Abteilung Belletristik im Droemer Knaur Verlag, räumte bei der Vorstellung einiger Neuerscheinungen auf der Leipziger Buchmesse der Fantasy-Literatur weniger den Aspekt des Eskapismus ein. Vielmehr stellte er den Rückbezug zur langen abendländische Tradition der Fantastik "von Odysseus bis Martin Walser" her, die alle Figuren bzw. Charaktere und fantastische Kunstwelten erschaffen.

Unbezweifelbar ist eine der Stärken sowohl von Fantasy- als auch von Science Fiction-Literatur, unter dem Deckmantel einer Fantasy-Kunstwelt, in ferner Zukunft oder Vergangenheit der Menschheit, den Finger auf die Wunde der gesellschaftlichen Realität zu legen, dadurch provozieren, anregen, aufrütteln und neue Ideen in Umlauf bringen zu können, Mißstände aufzuzeigen und durch das ernüchternde Abbilden der Wirklichkeit Fragen zu stellen, ohne sie gleich zu beantworten. Das Spiel mit den Möglichkeiten, das Bekannte aus einem anderen Blickwinkel läßt den Leser ganz nebenbei erkennen, daß die Realität, in der wir leben, kein unveränderbarer Zustand ist. Wenn also von Literatur überhaupt eine Wirkung ausgehen kann, wenn sie Veränderungen auslösen will, dann wohl am unkompliziertesten durch diese beiden Genre, die zudem - ein großer Vorteil gegenüber "anspruchsvoller" oder "wertvoller" Literatur - unter seiner Leserschaft alle gesellschaftlichen Gruppen vereinen.

Nach der Preview hatte der Schattenblick die Gelegenheit, ein Gespräch mit Steffen Haselbach über die Auswirkungen von Self-Publishing auf die Verlage und das Potential von Fantasy- und Science Fiction-Literatur zu führen.


Steffen Haselbach am Droemer Knaur Verlagsstand - Foto: © 2016 by Schattenblick

'Ein guter Fantasyroman kann wie ein Brennglas wirken', Steffen Haselbach.
Foto: © 2016 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Inwieweit wirkt sich Self-Publishing und Literatur im Internet auf das Verlagsprogramm von Droemer Knaur aus?

Steffen Haselbach (SH): Self-Publishing wirkt sich schon seit einigen Jahren auf uns aus und eigentlich auf jeden Verlag in Deutschland. Es hat den Markt sehr vergrößert und schafft für viel mehr Menschen einen Zugang zur Literatur über das Internet, als es früher über die Buchhandlungen allein möglich war. Wir haben bei Droemer Knaur vor Jahren den Self-Publishing-Verlag Neobooks gegründet und mit diesem von Anfang an Hand in Hand gearbeitet. Das heißt, die Kollegen bei Neobooks haben mit uns kooperiert, so daß wir uns die zugkräftigsten Neuentdeckungen bei unseren eigenen Self-Publishern ansehen konnten und dann wiederum auch Buchpublikationen gemacht haben. Inzwischen haben wir etwa 20 bis 25 Autoren im Programm, die ursprünglich als Self-Publisher begonnen haben oder größtenteils auch noch als solche parallel unterwegs sind. Wir versuchen einfach, diese Entwicklung aufzugreifen und mit dem, was wir an Erfahrung in die Waagschale werfen können, mitzuhelfen, um so etwas wie Talent-Scouting zu betreiben und wirklich großen, tollen Autoren dann auch über die Buchhandlungen mehr Öffentlichkeit zu verschaffen.

Es ist tatsächlich so, daß speziell für den Bereich Fantasy die drittmeisten Manuskripte eingesendet werden, auch in unserem Self-Publishing Bereich. Da besteht eine ganz hohe Motivation zu schreiben und entsprechend gibt es auch ein großes Angebot. Wir haben dann natürlich die Qual der Wahl, wenn es darum geht, die Geschichten auszusuchen, die uns am meisten überzeugen.

SB: Wie erklären Sie sich diesen ungeheuren Fantasy-Boom auf dem Markt?

SH: Fantasy hat immer einen hohen Reiz ausgeübt. In einer Welt wie unsere, die auf unglaubliche Effizienz getrimmt ist, in der jeder sehr rational sein und seine Zeit einteilen muß - alles muß 'zack, zack, zack' gehen, alles ist auf Rendite und Wirtschaftlichkeit getrimmt -, sehnen sich die Menschen nach Geschichten, die eine Gegenwelt schaffen. Ein Stück weit ist sicherlich das die Attraktivität an dem Ganzen. Zudem hat sich die Fantasy in den letzten Jahren ausgesprochen interessant entwickelt. Wir haben nicht mehr nur die großen Schlachtengemälde der Völkerschlachten à la Hobbit oder ähnliche Geschichten, sondern es ist eine moderne Form von Erzählung mit dazugekommen, in der nicht nur schwarz und weiß regieren, sondern ganz viele Grautöne wie Helden, die gebrochen sind, die gute und schlechte Seiten haben. Das macht die Fantasy viel faszinierender als sie es vielleicht noch vor 20 oder 25 Jahren war.

SB: Haben Sie bestimmte Kriterien für die Auswahl?

SH: Wir versuchen von vornherein nicht so enge Grenzen aufzubauen, sondern fragen uns beim Lesen: Reißt mich das mit oder läßt mich das kalt? Wenn es mitreißt, ist es eigentlich schon gut, dann ist es auch gar nicht so wichtig, ob sich das auch noch mit der Programm-Philosophie deckt. Aber natürlich suchen wir auch nach diesen neuartig erzählten Stoffen, welche die Untiefen ausloten und den Leser im Ungewissen lassen, ob er sich auf diesen Helden verlassen kann oder nicht. Das finde ich sehr spannend und meine Mitstreiter*innen im Verlag auch.

SB: Welche Erfahrungen haben Sie mit Reaktionen auf mögliche Darstellungen von Gewalt in Science Fiction und Fantasy gemacht? Wie gehen Sie damit um?

SH: Wir verlegen auch sehr viel Spannungsliteratur und da gibt es außerordentlich brutale Geschichten, bei denen man sich wirklich manchmal wundert, daß es dafür überhaupt Fans gibt. Da werden Kinder und Frauen verstümmelt, es geht um Serienkiller, was wir im Verlags-Jargon als "Schlachtplatte" bezeichnen. Auch das hat seinen Markt und da entspinnt sich durchaus eine Diskussion. Auch in Historienromanen und in der klassischen Fantasy kann es zum Teil durchaus sehr blutig werden.

Bei Dystopien (düstere Science-Fiction-Erzählungen mit negativem Ausgang, Anm. d. SB-Redakt.), die mir jetzt aus dem eigenen Programm so einfallen, ist der Blutzoll dagegen im Vergleich eigentlich am geringsten. Denn darin werden Gesellschaften beschrieben, die entweder schon eine Katastrophe hinter sich haben, also in postapokalyptischen Verhältnissen leben, oder es droht eine Gefahr und es wird durch ein autoritäres Regime alles klein gehalten. Aber eine Gewaltexplosion und auch diese perfide Gewalt von geistig Gestörten, wie sie in anderen Genres ausgeschrieben wird, ist hier nicht so stark vertreten. Deswegen führen wir an dieser Stelle eigentlich keine Gewaltdiskussion.


Foto: © 2016 by Schattenblick

Preview des Droemer Knaur Verlags mit altbekannten und neuen Autorinnen und Autoren (von links: Steffen Haselbach, Julia Lange, Markus Heitz, Ivo Pala)
Foto: © 2016 by Schattenblick

SB: Sie sagten vorhin in der Preview, daß Gegenwelten einen Gegensatz zum Alltag darstellen. Aber gerade in Ihren neuen Buchvorstellungen setzen sich die Autoren doch sehr viel mit Problemen auseinander, die auch in der alltäglichen Realität vorkommen.

SH: Das stimmt. Ein guter Fantasyroman kann wie ein Brennglas wirken. Das heißt, der Autor fokussiert stärker etwas, das er als Konstellation kennt, Konflikte etwa, die ihm aus seiner Zeit und seinem Leben vertraut sind. Er schält aber vieles links und rechts weg, um den Konflikt stärker herauszuarbeiten. Das heißt, er reduziert auch ein Stück weit die gesellschaftliche Komplexität, die unsere moderne Welt hat, und guckt vielleicht in der Zeit zurück in eine eher mittelalterlich oder vormittelalterlich geprägte Gesellschaft, in der er diese Konflikte stärker herausarbeiten kann und sie zum Thema macht. Der Leser denkt dann natürlich mit und sagt: 'Ja, das kenne ich, das ist heute auch so, wenn ich zum Beispiel Flüchtlingsströme sehe', oder was auch immer uns hier jetzt gerade aktuell beschäftigt. Ich glaube, das kann eine gute Literatur auch in der Fantasy immer leisten, über den Rückspiegel auch den Spiegel vorzuhalten.

SB: Welches Potential sehen Sie persönlich in Fantasy?

SH: Fantasy ist nicht nur Fluchtliteratur. Das wäre doch ein bißchen respektlos. Es wird immer so leicht dahingesagt. Bei jeder Literatur ist unter Umständen auch Eskapismus ein Aspekt. Aber ich bin überzeugt, daß Fantasy in der Hinsicht viel mehr leisten kann. Science Fiction sowieso, weil sie schon per se Gesellschaftsfragen weiterspinnt und durchdekliniert und dann mal schaut, was paßt und was dabei herauskommt. Das ist für mich eigentlich das größte Faszinosum an diesen beiden Genres überhaupt.

SB: Leider ist die Präsenz von Science Fiction in Buchform ziemlich eingeschlafen und ihr Inhalt ist weit verstreut, zum Beispiel in Fernsehen und Hörfunk, im Film, als Comic oder Computerspiel, in der Werbung und als Kinderspielzeug.

SH: Ja, aber die Science Fiction kommt wieder, es gibt bereits mehr Angebote im Film. Mal schauen, ob der Funke nicht wieder auf den Buchmarkt überspringt. Ich würde mir das sehr wünschen. Die Science Fiction ist zu klein geworden für das, was sie schaffen kann. Sie macht einen Riesenspaß. Ich bin überzeugt, da ist noch vieles möglich.

SB: Herr Haselbach, vielen Dank für das Gespräch.

29. März 2016


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