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INTERVIEW/058: Links, links, links - im Auge des Betrachters ...    Sabine Schiffer im Gespräch (SB)


Verzweiflung und Mut

20. Linke Literaturmesse in Nürnberg



S. Schiffer in Großaufnahme - Foto: © 2015 by Schattenblick

Sabine Schiffer
Foto: © 2015 by Schattenblick

Die Medienpädagogin und Sprachwissenschaftlerin Sabine Schiffer, Mitbegründerin und Leiterin des Instituts für Medienverantwortung in Erlangen, hielt auf der Linken Literaturmesse in Nürnberg am 31. Oktober 2015 einen Vortrag zum Thema "ARD & Co - Wie Medien manipulieren". Am Rande der Messe erklärte sie sich bereit, dem Schattenblick einige Fragen zu beantworten.


Schattenblick (SB): Ich möchte mit einem kleinen Beispiel in das Thema Medienkritik einsteigen. Bei RT Deutsch [1] wurde vor einiger Zeit die Frage gestellt, wie es angehen könne, daß die US-Satellitenaufnahmen von russischen Kampfflugzeugen in Syrien gestochen scharf sind, während aus der Ukraine von den angeblich russischen Panzern nur grobkörnige Schwarz-Weiß-Fotos vorgelegt wurden. [2] Nun gilt Russia Today hierzulande als Propagandasender. Wie gehen Sie in der Medienkritik damit um?

Sabine Schiffer (SaS): Russia Today hat diese Frage gestellt, wie wir zuvor auch schon, weil es unsere Herangehensweise ist, sich so etwas genau anzusehen. Eigentlich sind wir es mindestens seit dem Kalten Krieg gewöhnt, daß Satellitenaufklärungsbilder aus allen möglichen Gegenden gezeigt werden, und dann ist es doch interessant, wenn es plötzlich über der Ukraine keine gescheiten Fotos gibt. Es wurde auch sofort ein Verdacht dazu geäußert, wer dieses Flugzeug der Malaysian Airlines abgeschossen hat, ohne die entsprechenden Bilder dazu zu liefern. Auch über Militärbewegungen und solche Dinge wurden Behauptungen ohne die entsprechenden Belege aufgestellt.

In solchen Fällen werden wir immer skeptisch und fangen an zu recherchieren. Wir machen dann auch sehr gerne eine Gegenüberstellung bzw. Gegenprobe, wie wir es beispielsweise bei der Süddeutschen Zeitung in bezug auf die Ukraine- und die Syrien-Berichterstattung getan haben. Bei den Wahlen, die in beiden Ländern durchgeführt wurden bei durchaus vergleichbaren Voraussetzungen - umstrittene Regime, Bürgerkrieg, Wahlen, die nicht in allen Gegenden durchgeführt werden konnten - haben wir festgestellt, daß die Wahl in der Ukraine durchweg positiv bewertet, die in Syrien jedoch abgelehnt und quasi als Machenschaft des Diktators Assad gewertet wurde. Bei solchen Gegenüberstellungen merkt man sehr schnell, wie unterschiedlich die Wertungen sind bei vergleichbaren, manchmal aber auch unterschiedlichen 'facts on the ground', was ebenso ein Fall für eine Gegenprobe ist. Die Frage nach der schlechten Qualität der Ukraine- Fotos können wir selber nicht beantworten, aber es spricht natürlich einiges für bestimmte Interessen. Aber was wir vor allen Dingen kritisieren, ist der Punkt, daß unsere Medien diese Fragen gar nicht stellen.

SB: Als Medienwissenschaftlerin sind Sie im Grunde Bestandteil dessen, was Sie analysieren und kritisieren, denn Sie müssen Ihre Ergebnisse, wenn Sie eine Wirkung erzielen wollen, Ihrerseits in genau den Bereichen medialer Mittel veröffentlichen, deren Mechanismen Sie aufdecken. Wie gehen Sie mit dieser Problematik um?

SaS: Wenn Sie sich unseren Web-Auftritt, einen unserer Flyer oder sonstige Dinge anschauen, werden Sie sehen, daß wir zum Thema Medienverantwortung mit dem Slogan gestartet sind: "Verantwortung für Medien, durch Medien, mit Medien". [3] Nach 10 Jahren - wir feiern dieses Jahr unser zehnjähriges Jubiläum - würde ich sagen: Dieser Ansatz ist grandios gescheitert, weil die Medien eine solche Debatte mit seriösen Medienkritikern nicht wollen. Da nimmt man sich lieber so ein paar plakative Leute, die man dann präsentieren kann, um zu sagen: Medienkritik ist immer übertrieben und unseriös, und außerdem machen wir einen guten Job.

Wir hatten tatsächlich gedacht, über das Thema Medien und Medienmechanismen auch mit der breiten Bevölkerung diskutieren und insgesamt mehr Bewußtsein für diese Prozesse, die wir in einer Demokratie für absolut wichtig halten, schaffen zu können. Wir wollten da Meinungsbildungsprozesse in Gang setzen und hatten die Medien dabei eher als Partner gesehen. Doch das ist, wie wir feststellen mußten, nicht der Fall. Da wird versucht, uns weitestgehend auszugrenzen, was immer wieder gelungen ist. Da werden gerne einmal unsere Forschungsergebnisse verwendet, ohne die Quelle zu nennen, oder unsere Beiträge und O-Töne werden in irgendwelchen Publikationen im letzten Moment doch noch rausgestrichen. Das hat uns eigentlich über die 10 Jahre hinweg immer begleitet.

Wir sind den Weg über alternative Medien und die Zivilgesellschaft gegangen und haben festgestellt, daß es ein großes Bedürfnis gibt in der Bevölkerung, der Friedensbewegung und den Bildungsinstitutionen, in der Fortbildung und bei Multiplikatoren, sich mit den Medien kritisch zu befassen. Lehrer beispielsweise haben sehr oft nachgefragt, um sich mit den Medienmechanismen - auch mit den neuen Medien - kritisch auseinandersetzen und das alles an die Schüler weitergeben zu können. Leider gibt es keinen systematischen Lehrplan für Medienbildung, aber ein bißchen was verändert hat sich da schon. Immerhin besteht dieser Anspruch noch, und so freuen wir uns, wenn es eine Gelegenheit gibt, mit den großen Medien diese Dinge zu debattieren, was selten genug der Fall ist. Dennoch kann man sagen: Die Leute, die sich dafür interessieren, finden uns trotzdem.

SB: Gibt es denn inzwischen Reaktionen der Medien, deren Mechanismen Sie aufdecken, daß vielleicht gesagt wird: Oh, wir wurden erwischt, jetzt müssen wir doch ein bißchen sorgfältiger arbeiten? Wenn Sie heute auf diese 10 Jahre zurückblicken: Gibt es Beispiele, daß Ihre Arbeit insofern doch Früchte getragen hätte?

SaS: Dazu können wir sagen, daß wir in Kontakt stehen zu etlichen Kollegen, die wirklich versuchen, bestimmte Dinge umzusetzen. Wir haben zum Beispiel in verschiedenen Institutionen eine Schulungseinheit gemacht, die nennt sich "Rassismuskritische Ansätze für den Journalismus'. Viele Kollegen greifen darauf zurück oder haben daran teilgenommen. Natürlich kommen erst einmal diejenigen, die sowieso eine gewisse Sensibilität für das Thema haben. Die meisten Leute wollen nicht rassistisch sein und betrachten das dann eher mythisch, so nach dem Motto: "Wenn ich das nicht will, dann gucke ich mir das lieber gar nicht erst an, und dann bin ich auch nicht rassistisch." Aber so funktioniert das natürlich nicht.

Wenn wir beispielsweise etwas sehen, das schiefgelaufen ist in der Hektik des journalistischen Alltags, dann erlebe ich häufig, daß die Redakteure wahnsinnig unter Zeitdruck stehen. Da ist es natürlich besonders schwierig, bei irgendwelchen Texten, die von einer Agentur kommen und die man vielleicht redigieren muß, gleich die Kriterien voll anzuwenden und zu prüfen, was wir da eigentlich weitertransportieren. Sind wir schon wieder bei "Flüchtlingsströmen" angekommen, also bei einer Metapher, die den Menschen das Gefühl vermittelt, da kommt eine Naturgewalt auf mich zu, gegen die ich mich wehren muß? Die Auswirkungen kennen wir ja schon aus den 90er Jahren.

Wir sehen an der Berichterstattung, daß der kritische Aufmerksamkeitsgrad dafür nicht sehr hoch ist. Wenn wir dann solche Dinge in die Redaktionen zurückmelden, bekommen wir durchaus ein positives Feedback: Danke für den Hinweis, das ist uns so durchgerutscht. Aber das wird nie veröffentlicht. Es gab zum Beispiel einmal in einer überregionalen großen deutschen Tageszeitung eine fehlerhafte Berichterstattung über uns selber und unsere Publikumsinitiative. Die hat behauptet, daß wir bereits ein Publikumsrat wären, aber wir sind erst eine Initiative zur Gründung eines Publikumsrates. Auf unseren Hinweis hin hat sie dann zwar diesen Fehler korrigiert, aber so, daß man ihn uns anlasten könnte, so als hätten wir sie vorher bewußt falsch informiert. Die Zeitung hat nicht öffentlich gemacht, daß sie den Fehler gemacht hat. Und dann ging durch die entsprechenden anderen Medien beziehungsweise Blogs und Mediawatch-Seiten, die manchmal seriös sind und manchmal eben auch nicht, daß wir versucht hätten, uns etwas auf die Fahnen zu schreiben, was wir gar nicht sind. In einem solchen Diskurs hat der kleinere Akteur immer die schlechteren Karten, da muß man dann ein bißchen auf die Medienkompetenz der Leute setzen.

SB: Sie haben hier auf der Linken Literaturmesse in Nürnberg einen Vortrag zum Thema Medienmanipulation gehalten und sind in den vergangenen Jahren schon häufiger auf Kongressen im linken Umfeld als Referentin dabei gewesen. Verstehen Sie sich als Teil der linken Bewegung oder definieren Sie sich ausschließlich über die Medienkritik?

SaS: Ich bin Medienanalytikerin und medienwissenschaftlich unterwegs. Von Hause aus bin ich Sprachwissenschaftlerin und habe mich dann in dem Bereich der Semiotik, also der Zeichenlehre, wo es darum geht, wie Zeichen, Bilder und Sprache unsere Wahrnehmung beeinflussen, weiterbewegt und da auch promoviert. Ich betrachte mich als Teil der Friedensbewegung, und wenn man jetzt sagt, die Friedensbewegung ist links, dann müßte ich mich auch da verorten.

Es gibt zum Beispiel das Konzept des Friedensjournalismus, von dem ich nicht so begeistert bin, weil es, wie man bei der Art, wie wir an eine Medienanalyse herangehen, sehen kann, bestimmte Regeln vorgibt, ohne den Kontext zu prüfen. Es ist meiner Meinung nach gar nicht immer gut, über die Opfer vor oder in einem Krieg ausschließlich aus ihrer Sicht zu berichten. Natürlich ist es sinnvoll, die Opfer sichtbar zu machen, keine Frage, das wurde ja oft unterlassen. Aber ich kann - Stichwort humanitäre Intervention - mit der Opferberichterstattung sogar Kriegspropaganda machen. Da muß man immer eine Kontext- bzw. Interessenklärung machen. Wir können das sehr gut an dem Beispiel sehen, wie mit muslimischen Frauen argumentiert wird, um Kriege zu rechtfertigen. Ich würde sagen, da gibt es eine hohe Sensibilität, weil wir solche Dinge schon öfter analysiert haben. Aber ich würde mich auch ganz klar als einen Teil der Friedensbewegung betrachten und sagen: Kriegspropaganda, das geht hier in unserem System gar nicht, und dementsprechend würde ich das auch aus einer politischen Perspektive heraus kritisieren.

SB: Sie haben in Ihrem Vortrag erwähnt, daß die privat organisierten Medien keinen Auftrag zur Berichterstattung haben wie die öffentlich-rechtlichen. In einer kapitalistisch strukturierten Gesellschaft sind private Medien natürlich auch Unternehmen, die in erster Linie Gewinne maximieren müssen. Läuft da eine Medienkritik nicht insofern ein bißchen ins Leere, als man eigentlich fragen könnte: Ja, was haben wir denn anderes erwartet?

SaS: Ja, das könnte man. Eigentlich wäre es sogar fair, darauf hinzuweisen und jeden Tag öffentlich zu machen, daß diese Medien den Anspruch, den wir auch an sie haben, nämlich daß sie uns informieren und bilden sollen, gar nicht zu erfüllen brauchen. Sie müssen in erster Linie ökonomisch erfolgreich sein, sonst gäbe es sie gar nicht. Nun behaupten sie aber selber - also auch die nicht mit einem Staatsvertrag versehenen Medien -, daß sie höhere Ansprüche hätten und nicht nur nach dem großen Mammon trachten, und da können wir sie natürlich beim Wort nehmen. Und wir haben beispielsweise den Pressekodex des Presserats [4]. Das ist eine Selbstkontrollorganisation der Presse. Da wurden ein paar Richtlinien formuliert, die, wie ich sagen würde, das Grundgerüst der Medienethik sind.

Doch die Verfahren - das Beschwerdeverfahren, auch das Prüfungsverfahren, in denen die Kollegen alle ehrenamtlich arbeiten - funktionieren nicht wirklich hervorragend. Da scheint viel nach persönlichem Gusto und nicht so sehr nach einem richtigem Kriterienkatalog gearbeitet zu werden. Aber im Grunde genommen ist der Selbstanspruch da und damit kann ich den Anspruch auch von außen stellen, beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk natürlich erst recht. Der wird von uns allen finanziert und hat gefälligst die Aufgaben zu erfüllen, die in den Rundfunkstaatsverträgen festgelegt sind. Da sind wir als Publikum mit unserer Medienverantwortung aufgerufen, das auch einzufordern und auf die Barrikaden zu gehen, wenn das nicht geschieht. Vielleicht sollte man tatsächlich einmal wegen der Verletzungen der Staatsverträge klagen, also nicht diesen Beschwerdeweg gehen, der ja meistens in der Länge der Verfahren versandet.

SB: Stichwort vierte Gewalt: Ist es wirklich sinnvoll, damit heute noch zu argumentieren? Es gibt ja den Einwand, daß die Gewaltenteilung schon bei den ersten drei Gewalten nicht wirklich halten würde, was sie verspricht. Ist die Presse mit der Rolle der vierten Gewalt nicht auch möglicherweise überfordert?

SaS: Wenn man dem System staatlicher Gewalt insgesamt skeptisch gegenübersteht, könnte man sagen, daß die Idealisierung der Medien als vierte Gewalt, so würde ich das einmal nennen, systemstützend ist, zumal wenn man in einem freiheitlich-demokratischen System davon ausgeht, daß die bürgerliche Kontrolle funktioniert, was natürlich ein Idealtypus ist, der so überhaupt nicht zu halten ist. Auf der anderen Seite muß ich sagen, daß ich den Rahmen, den wir jetzt haben, von der Idee her gar nicht so schlecht finde, einmal abgesehen davon, daß wir kein gerechtes Weltwirtschaftssystem haben. Mit bestimmten Eigenheiten der Verwaltung - das Ganze muß ja auch irgendwie organisiert werden - könnte ich durchaus leben, wenn man es denn ehrlich meinen würde. Aber das funktioniert, wie man sehen kann, eben nicht.

Die Akkumulation enormer Reichtümer bei ganz wenigen und - weltweit betrachtet - die Verarmung großer Massen, die dann zu den vielen Fluchtbewegungen führt, die wir jetzt haben, stellt eine Destabilisierung im großen Maßstab dar. Da versagen unsere Medien komplett, das kann man eindeutig feststellen. Sie erfüllen gerade nicht ihre Rolle der vierten Gewalt. Manchmal kann man sogar den Eindruck haben, sie verstehen nicht, was die vierte Gewalt eigentlich bedeutet, nämlich nicht, Mißstände anzuprangern. Nein, das ist nicht genug, denn Mißstände gibt es viele, und zwar auch auf der Seite der Schwachen. Aber es geht darum, die Mächtigen zu kritisieren, ich muß eine Machtanalyse machen. Das heißt, es ist die Frage, ob ich jetzt zum Beispiel eine schwache Gruppe, die sich radikalisiert, in den Fokus nehme und deren Radikalisierung anprangere oder ob ich die mächtige Gruppe, die diese Radikalisierung durch politische, ökonomische und sonstige Entscheidungen herbeigeführt hat, analysiere und die systemische Macht, die da in Erscheinung tritt, kritisiere. Da wäre ich immer der Ansicht, daß das die Rolle der vierten Gewalt wäre, doch ich habe den Eindruck, daß dieses Verständnis zunehmend verlorengeht.

SB: Sie haben vorhin Samuel Huntington erwähnt. Welche Rolle spielt sein wohl bekanntestes Werk, der "Kampf der Kulturen" [5], Ihrer Meinung nach?

SaS: Vielfach wird vergessen, daß es eine Vorlage für Huntington gab, die sein Kollege und Freund Bernard Lewis in einer Rede formuliert hat, die dann 1990 als Aufsatz im "Atlantic Monthly" erschienen ist mit dem Titel "The Roots of Muslim Rage". [6] Was dort zur Radikalisierung von Muslimen und so weiter geschrieben wurde, ist in das Buch von Huntington eingeflossen. Ich denke, man sollte so ein Buch nicht immer nur als Analysebeschreibung lesen, sondern als ein Strategiepapier. Sobald man das tut, kann man sehen, daß Huntington sich leider ziemlich gut durchgesetzt hat und daß mit der Dämonisierung der Muslime und dem Aufbau und der Pflege des Feindbildes Islam sehr gut geostrategische Politik zu machen ist, nämlich genau dort, wo viele Muslime leben und wo die Ressourcen lagern und die Ressourcenwege verlaufen.

Das analysiert Conrad Schuhler jetzt in seinem aktuellen Buch [7], Daniele Ganser vom Schweizer Friedensforschungsinstitut hat das in seinen Studien dargelegt. Auch Werner Ruf und ich haben wie viele, die sich mit der MENA-Region, also dem Nahen Osten und Nordafrika [8], beschäftigen, immer wieder auf diese Zusammenhänge hingewiesen, bei denen es sich im Grunde genommen um eine globale Strategie handelt. In dem Buch, das ich auf der letzten Linken Literaturmesse vorgestellt habe, "Ukraine im Visier" [9], gibt es einen Aufsatz von Jochen Scholz, der genau um dieses Thema kreist, nämlich die geostrategischen Interessen in Osteuropa und in der Ukraine. Was er dort für diese Region zur Kontrolle ganzer Politiken, wie ich es einmal nennen möchte, analysiert hat, kann man auf den Nahen und Mittleren Osten genauso anwenden.

Wenn man dann die Katastrophen einen Moment lang aus dem Fokus nimmt, zeigt sich bei näherer Betrachtung, daß der angeblich plötzlich aufgetauchte sogenannte "Islamische Staat" ein Propagandawort für eine ganz andere Organisation ist. Wäre das ein islamisches Thema, dann müßte es den doch seit 1400 Jahren geben! Das Phänomen ist aber erst vor ein paar Jahren aufgetaucht. Wenn ich das geostrategisch analysiere, kann ich sehr gut verstehen, warum es aufgetaucht ist und welche Funktion es erfüllt. Und wenn es mir dann noch gelingt, von der Betrachtung der Greueltaten vor Ort, was die meisten Medien machen, ein bißchen in eine Vogelperspektive zu gehen und mir das Ganze von oben anzusehen, komme ich natürlich zu einer ganz anderen Analyse der Zusammenhänge.

SB: Der Krieg gegen den sogenannten Islamischen Staat und der Bürgerkrieg in Syrien sind eigentlich Beispiele, bei denen man sich fragen könnte, wie es überhaupt eine einigermaßen seriöse Berichterstattung geben kann, wenn alle Akteure, die aus einem solchen Kriegs- und Katastrophengebiet berichten, eigentlich selbst Konfliktbeteiligte sind. Müßte nicht spätestens an diese Stelle der in den Medien erhobene Wahrheitsanspruch in Frage gestellt werden?

SaS: Das könnte man natürlich tun. Aber wir sind ja auch Akteure. Wenn wir beispielsweise in der Bundespressekonferenz irgendetwas in Erfahrung bringen wollen, sind wir nicht nur Beobachter und Berichterstatter, sondern selbst Akteure. Um da rein zu kommen, muß man schon etwas opportun sein. Syrien ist natürlich auch ein gutes Beispiel. Da ist ja fast niemand. Unsere Korrespondenten reisen höchstens für sechs Tage ein. Da kann man sich kein Bild verschaffen und ist sozusagen von vornherein geleaded und gebrieft beziehungsweise auf den Fixer oder Stringer vor Ort angewiesen, der die Kontakte hat und einen irgendwo hinbringen kann. Wie frei man sich in Syrien bewegen kann, wenn man so ein Reisekorrespondent ist, kann ich im Moment gar nicht beurteilen.

Ich weiß nur von der einzigen akkreditierten deutschen Journalistin in Syrien, daß sie eine relativ unabhängige Berichterstattung macht, ihr aber gleichzeitig vorgeworfen wird, sie würde im Sinne des Assad- Regimes berichten. Das ist ein interessantes Phänomen, weil sich das jetzt plötzlich ändert. Sie bekommt neue Anfragen, auch von den Mainstream-Medien, weil die Politik sich geändert hat. Da kann man sehen, daß die Glaubwürdigkeit oder Unglaubwürdigkeit von Journalisten nicht unbedingt von ihrer Arbeit abhängt, sondern davon, was hier gebraucht wird. Und dann sucht man sich eben die entsprechenden Stimmen aus der Region und findet sie auch.

Ich amüsiere mich jeden Morgen, wenn ich im Radio höre, daß die "Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte", dieser Ein-Mann-Betrieb in London, der eine ganz klare Agenda hat und den man auch in seiner politischen Ausrichtung identifizieren kann, immer wieder als neutrale Beobachtungsstelle und Quelle zitiert wird. Warum er, warum nicht zum Beispiel Karin Leukefeld? Da wird vollkommen unhinterfragt - das ist wirklich teilweise erstaunlich - mit der Problematik des "embedded journalism" umgegangen. Wenn ich in so einem Gebiet oder überhaupt im Krieg von Militärs begleitet werde, was in diesem Konzept ja so ist, dann nehme ich natürlich auch eine bestimmte Perspektive ein, was gar nicht so schlimm wäre, wenn ich sie benennen würde. Man könnte doch sagen: Ich bin hier jetzt mit dem und dem unterwegs und deswegen erwarte ich, daß ich nur die und die Ausschnitte zu sehen bekomme, ich habe aber auch noch das und das gesehen.

Das ist eigentlich wie in der Wissenschaft. Man müßte im Journalismus sehr viel mehr eine Transparenzschiene aufbauen und sagen: Das ist meine Position, von der aus betrachte ich das. Wer behauptet denn, neutral zu sein? Das gibt es doch überhaupt nicht. Jeder hat immer irgendwelche Prämissen im Kopf, mit denen man an eine Sache herangeht. Wenn die in einem Medium klar aufdeckt werden, kann ich die Betrachtung besser einschätzen, und dann ist es mir auch egal, um welches Medium es sich handelt. Das ist dann möglicherweise sogar seriöser als alles, was wir immer in unseren Nachrichtenformaten präsentiert bekommen, wo einer mit Anzug und Krawatte steht und uns suggeriert, er würde vollkommen neutral berichten.

SB: Wenn verläßliche Angaben beispielsweise zur militärischen und humanitären Lage in Kriegs- und Krisengebieten eigentlich gar nicht gemacht werden können, wäre es dann nicht das Seriöseste, dieses Unvermögen klarzustellen, wozu Medienschaffende allerdings kaum bereit sein dürften?

SaS: Genau, das geht gar nicht. Und wenn man Nachrichten bringt, muß man natürlich auch Bilder liefern, was nicht heißt, daß der Hörfunk da wirklich in einer anderen Lage ist. Bilder bekommt man irgendwo her, notfalls aus Youtube. Wenn die aus dem Irak sind, merkt es kaum jemand, wenn man die auch einmal für Syrien nimmt. Das ist alles schon passiert, ich spitze das jetzt nur ein bißchen zu. Aber das ist tatsächlich auch so eine Art Zwang, der bedient werden muß und wo sich anscheinend bis heute niemand traut, das Publikum für voll zu nehmen und ihm klar zu sagen, was da eigentlich Sache ist. Karin Leukefeld beispielsweise - ich nenne sie als Beispiel, weil ich sie auf der Frankfurter Buchmesse interviewt habe - sagt: Ich bin keine Kriegsreporterin. Ich kann nicht sagen, wer da wen beschossen hat, weil ich erst danach dahin komme, verschiedene Leute interviewe und versuche, mir ein Bild zu machen. Damit kommt sie eben nicht in die Nachrichten und wird nicht wie die Syrische Beobachtungsstelle in London als Quelle genannt. Bei ihrer Arbeitsweise kommt anscheinend nicht das heraus, was man hören will, dabei wäre das eindeutig der seriösere Journalismus.

SB: Fällt Ihnen noch ein Schlußwort ein?

SaS: Eigentlich ist es zum Weglaufen. Seit ich diese Arbeit mache - das Institut gibt es jetzt seit 10 Jahren, aber ich bin schon seit 20 Jahren dabei -, habe ich den Eindruck, daß es immer schlimmer wird. Es sind tatsächlich solche Veranstaltungen wie hier die Linke Literaturmesse, wo man in den Gesprächen merkt, daß es doch ein ernsthaftes Interesse gibt, sich mit solchen Dingen auseinanderzusetzen, die einen immer wieder weitermachen lassen. Man wird ja bekämpft für diese Arbeit, das ist nicht immer der leichteste Weg. Aber meine Hoffnung ist, daß es genügend Leute gibt - auch hier, wie ich heute gesehen habe - für eine nächste Generation, die sich diesen Themen widmet und in diesem Bereich weitermacht. Man darf sich nicht entmutigen lassen von den Mächtigen, auch wenn man manchmal den Eindruck hat, solche Tendenzen zu beobachten. In der Geschichte der Menschheit insgesamt gesehen haben sich immer wieder sehr positive Entwicklungen durchgesetzt. Ich bin der Meinung, daß es die Menschen längst nicht mehr geben würde, wenn sie nicht grundsolidarisch wären. An diesen vielen kleinen Mosaiksteinchen, den Gesprächen mit Multiplikatoren und anderen, halte ich mich fest und schöpfe Mut, denn ansonsten müßte man verzweifeln.

SB: Frau Schiffer, vielen Dank für dieses Gespräch.


Fußnoten:

[1] RT, zuvor "Russia Today", ist ein vom russischen Staat finanzierter Auslandsfernsehsender, der seit November 2014 mit "RT Deutsch" auch ein Nachrichtenportal in deutscher Sprache unterhält.

[2] https://deutsch.rt.com/33509/international/wieso-funktioniert-us-satellitentechnik-in-syrien-aber-nicht-in-der-ukraine/

[3] Institut für Medienverantwortung, Leitung: Dr. Sabine Schiffer
http://www.medienverantwortung.de/

[4] www.presserat.de/pressekodex/pressekodex

[5] Samuel P. Huntington, US-Politikwissenschaftler und Autor, lehrte am John M. Olin Institute for Strategic Studies der Harvard- Universität und war für das US-Außenministerium als Berater tätig. In seinem umstrittenen Buch "The Clash of Civilizations" (Kampf der Kulturen) von 1996 stellte er die These auf, daß sich anstelle der bisherigen nationalstaatlich verfaßten und sich zu verschiedenen Ideologien bekennenden Bündnissen nach dem Ende der Blockkonfrontation weltweit neue Konfliktlinien zwischen kulturell unterschiedlich geprägten Zivilisationen durchsetzen würden.

[6] http://www.theatlantic.com/past/issues/90sep/rage.htm

[7] Alles Charlie oder was. Religionskritik - Meinungsfreiheit oder Schmähung? von Conrad Schuhler
http://shop.papyrossa.de/Schuhler-Conrad-Alles-Charlie-oder-was

[8] MENA ist die Abkürzung für Middle East & North Africa.

[9] Ukraine im Visier: Russlands Nachbar als Zielscheibe geostrategischer Interessen, von Ronald Thoden und Sabine Schiffer (Herausgeber), Eckart Spoo (Vorwort), Jochen Scholz, Volker Bräutigam und Kai Ehlers (Mitwirkende)
http://www.amazon.de/Ukraine-Visier-Zielscheibe-geostrategischer-Interessen/dp/3981696301


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Zur 19. Linken Literaturmesse 2014 siehe unter dem Sammeltitel "Linksliteraten" im Schattenblick unter:
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http://www.schattenblick.de/infopool/d-brille/ip_d-brille_report_interview.shtml

13. April 2016


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