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INTERVIEW/102: Richtige Literatur im Falschen - es spricht das Ungesagte ...    Norbert Niemann im Gespräch (SB)


Gespräch am 8. Juni 2018 in Dortmund


Norbert Niemann hat Literatur-, Musikwissenschaft und Geschichte studiert. Er war bis 1998 Gitarrenlehrer und hat seither als freier Schriftsteller Romane, Prosa, Essays und Texte fürs Musiktheater verfaßt. Er ist Herausgeber und schreibt Beiträge für Zeitungen, Zeitschriften und für den Rundfunk, führt Projekte mit Bildenden Künstlern und Komponisten durch und ist Dozent diverser Schreibseminare. Unter seinen zahlreichen Auszeichnungen sind insbesondere der Ingeborg-Bachmann-Preis (1997), der Clemens Brentano-Preis (1999), der Carl-Amery-Preis (2015) wie auch diverse Stipendien zu nennen. Sein letzter Roman "Die Einzigen" ist 2014 erschienen, 2017 kam der Essay "Erschütterungen. Literatur und Globalisierung unter dem Diktat von Markt und Macht" heraus.

Das diesjährige Symposium "Richtige Literatur im Falschen" fand vom 7. bis 9. Juni 2018 in der Dortmunder Zeche Zollern zum Thema "Literatur in der neuen Klassengesellschaft" statt. In der Sektion I - Phasen der alten Klassengesellschaft von Weimar bis Bonn - hielt Norbert Niemann ein Kurzreferat zum Thema "'Geist und Tat', 'Wissen und Verändern!' Gesellschaftskritik und Gesellschaftsutopie in der Weimarer Republik bei Heinrich Mann und Alfred Döblin". Im Anschluß daran beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen.


Auf dem Podium mit Mikro - Foto: © 2018 by Schattenblick

Norbert Niemann
Foto: © 2018 by Schattenblick


Schattenblick (SB): In deinem Vortrag hast du über Schriftstellerlegenden wie Alfred Döblin und Heinrich Mann gesprochen. Bemerkenswerterweise fallen einem zwar sehr viele Klassiker ein, aber weitaus weniger zeitgenössische literarische Verarbeitungen der herrschenden Verhältnisse, die diese beeindruckende Fülle haben. Ist dieser Eindruck zutreffend oder hat man noch nicht realisiert, was gerade am Entstehen ist?

Norbert Niemann (NN): Wie ich bereits in meinem Vortrag geschildert habe, sah man sich auch damals mit dem großen Schweigen konfrontiert. Wenn wir von heute aus in die Geschichte zurückblicken, bekommt man sicherlich den Eindruck von Fülle und weiß von all diesen Stimmen, weil wir diese Zeiten aufgearbeitet haben. Offensichtlich ist das aber zu Lebzeiten von diesen Schriftstellern nicht so empfunden worden. In meinem Buch "Erschütterungen. Literatur und Globalisierung unter dem Diktat von Markt und Macht" gehe ich darauf ein. Die Bücher sind ja vorhanden, und ich habe das Glück und auch Privileg gehabt, viele, auch internationale Kollegen zu kennen, die mir Tipps gegeben haben, was man lesen sollte. Man kann eine unglaublich spannende Geschichte der Gegenwart aus der Perspektive der Literatur erzählen, wenn man die Informationen hat, wenn man sie zusammenträgt und zusammendenkt. Das liefert der Literaturbetrieb überhaupt nicht mehr. Und das ist vielleicht auch eine Parallele zu früher. Deswegen lege ich auch so viel Wert darauf, wenn wir über Öffentlichkeit sprechen, daß diese bei uns ökonomisiert ist.

Daraus folgt ein Riesenproblem, das auch klassisch war bei Heinrich Mann zum Thema genau dieser Ökonomisierung, daß sich die Presse entsprechend verändert, auch ohne daß Zensur ausgeübt wird, weil sie einfach überleben muß. Döblin hat schon die Gefahr dieser Ausweitung von öffentlichen Strukturen, also von Öffentlichkeit, die propagandistisch wird, gesehen, was wir heute als Populismus bezeichnen würden. Ich glaube, das gab es damals auch, ganz massiv, was nichts anderes bedeutet als die Emotionalisierung von politischen Inhalten. Und wer konnte das besser als Joseph Goebbels. Das ist auch der Grund, warum Goebbels heute so erschreckend wirkt, weil es etwas aussagt über eine Struktur von Öffentlichkeit. Die Frage ist nun, wie können wir es so strukturieren, daß die Stimmen der Literaten auch in der Öffentlichkeit wieder wahrgenommen werden als eine lebendige Sache. Das Problem, das wir heute haben, ist vielleicht sogar krasser als damals. Deswegen ist die Gefahr, die vom Populismus und auch von der Ökonomisierung der Öffentlichkeit ausgeht, so groß.

SB: Würdest du sagen, daß die Lebenszusammenhänge damals enger oder dichter beieinander waren, so daß eine andere Art von Übertrag möglich war, demgegenüber wir heute eher in einer Gesellschaft leben, die in hohem Maße gespalten, zersplittert und individualisiert ist, daß trotz der vielen Kommunikationswege die Fähigkeit zu einem Gespräch oder Dialog abnimmt, weil die Menschen diese Nähe gar nicht mehr aufbringen?

NN: Ja, das hat natürlich mit der spezifischen Nutzung dieser Medien zu tun, und das war immer schon ein Thema auch der Linken. Beispielhaft wäre Brechts Radiotheorie zu nennen. Es liegt nicht nur an den Medien selber, wiewohl auch, sondern an der bestimmten Art ihrer Nutzung. Ich glaube allerdings, daß es damals ähnlich zerklüftet war, wie es auch immer wieder in der Geschichte ähnliche Zerklüftungen gab, nur waren sie jeweils anders. Sie erscheinen uns vielleicht übersichtlicher, weil wir sie aufgearbeitet haben, unter anderem, indem wir vor allem die Texte, aber auch die Ästhetiken aus der Zeit, sehr intensiv nach der Katastrophe des Dritten Reichs erforscht haben, daß gefragt wurde, was haben sie eigentlich unterdrückt und wie kann man es sozusagen wieder lebendig machen. Die Fragen stellen sich heute ein bißchen anders. Mir ist allerdings wichtig, daß es etwas gibt, das gleich geblieben ist. Es wäre großartig, wenn man einen Text wie "Wissen und verändern!" von Döblin sozusagen in den öffentlichen Diskurs zurückbringen und so die Ansätze zur Utopie des Sozialismus wiederherstellen könnte. Der Text enthält den Grundantrieb, um was es eigentlich dabei geht, bevor dieser ganze ideologische und emotionalisierte Wahnsinn darüber hergebrochen ist. Um ein Fundament zu bauen, ist der Text immer noch unglaublich aktuell und kräftig.

Gleichzeitig verändern sich natürlich die Dynamiken in den jeweiligen Zeiten, das heißt, man braucht immer auch eine neue Sprache, die man erst finden muß. Die Frage ist doch, was leistet Literatur, wenn sie mehr sein will als eine Analyse oder Beschreibung? Die Qualität von Literatur erweist sich daran, ob sie es schafft, eine Sprache für etwas zu finden, das noch keine hat und in Schweigen gehüllt ist. Das ist das entscheidende, und dann sind plötzlich Inspirationen möglich. Man liest nicht etwas und sagt, aha, so ist das also, wenn man Flüchtling ist, sondern man liest und sagt, da ist eine Sprache, die mich unmittelbar berührt und in der sich Dinge wie Fenster neu öffnen. Das ist die Grundidee von Kunst überhaupt, einen neuen Blick auf Dinge zu kriegen. Dieser muß immer wieder neu geschaffen werden. In diesem Punkt bin ich ganz nah bei Döblin und bei der Permanenz der Revolution oder des Widerstands bei Peter Weiss, daß dieser Prozeß nie aufhören wird.

SB: Welches Moment ist aus deiner Sicht notwendig, um diesen Prozeß voranzutreiben, und was kann ein engagierter Schriftsteller dazu leisten?


Podium von der Seite - Foto: © 2018 by Schattenblick

Literarische Organisationsmacht ...
Foto: © 2018 by Schattenblick

NN: Das spürt man auch hier auf unserer Konferenz, es gibt dieses große Bedürfnis, sich wieder zu reorganisieren, was Hans-Jürgen Urban gestern Organisationsmacht genannt hat. Das zu fördern, gehört heute mit dazu. Ich bin ja ein alter Hase im Geschäft, ich kämpfe und werde publiziert, ich werde auch gedruckt, man kann mich lesen. Aber wenn Uwe Tellkamp sinngemäß schreibt, 95 Prozent aller Asylbeantragenden wollen nur den deutschen Sozialstaat unterwandern, also populistischen AfD-Scheiß quatscht, dann redet die ganze Nation darüber. Das heißt, der konstruktive Bereich im intellektuellen Diskurs, der Dinge positiv zusammenballt, was auch hier versucht wird, muß in den allgemeinen öffentlichen Diskurs zurückgebracht werden. Das ist auch eine politische Aufgabe. Dazu müssen die Parteien erst einmal kapieren, daß sie dem Populismus nicht weiterhin auf kultureller wie auch ästhetischer Ebene, also in der Art, wie sie Politik machen, das Feld überlassen und sich so letztlich das Fundament des Demokratischen, das konstruktive Finden von Lösungen selber weggraben.

Für mich ist die politische Krise auch ganz zentral eine kulturelle Krise, die genau damit zu tun hat. Es war schon einmal strukturierter, es gab auch die Möglichkeiten dazu. Viele kleine Sachen müßte man da ändern. Beispielsweise muß man sich darüber Gedanken machen, ob das Talkshow-Format im öffentlich-rechtlichen Fernsehen tatsächlich das Richtige ist und demokratisch funktioniert oder nur Blasen produziert. Wenn einer moderiert, sind das keine Diskurse im eigentlichen Sinne, sondern nur like- oder dislike-mäßige Abbildungen. Jemand sagt, die Meinung von Sarah Wagenknecht ist richtig, und der andere sagt, nein, ich finde richtig, was Herr Markwort dazu meint.

SB: Bricht man es auf seinen eigentlichen Inhalt herunter, handelt es sich dabei um ein vermeintliches Urteil über die Wirklichkeit in Ja-Nein-Entscheidungen, wobei Stereotypen den Menschen suggerieren, er habe eine relevante Wahlmöglichkeit.

NN: Über die Terminologie oder eben solche Installierungen von Entscheidungsprozessen wird eine Gesellschaft natürlich strukturiert, und das ist ein Riesenproblem. Die Frage ist, wie kommt es zur Machtbildung? Die Macht zum Beispiel von Facebook besteht ja nicht nur darin, daß es einfach Daten verkauft, mit denen dann der Wahlkampf zugunsten von irgendwelchen rechten Trumps dieser Welt manipuliert werden kann. Das Problem besteht schon in der Struktur von Facebook selber mit genau dieser Entscheidungsfindungserziehung. Es handelt sich dabei ganz klar um ein erzieherisches Konzept. Ich schreibe für Freitext, die Online-Seite der Zeit. Unten gibt es immer einen Kommentarteil. Wenn man sich durchliest, was dort zu meinem Text geschrieben wird, dann bekommt man ganz schnell den Eindruck einer bloßen Reizwortreaktion, aber eben keine diskursiven Ansätze mit den Daten. Jemand liest beispielsweise das Wort Arbeit und hat sofort eine spezifische Meinung dazu, aber es wird nicht diskutiert, sondern eine bestimmte Form von Verhältnis zur Wirklichkeit produziert die politische Meinungsbildung. Das muß man sich klarmachen. Es ist eine entscheidende Sache, der man etwas entgegensetzen muß, denn es ist zugleich die große Frage in bezug auf den Kapitalismus. Wenn man Leute wie Zuckerberg oder den Facebook-Konzern mit seinem like- und dislike-Modell aufgrund völlig neoliberaler Strukturen einfach machen läßt, dann wird es, auch weil es tatsächlich das simplere ist, das erfolgreichere Modell sein und sich durchsetzen.

SB: Bestünde die Aufgabe einer Literatin oder eines Literaten unter anderem darin, die Sprache und damit auch das Denken wiederzugewinnen entgegen diesem Trend?

NN: Ja, ganz genau. Man muß sich klarmachen, daß die Strukturen, wie sie im Moment bestehen, das gar nicht mehr vertreten. Wir haben keinen Literaturbetrieb mehr, wie wir ihn aus der alten Bundesrepublik noch kennen, in dem Figuren wie Grass unterwegs waren, mit dem ich in den letzten Jahren befreundet war und auch darüber diskutiert hatte. Es sieht so aus, als ob es Kritiker gäbe, aber Denis Scheck zum Beispiel ist ein Staubsaugervertreter und kein Literaturkritiker. Die Feuilletons in Deutschland haben diese Funktion vollkommen verspielt. Die Süddeutsche Literaturabteilung nehme ich jetzt speziell heraus. Es gibt dort auch interessante Teile von Feuilleton, gerade Sonja Zekri und Andrian Kreye sind gute Leute, aber Gustav Seibt und Thomas Steinfeld stehen für eine bildungsbürgerliche Bastion, die das Feuilleton darauf kaprizieren, als gäbe es die bildungsbürgerliche Wirklichkeit noch, aber sie spielen das nur noch. Gustav Seibt macht dann sozusagen den Joachim Kaiser. Entweder schreibt er über Thomas Mann oder über Goethe in einem entsprechenden betulichen Ton und hat dann so als Alibi auch ein paar moderne zeitgenössische Autoren, die er auch schätzt und bespricht wie Max Goldt. Es bleibt im Moment noch nahezu unsichtbar, wie sich diese Strukturen verändert haben und was Öffentlichkeit herstellt. Das eine wird mit dem anderen verwechselt.

Eine Buchhandlung ist keine Buchhandlung mehr. Jeder, der in den Hugendubel reinläuft, sieht, daß es keine Buchhandlung ist. Man findet dort keine Bücher, die einen Gedächtnisraum repräsentieren. Publikumsverlage sind keine Literaturverlage mehr, sie sind im Prinzip Groschenromanverlage geworden, weil sie ständig nur ans Verkaufen denken, und das auch müssen, weil der ökonomische Sachzwang so groß ist. Das heißt, alles ist in Auflösung begriffen. Ich hatte vor kurzem ein Stipendium in New York und war ziemlich oft an der NYU, wo ich mir viel angehört habe. Trotz des von Trump vollkommen privatisierten Bildungsbereichs in den Vereinigten Staaten gibt es dort überraschenderweise dennoch so etwas wie einen Diskurs, den man bei uns nicht mehr findet. Ich weiß nicht, woran es genau liegt, aber ich stelle mir vor, daß der von äußeren Bedingungen etwas befreite künstlerische oder intellektuelle Diskurs in den USA schon immer ökonomisch bedroht war und sich von daher an den Universitäten oder auf dem Campus schon seit langem Strukturen der Gegenöffentlichkeit gebildet haben. Der Diskurs im angloamerikanischen Raum ist aus diesem Grund viel weiter als bei uns.

Wir fangen in Deutschland jetzt an, uns mit dem Postkolonialismus zu beschäftigen. Ich habe mich darüber mit einem deutschen Autor mit srilankischen Wurzeln, der vor zwei Jahren debütiert hat, einmal unterhalten. Er kennt die angloamerikanischen Diskurse zu Homi Bhabha, Dipesh Chakrabarty oder Edward Said und nimmt eine Position ein, die das hinter sich lassen will, weil es ihm nicht weit genug geht. Bei uns ist dieser Diskurs noch nicht einmal richtig angekommen. Das hat natürlich mit der deutschen Geschichte zu tun, weil wir unter Wilhelm II. zwar auch ein paar Kolonien hatten, aber das Ausmaß war ein ganz anderes. Wir haben auch nicht wie die Vereinigten Staaten, die seit ihrer Gründung mit der Sklaverei konfrontiert waren, ein grundsätzliches Rassismusproblem. Bei uns war das nicht so sichtbar. Ich glaube, das spielt eine Rolle. Jetzt mit den Flüchtlingen und Migranten kommt naturgemäß die Weltproblematik und Globalisierung bei uns an, auch im Denken. Aber es hat verdammt lange gedauert. Ich verfolge die Problematik schon länger. Während des Arabischen Frühlings sollte ich bei einem Kongreß zu Kulturpolitiken eine Rede halten, was ich auch gemacht habe. Das war hochinteressant, weil sämtliche Länder ums Mittelmeer herum sich damals darüber unterhielten, wie man die kulturellen Strukturen neu ordnen kann, wenn die Diktatoren erst einmal weg sind. Ich war danach sehr erschöpft und bin ins Hotel gegangen, wo ich zum Entspannen den Fernseher angemacht habe. Das ZDF war der einzige deutsche Sender, und was sehe ich? Maybrit Illner in einer politischen Diskussion, und da denke ich bei mir, meine Güte, die Deutschen leben hinterm Mond!

SB: Norbert, vielen Dank für dieses Gespräch.


Außenansicht eines LWL-Industriemuseums - Fotos: © 2018 by Schattenblick Außenansicht eines LWL-Industriemuseums - Fotos: © 2018 by Schattenblick

"Wiege des Ruhrbergbaus" - Zeche Nachtigall in Witten - Westfälisches Landesmuseum für Industriekultur
Fotos: © 2018 by Schattenblick


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14. August 2018


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