Bodo Kirchhoff
Widerfahrnis
von Christiane Baumann
Was dem Erzähler Julius Reither, einem Endsechziger, da widerfährt, ist tatsächlich im Goethe'schen Sinn unerhört und hat den Namen Novelle verdient: An einem Aprilabend klingelt eine Nachbarin Reithers, nur wenige Jahre jünger als er, an seiner Tür. Man kommt ins Gespräch, trinkt Wein und ehe Reither sich versieht, sitzt er neben dieser fremden Frau im Auto und fährt mitten in der Nacht an den nahegelegenen Achensee, um dort den Sonnenaufgang zu erleben. Und weil es dafür noch zu früh ist, fährt man weiter, über den Brenner, Bozen, den Gardasee entlang bis Affi, wo ein Einkaufscenter zum Frühstück einlädt, auch zum Kauf des nötigsten Reisezubehörs für diese Fahrt, die beide letztlich nach Sizilien führt. Der plötzliche Aufbruch erinnert an Pascal Merciers Roman Nachtzug nach Lissabon, in dem der Lehrer Raimund Gregorius unvermittelt den Unterricht verlässt und per Zug in den Süden fährt, um den Spuren eines portugiesischen Dichters nachzugehen.
Julius Reither und Leonie Palm, das ist der Name der Frau, gehen
gemeinsam auf eine Reise, die eigentlich eine Flucht ist, eine Flucht
vor der Einsamkeit des Alters und den täglichen Ritualen des letzten
Lebensabschnitts, der von Abschieden geprägt ist und die Frage nach
einem sinnerfüllten Leben noch einmal nachdrücklich stellt. Reither
hatte ein Jahr zuvor seinen kleinen Verlag aufgelöst, weil "es
allmählich mehr Schreibende als Lesende gab", (S. 10) und sich aus der
Metropole Frankfurt in eine Wohnanlage, die Wallberg-Appartements, im
oberen Weissachtal zurückgezogen. Leonie Palm, einst Besitzerin eines
Hutladens in Berlin, war ins Weissachtal übergesiedelt, weil sich für
ihre "Hüte immer weniger Gesichter" fanden. (S. 15) Beide haben
"Pleite gemacht" (S. 59). Die Leute, so Palm, bräuchten weder
"handgemachte Hüte" noch "gute Bücher", das ist die "Wahrheit". (S.
60) Doch hinter dieser nüchternen Geschäftsbilanz steckt mehr, denn
auch im Privaten sind beide Gescheiterte. Reither beging vor über
zwanzig Jahren den "Fehler" seines Lebens, als er aus Bequemlichkeit
und Angst vor Veränderung, ja Unentschiedenheit, ein Kind mit
Christine, die er liebte, ablehnte. (S. 93) Die Entscheidung fiel in
Italien, "auf einer Reise kurz vor dem Ziel". (S. 11) Christine
verließ ihn und diese Ungeheuerlichkeit, ein gemeinsames Kind nicht zu
wollen.
Leonie Palm verlor ihre Tochter schon lange bevor diese beschloss, ihr
Leben zu beenden. Das Buch, mit dem Leonie versucht, diesen Tod zu
verarbeiten, um zu verstehen, warum man "sich in eisiger Nacht an ein
Seeufer" legt und stirbt, (S. 67) führt Reither und Leonie zusammen.
Im Verlust der Kinder berühren sich ihre beiden Biografien.
Flucht - das ist das zentrale Thema der Novelle, deren Handlung im
April 2015 spielt. Die Reise nach Italien, in der Literatur so oft
eine Quelle körperlicher und geistiger Erneuerung, entwickelt sich zu
einem Albtraum, denn nicht nur Reither und Palm sind auf der Flucht.
Ihr Aufbruch aus ihrer kleinen Welt führt sie in "eine(r) Welt mit
Abermillionen von Fluchtgeschichten". (S. 43) Am Brenner erleben sie
den Exodus: Reither sieht die Menschenströme und was da "auf uns
zukommt [...] so zum ersten Mal" (S. 63). Sie werden mit dem Schicksal
tausender Menschen konfrontiert, die alles verloren haben und die ums
nackte Überleben kämpfen. Fliehen Leonie und Julius vor der inneren
Leere ihres Lebens, so haben diese Flüchtlinge ihre Heimat und damit
ihre Existenzgrundlage verloren. Schon in Affi, als sich der
Kaufhauskomplex "metastasenartig" vor ihnen erstreckt und sich ein
Streit zwischen einem Wohnmobilbesitzer und hungrigen Nordafrikanern
entspinnt, (S. 70) treten Borniertheit und kleinbürgerlicher Habitus
dieser um ihren Wohlstand besorgten westlichen "Weltbürger" zu Tage,
die kein Erbarmen mit diesen Flüchtlingen kennen. Eine Kluft tut sich
auf. Was wie eine Liebesgeschichte begann, kippt und führt, je
südlicher die beiden Reisenden kommen, in eine immer bedrohlicher
wirkende Szenerie. Nirgendwo auf der Reise nach Sizilien gelingt der
"Triumph der Geographie", der Schönheit der Landschaft, so dass
Reither schließlich "den irrigen Glauben daran" verliert.
(S. 179)
Es ist ein Flüchtlingskind, das zur Nagelprobe der Beziehung von
Reither und Leonie Palm wird. In Catania treffen beide auf ein
"Mädchen im Fetzenkleid". (S. 127). Das namenlose Kind wird zum
Symbol, an dem sich das Ausmaß der Unmenschlichkeit des Systems und
seiner deformierten Verhältnisse offenbart. Dieses entwurzelte,
hungernde Mädchen erlebt Ablehnung und Hass bis zum Eingreifen der von
aufgebrachten Bürgern mobilisierten Staatsgewalt. Während Leonie Palm
ihre Menschlichkeit unter Beweis stellt, indem sie mit dem Herzen
denkt und dem Kind das Notwendige zum Leben wie Essen, Trinken und ein
Bett gewährt, zaudert Reither aus Angst um sein gerade gewonnenes
Glück und aus Sorge, mit dem Staat und seinen Gesetzen in Konflikt zu
geraten. Leonie hingegen hat erkannt, dass Gesetze, die sich gegen den
Menschen richten, nicht zur Richtschnur ihres Handelns taugen. Setzt
sie sich somit über geltendes Recht hinweg, indem sie das Mädchen
illegal mit nach Deutschland nehmen will, so scheitert Reither
letztlich an sich selbst, an seinem Egoismus und an seiner
Selbstbeschränkung. Es ist wie damals "als Christine einfach
davongegangen war". (S. 192) Während Reithers Aufbruch aus
kleinbürgerlicher Enge misslingt, lässt Leonie kompromisslos ihr altes
Leben hinter sich und erobert noch ein letztes Mal neue Welten.
Reithers Versagen wird die Menschlichkeit Taylors, eines Nigerianers,
entgegengestellt, der ihm hilft, als er verletzt ist und dessen
Familie ihm wie Maria und Joseph auf der Flucht erscheinen.
In Kirchhoffs Novelle müssen sich Liebe und Nächstenliebe gegen eine inhumane Welt behaupten und scheinen nur noch im Moment lebbar. Völlig unerwartet begegnen Reither und Leonie noch einmal der Liebe. Sie hatte ihm "den Kopf verdreht [...], eine der Wendungen, die man in Büchern jüngerer Schreiber schon vergeblich suchte, als käme es auch nicht mehr vor". (S. 85) Plötzlich wird Veränderung in einem Leben denkbar, das an seinem Ende angelangt schien. Ein einziger Augenblick entscheidet schließlich über diese Liebe und Reither, der schon frühzeitig seine Träume begrub, auch den vom Schreiben, erzählt nun, was ihm "widerfahren" ist. Er schreibt sein Buch. Widerfahrnis - "das war mehr als die vergessene Heimsuchung - da muss man nur hinhören, muss nur hinsehen, dann ist es die Faust, die einen unvorbereitet trifft, mitten ins Herz, aber auch die Hand, die einen einfach an die Hand nimmt - ein Titel, den er wohl hätte gelten lassen." (S. 159) Im Erinnern überprüft Reither Standpunkte und Sichtweisen und lässt plötzlich auch Formulierungen gelten, die er früher nie akzeptiert hätte. "Keine Aphrodite, die aus einer Muschel steigt, wir sind nicht im Zirkus!" hatte er männlichen Autoren, die seiner Meinung nach das Meer ohne Mythen nicht beschreiben könnten, immer vorgehalten. (S. 96) Dieses Reflektieren macht einen überaus humorvollen Teil der Novelle aus und zeigt, dass es Reither gelingt, aus bisherigen Denkmustern auszubrechen.
Kirchhoffs Novelle erzählt von der Suche nach Glück und der Kunst, es festzuhalten. "Das Glück und das Unglück beginnen mit dem ersten Tag, an dem man sich fragt, ob man eigentlich gern auf der Welt ist." (S. 93) Reither erlebt noch einmal den Moment, "wunschlos glücklich" zu sein. (S. 171) Unweigerlich muss man an Peter Handkes populäre Erzählung Wunschloses Unglück denken, jene bedrückende Zustandsbeschreibung eines Lebens. Auch Reithers Leben ist eine Geschichte von verpassten Chancen und Möglichkeiten, aber ihn hatte "dieses brennende Glück noch einmal erreicht, unvorbereitet aus grauem Himmel", und es hatte geheißen: "Jetzt gilt es, erwirb, was dir gewährt wurde, um es nicht zu verlieren." (S. 201). Damit endet Kirchhoffs Novelle nicht im Fatalismus, sondern, ein Zitat aus Goethes Faust adaptierend, mit einem Symbol der Hoffnung. Es ist eine Geschichte über die Einmaligkeit des Lebens, das es mit Zivilcourage zu gestalten gilt, über die Verantwortung des Einzelnen und die Zerbrechlichkeit des Glücks, dessen sich Reither im Erzählen noch einmal versichert. Aber vor allem ist es "ein Stück Welt im Ganzen", (S. 115) und ein Plädoyer für Menschlichkeit, die der Barbarei nicht das letzte Wort lassen will.
Am 17. Oktober wird der diesjährige Gewinner des Deutschen
Buchpreises bekanntgegeben.
Bodo Kirchhoff
Widerfahrnis
Eine Novelle
Frankfurt am Main, Frankfurter Verlagsanstalt 2016
224 Seiten,
21,00 Euro,
ISBN: 978-3-627-00228-2
2. Oktober 2016
Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang