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SHORTLIST 2016/002: Rezension - Bodo Kirchhoff "Widerfahrnis" (Novelle) (SB)


Bodo Kirchhoff

Widerfahrnis

von Christiane Baumann


Auf der Flucht. Zu Bodo Kirchhoffs Novelle Widerfahrnis, auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2016

Was dem Erzähler Julius Reither, einem Endsechziger, da widerfährt, ist tatsächlich im Goethe'schen Sinn unerhört und hat den Namen Novelle verdient: An einem Aprilabend klingelt eine Nachbarin Reithers, nur wenige Jahre jünger als er, an seiner Tür. Man kommt ins Gespräch, trinkt Wein und ehe Reither sich versieht, sitzt er neben dieser fremden Frau im Auto und fährt mitten in der Nacht an den nahegelegenen Achensee, um dort den Sonnenaufgang zu erleben. Und weil es dafür noch zu früh ist, fährt man weiter, über den Brenner, Bozen, den Gardasee entlang bis Affi, wo ein Einkaufscenter zum Frühstück einlädt, auch zum Kauf des nötigsten Reisezubehörs für diese Fahrt, die beide letztlich nach Sizilien führt. Der plötzliche Aufbruch erinnert an Pascal Merciers Roman Nachtzug nach Lissabon, in dem der Lehrer Raimund Gregorius unvermittelt den Unterricht verlässt und per Zug in den Süden fährt, um den Spuren eines portugiesischen Dichters nachzugehen.

Julius Reither und Leonie Palm, das ist der Name der Frau, gehen gemeinsam auf eine Reise, die eigentlich eine Flucht ist, eine Flucht vor der Einsamkeit des Alters und den täglichen Ritualen des letzten Lebensabschnitts, der von Abschieden geprägt ist und die Frage nach einem sinnerfüllten Leben noch einmal nachdrücklich stellt. Reither hatte ein Jahr zuvor seinen kleinen Verlag aufgelöst, weil "es allmählich mehr Schreibende als Lesende gab", (S. 10) und sich aus der Metropole Frankfurt in eine Wohnanlage, die Wallberg-Appartements, im oberen Weissachtal zurückgezogen. Leonie Palm, einst Besitzerin eines Hutladens in Berlin, war ins Weissachtal übergesiedelt, weil sich für ihre "Hüte immer weniger Gesichter" fanden. (S. 15) Beide haben "Pleite gemacht" (S. 59). Die Leute, so Palm, bräuchten weder "handgemachte Hüte" noch "gute Bücher", das ist die "Wahrheit". (S. 60) Doch hinter dieser nüchternen Geschäftsbilanz steckt mehr, denn auch im Privaten sind beide Gescheiterte. Reither beging vor über zwanzig Jahren den "Fehler" seines Lebens, als er aus Bequemlichkeit und Angst vor Veränderung, ja Unentschiedenheit, ein Kind mit Christine, die er liebte, ablehnte. (S. 93) Die Entscheidung fiel in Italien, "auf einer Reise kurz vor dem Ziel". (S. 11) Christine verließ ihn und diese Ungeheuerlichkeit, ein gemeinsames Kind nicht zu wollen.
Leonie Palm verlor ihre Tochter schon lange bevor diese beschloss, ihr Leben zu beenden. Das Buch, mit dem Leonie versucht, diesen Tod zu verarbeiten, um zu verstehen, warum man "sich in eisiger Nacht an ein Seeufer" legt und stirbt, (S. 67) führt Reither und Leonie zusammen. Im Verlust der Kinder berühren sich ihre beiden Biografien.

Flucht - das ist das zentrale Thema der Novelle, deren Handlung im April 2015 spielt. Die Reise nach Italien, in der Literatur so oft eine Quelle körperlicher und geistiger Erneuerung, entwickelt sich zu einem Albtraum, denn nicht nur Reither und Palm sind auf der Flucht. Ihr Aufbruch aus ihrer kleinen Welt führt sie in "eine(r) Welt mit Abermillionen von Fluchtgeschichten". (S. 43) Am Brenner erleben sie den Exodus: Reither sieht die Menschenströme und was da "auf uns zukommt [...] so zum ersten Mal" (S. 63). Sie werden mit dem Schicksal tausender Menschen konfrontiert, die alles verloren haben und die ums nackte Überleben kämpfen. Fliehen Leonie und Julius vor der inneren Leere ihres Lebens, so haben diese Flüchtlinge ihre Heimat und damit ihre Existenzgrundlage verloren. Schon in Affi, als sich der Kaufhauskomplex "metastasenartig" vor ihnen erstreckt und sich ein Streit zwischen einem Wohnmobilbesitzer und hungrigen Nordafrikanern entspinnt, (S. 70) treten Borniertheit und kleinbürgerlicher Habitus dieser um ihren Wohlstand besorgten westlichen "Weltbürger" zu Tage, die kein Erbarmen mit diesen Flüchtlingen kennen. Eine Kluft tut sich auf. Was wie eine Liebesgeschichte begann, kippt und führt, je südlicher die beiden Reisenden kommen, in eine immer bedrohlicher wirkende Szenerie. Nirgendwo auf der Reise nach Sizilien gelingt der "Triumph der Geographie", der Schönheit der Landschaft, so dass Reither schließlich "den irrigen Glauben daran" verliert. (S. 179)
Es ist ein Flüchtlingskind, das zur Nagelprobe der Beziehung von Reither und Leonie Palm wird. In Catania treffen beide auf ein "Mädchen im Fetzenkleid". (S. 127). Das namenlose Kind wird zum Symbol, an dem sich das Ausmaß der Unmenschlichkeit des Systems und seiner deformierten Verhältnisse offenbart. Dieses entwurzelte, hungernde Mädchen erlebt Ablehnung und Hass bis zum Eingreifen der von aufgebrachten Bürgern mobilisierten Staatsgewalt. Während Leonie Palm ihre Menschlichkeit unter Beweis stellt, indem sie mit dem Herzen denkt und dem Kind das Notwendige zum Leben wie Essen, Trinken und ein Bett gewährt, zaudert Reither aus Angst um sein gerade gewonnenes Glück und aus Sorge, mit dem Staat und seinen Gesetzen in Konflikt zu geraten. Leonie hingegen hat erkannt, dass Gesetze, die sich gegen den Menschen richten, nicht zur Richtschnur ihres Handelns taugen. Setzt sie sich somit über geltendes Recht hinweg, indem sie das Mädchen illegal mit nach Deutschland nehmen will, so scheitert Reither letztlich an sich selbst, an seinem Egoismus und an seiner Selbstbeschränkung. Es ist wie damals "als Christine einfach davongegangen war". (S. 192) Während Reithers Aufbruch aus kleinbürgerlicher Enge misslingt, lässt Leonie kompromisslos ihr altes Leben hinter sich und erobert noch ein letztes Mal neue Welten. Reithers Versagen wird die Menschlichkeit Taylors, eines Nigerianers, entgegengestellt, der ihm hilft, als er verletzt ist und dessen Familie ihm wie Maria und Joseph auf der Flucht erscheinen.

In Kirchhoffs Novelle müssen sich Liebe und Nächstenliebe gegen eine inhumane Welt behaupten und scheinen nur noch im Moment lebbar. Völlig unerwartet begegnen Reither und Leonie noch einmal der Liebe. Sie hatte ihm "den Kopf verdreht [...], eine der Wendungen, die man in Büchern jüngerer Schreiber schon vergeblich suchte, als käme es auch nicht mehr vor". (S. 85) Plötzlich wird Veränderung in einem Leben denkbar, das an seinem Ende angelangt schien. Ein einziger Augenblick entscheidet schließlich über diese Liebe und Reither, der schon frühzeitig seine Träume begrub, auch den vom Schreiben, erzählt nun, was ihm "widerfahren" ist. Er schreibt sein Buch. Widerfahrnis - "das war mehr als die vergessene Heimsuchung - da muss man nur hinhören, muss nur hinsehen, dann ist es die Faust, die einen unvorbereitet trifft, mitten ins Herz, aber auch die Hand, die einen einfach an die Hand nimmt - ein Titel, den er wohl hätte gelten lassen." (S. 159) Im Erinnern überprüft Reither Standpunkte und Sichtweisen und lässt plötzlich auch Formulierungen gelten, die er früher nie akzeptiert hätte. "Keine Aphrodite, die aus einer Muschel steigt, wir sind nicht im Zirkus!" hatte er männlichen Autoren, die seiner Meinung nach das Meer ohne Mythen nicht beschreiben könnten, immer vorgehalten. (S. 96) Dieses Reflektieren macht einen überaus humorvollen Teil der Novelle aus und zeigt, dass es Reither gelingt, aus bisherigen Denkmustern auszubrechen.

Kirchhoffs Novelle erzählt von der Suche nach Glück und der Kunst, es festzuhalten. "Das Glück und das Unglück beginnen mit dem ersten Tag, an dem man sich fragt, ob man eigentlich gern auf der Welt ist." (S. 93) Reither erlebt noch einmal den Moment, "wunschlos glücklich" zu sein. (S. 171) Unweigerlich muss man an Peter Handkes populäre Erzählung Wunschloses Unglück denken, jene bedrückende Zustandsbeschreibung eines Lebens. Auch Reithers Leben ist eine Geschichte von verpassten Chancen und Möglichkeiten, aber ihn hatte "dieses brennende Glück noch einmal erreicht, unvorbereitet aus grauem Himmel", und es hatte geheißen: "Jetzt gilt es, erwirb, was dir gewährt wurde, um es nicht zu verlieren." (S. 201). Damit endet Kirchhoffs Novelle nicht im Fatalismus, sondern, ein Zitat aus Goethes Faust adaptierend, mit einem Symbol der Hoffnung. Es ist eine Geschichte über die Einmaligkeit des Lebens, das es mit Zivilcourage zu gestalten gilt, über die Verantwortung des Einzelnen und die Zerbrechlichkeit des Glücks, dessen sich Reither im Erzählen noch einmal versichert. Aber vor allem ist es "ein Stück Welt im Ganzen", (S. 115) und ein Plädoyer für Menschlichkeit, die der Barbarei nicht das letzte Wort lassen will.


Am 17. Oktober wird der diesjährige Gewinner des Deutschen Buchpreises bekanntgegeben.


Die Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2016:
  • Reinhard Kaiser-Mühlecker Fremde Seele, dunkler Wald
    (siehe Schattenblick, Shortlist 2016/001, 20.09.2016)
  • Bodo Kirchhoff Widerfahrnis
  • André Kubiczek Skizze eines Sommers
  • Thomas Melle Die Welt im Rücken
  • Eva Schmidt Ein langes Jahr
  • Philipp Winkler Hool


Bodo Kirchhoff
Widerfahrnis
Eine Novelle
Frankfurt am Main, Frankfurter Verlagsanstalt 2016
224 Seiten,
21,00 Euro,
ISBN: 978-3-627-00228-2

2. Oktober 2016


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