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FRAGEN/003: Judith Gleitze von Borderline Europe - Hauptsache die Grenzen sind dicht (Pressenza)


Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin

Judith Gleitze von Borderline Europe: Hauptsache die Grenzen sind dicht

Von Milena Rampoldi, 3. Mai 2016



Provisorisches Matratzen-Lager unter freiem Himmel - Bild: © Borderline Europe

Bild: © Borderline Europe

Die EU will dichte Grenzen, unabhängig von den menschlichen Kosten. Gleichzeitig verursachen Kriege, Waffenexporte und grenzenloser Reichtum im Westen die Flüchtlingsströme. Und ins Mittelmeer wird eine Grenze geschnitten. Judith Gleitze Leiterin des Büros von Borderline Europe [1] in Palermo beantwortet unsere Fragen.

Milena Rampoldi: Italien ist geographisch ein Land an der "Grenze" zwischen Europa und Afrika. Ist es aber nicht mehr ein Teil des Mittelmeerraums, das Norden und Süden vereint? Wie sehen Sie das?

Judith Gleitze: Italien ist und war natürlich ein Teil des Mittelmeerraums, doch leider gilt die Globalisierung nur für Waren, nicht für Menschen. Konnten Tunesier_innen früher ohne ein Visum nach Italien reisen, so ist dies schon lange nicht mehr möglich, während wir hier einfach die Fähre nach Tunis besteigen können. Die unsichtbare Grenze ist auf dem Meer gezogen worden, inzwischen ist sie faktisch externalisiert in Richtung nordafrikanische Staaten. Sprich: diese sind angehalten, für die EU die Migrant_innen auf ihrer Flucht aufzuhalten. Dafür werden sie dann von der EU bezahlt. Das kann mit einem Land wie Libyen natürlich nur in einem sehr geringen Maße funktionieren. Die EU möchte am liebsten sofort Verträge mit Libyen machen, so wie mit der Türkei, um die Flüchtenden aufzuhalten. Doch kann man in Libyen wohl kaum von einer stabilen Regierung sprechen. Das jedoch scheint den europäischen Regierungsoberhäuptern egal zu sein - Hauptsache die Grenzen sind dicht. Somit kann sich also auch ein Aussengrenzland im Mittelmeerraum als Mitgliedsstaat der EU diesem Grenzregime nicht entziehen.

Wie kann man als Europäer diese Toten im Mittelmeer noch verkraften und rechtfertigen? Menschen lassen sich nicht aufhalten. Wie können wir diesen Menschen helfen?

Das Sterben kann man nicht rechtfertigen, es gibt keinerlei guten Grund dafür, so zu handeln. Wir alle, die wir uns als Menschen fühlen, die auch die eigenen Rechte verteidigt sehen wollen, dürfen nicht vor den Rechten anderer die Augen verschließen, hier darf es keine zwei Maßstäbe geben. Als Deutsche, Italiener_innen und viele andere Europäer_innen ihre Heimat verlassen mussten, weil sie dort keinerlei Lebensgrundlage hatten, forderten auch sie die Aufnahme in anderen Staaten, die ihnen eine Überlebenschance versprachen. Haben wir das alles vergessen? Gar nicht zu reden von den Kriegen, die auf europäischem Territorium stattgefunden haben. Haben wir es da nicht verurteilt, wenn man den Flüchtenden nicht helfen wollte? Wir müssen unsere Mitmenschen davon überzeugen, dass es keine Mehrklassen- Menschheit gibt, Mensch ist Mensch, jede/r hat das Recht auf ein menschenwürdiges Leben. Nur wenn wir alle das so sehen, kann sich die Gesellschaft ändern und öffnen.


Bild: © Borderline Europe

Judith Gleitze, Leiterin des Büros von Borderline Europe in Palermo
Bild: © Borderline Europe

Welche sind die Ursachen der Flüchtlingskrise?

Ursachen gibt es viele, das ist eine sehr weit gefasste Frage. Von politischer Verfolgung in Regimen, die zum Teil auch durch die westliche Welt gestützt werden, über Naturkatastrophen (die nicht in der Genfer Flüchtlingskonvention erfasst sind, obwohl der Klimawandel einen immer erheblicheren Teil der Fluchtursachen ausmacht), über Bürgerkriege und das schlichte Überleben, das in der Heimat nicht möglich ist, alles dies sind Gründe zur Flucht. Zu unterschätzen ist auch hier nicht, dass westliche Staaten oftmals mit Schuld an sozioökonomisch entstandenen Fluchtgründen haben: nehmen wir hier z.B. den Fischfang vor den Küsten Senegals, den Verkauf von Billighühnerteilen nach Ghana - all dies macht die lokale Wirtschaft kaputt.

Wer Waffen verkauft, erntet Flüchtlinge. Wie sehen Sie das?

Dem kann ich nur zustimmen. Eine kriegerische Auseinandersetzung, egal aus welchem Grund, mit welchen Hintergründen, schafft immer Geflüchtete. Vor allem, wenn sich fremde Staaten in einen Konflikt einmischen und somit die Auseinandersetzung immer weiter vorantreiben.

Welche sind Ihre Hauptaufgaben bei borderline-europe?

Ich leite die Außenstelle Italien in Sizilien. Neben einem Teil der Geschäftsführung des Vereins borderline-europe e.V. mit Sitz in Berlin ist mein Büro hauptsächlich zuständig für die Recherchen und die Informationsvermittlung zum Thema Mittelmeerraum, speziell Italien. Wir arbeiten in einem Netzwerk von Organisationen, um die Situation von Geflüchteten in Italien bekannter zu machen und gemeinsam Strategien zu entwickeln. Aber das Wichtigste hierfür ist eine Informationsgrundlage, die versuchen wir zu schaffen. Dazu dienen die Homepage, Berichte über die Situation in Italien/Sizilien, Veranstaltungen, Projekte zu diversen Schwerpunktthemen. Ohne eine lokale Netzwerkarbeit wäre dies nicht möglich.

Wie wichtig ist Flüchtlingsarbeit in Italien und für Italien heute?

Italien steht als Aussengrenzland auch weiterhin im Mittelpunkt des Geschehens, daran hat auch die Situation auf der Balkanroute nichts geändert. Die Europäische Union hat inzwischen ihre Werte und Normen vergessen, das Bild des Geflüchteten als ein großes, unbekanntes Sicherheitsproblem hat sich derzeit in den meisten europäischen Staaten durchgesetzt, somit dann auch die Bekämpfung dieses "Sicherheitsproblems". Italien als Außengrenzland hat die unliebsame Aufgabe, darüber zu wachen, dass hier niemand ungesehen hereinkommt. Derzeit finden jedoch gleichzeitig täglich Seenotrettungen statt - letztendlich eine Heuchelei, wenn gleichzeitig die Abschottung deklariert wird - warum schafft man dann nicht legale Einreisewege, wenn doch sowieso gerettet wird?

Italien wird, wie Griechenland auch, als Land an der europäischen Außengrenze immer eine große Rolle spielen, solange sich dieses Politikverständnis nicht ändert. Daher muss natürlich auch hier genau geschaut werden, was denn mit den Ankommenden passiert. Wo werden sie hingebracht, was bedeutet das europäische Abschottungssystem faktisch für sie? Hier auf Sizilien heißt es für viele, dass sie nach einer strapaziösen Flucht, die viele nicht überleben, und der Rettung auf See dann doch im Nichts landen, angekommen und sofort illegalisiert, denn viele haben nicht einmal die Chance auf eine Asylantragstellung, da sie aus einem angeblich sicheren Land kommen. Doch das ist ein klarer Rechtsbruch - jeder Mensch hat das Recht auf die Stellung eines Asylantrages, danach wird entschieden, ob sie oder er bleiben kann. Das Unterbringungssystem in Italien ist seit Jahren dem Notstand geschuldet, es gibt viele verschiedene Unterbringungstypen, es herrscht das Chaos, und viele dieser Zentren bestehen ohne eine gesetzliche Grundlage. Es gibt sehr viel zu tun, hier in Italien und überall.

Weiterführende Information:
Bericht zur Situation von Geflüchteten in der Region Sizilien [2]


Über die Autorin

Dr. phil. Milena Rampoldi ist freie Schriftstellerin, Buchübersetzerin und Menschenrechtlerin. 1973 in Bozen geboren, hat sie nach ihrem Studium in Theologie, Pädagogik und Orientalistik ihren Doktortitel mit einer Arbeit über arabische Didaktik des Korans in Wien erhalten. Neben ihrer Tätigkeit als Sprachlehrerin und Übersetzerin beschäftigt sie sich seit Jahren mit der islamischen Geschichte und Religion aus einem politischen und humanitären Standpunkt, mit Feminismus und Menschenrechten und mit der Geschichte des Mittleren Ostens und Afrikas. Sie wurde verschiedentlich publiziert, mehrheitlich in der deutschen Sprache. Sie ist auch die treibende Kraft hinter dem Verein für interkulturellen und interreligiösen Dialog Promosaik.
www.promosaik.com


Anmerkungen:
[1] http://www.borderline-europe.de/
[2] http://www.borderline-europe.de/sites/default/files/readingtips/2016_02_12_borderline-europe_Sizilien.pdf


Der Text steht unter der Lizenz Creative Commons 4.0
http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/

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Quelle:
Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin
Johanna Heuveling
E-Mail: johanna.heuveling@pressenza.com
Internet: www.pressenza.com/de


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Mai 2016

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