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GRENZEN/046: Estland - Kein EU-Eingangstor für Flüchtlinge, 75 Asylsuchende im letzten Jahr (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 20. Juni 2013

Estland: Kein EU-Eingangstor für Flüchtlinge - 75 Asylsuchende im letzten Jahr

von Marian Männi


Bild: © Marian Männi/IPS

Abschiebezentrum in Estland
Bild: © Marian Männi/IPS

Tallinn, Estland, 20. Juni (IPS) - Estland liegt für Flüchtlinge offenbar nicht auf dem Weg nach Europa. Nach Angaben des europäischen Statistikamts 'Eurostat' suchten im letzten Jahr nur 75 Menschen in dem an Russland und Finnland angrenzenden Land um Asyl an. Lokale Menschenrechtsaktivisten gehen jedoch davon aus, dass viele Betroffene erst gar nicht in die Lage kommen, Asyl zu beantragen, weil sie gleich an der Grenze abgewiesen werden.

Diese Erfahrung hat ein Tierarzt aus Syrien gemacht, der es mit einem Freund bis zur estländischen Grenze geschafft hatte. "Dort wurden wir von den Grenzern zu Boden geworfen. Als wir uns als Asylsuchende zu erkennen gaben, forderte man uns auf, nach Russland zurückzukehren."

Aus Verzweiflung hat der Syrer, der seinen Namen aus Sicherheitsgründen nicht nennen möchte, seinen Pass zerrissen. Nach estländischem Recht müssen Asylsuchende gleich an den Grenzen um Schutz ansuchen. Gelingt ihnen das nicht oder verfügen sie über keine gültigen Dokumente, werden sie ins estländische Abschiebezentrum verbracht, wo sie ihren Antrag einreichen können. Der Syrer hatte Glück und wartet dort auf den Ausgang seines Asylverfahrens.

"Diejenigen, die im Abschiebezentrum sitzen, haben wenigstens eine Chance", meint Kristi Toodo von der Estländischen Rechtsberatungsstelle für Flüchtlinge. "Doch über all die vielen Flüchtlinge mit Ausweispapieren, die an den Grenzen abgewiesen werden, wissen wir nichts."

"An der Grenze nehmen sie keine Anträge an und geben dir noch nicht einmal ein Stück Papier, auf dem du einen Antrag stellen könntest", sagt Shaheed, ein Flüchtling aus Pakistan. Um jedes Missverständnis auszuschließen, habe er an der Grenze nur ein einziges Wort gesagt: Asyl.


Keine unabhängigen Grenzbeobachter

Kommt es zu einem Verfahren, steht das Wort des Asylsuchenden gegen das der Grenzer. "Wir können den Grenzbeamten nichts nachweisen, solange es niemanden gibt, der den jeweiligen Vorfall beobachtet hat, meint Kristina Kallas, Leiterin des estländischen Flüchtlingsrats im IPS-Gespräch.

Seit Jahren schlägt das UN-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR) vergeblich vor, unabhängige Beobachter an den estländischen Grenzen zu postieren. In einem vor drei Jahren veröffentlichten UNHCR-Bericht ist von einer "bemerkenswert niedrigen Zahl registrierter Asylsuchender" und der reellen Gefahr die Rede, dass Menschen in Not, die der internationalen Unterstützung bedürfen, keine Chance auf ein Asylverfahren hätten, weil sie gleich an den Grenzen abgewiesen würden.

Acht andere an die EU angrenzende osteuropäische Länder haben mit dem UNHCR ein Abkommen über unabhängige Beobachter an den Grenzen unterzeichnet. In Estlands südlichem Nachbarland Litauen sind solche Beobachter bereits seit zwei Jahren im Einsatz. Seitdem hat sich die Zahl der Asylanträge von 61 auf 335 mehr als verfünffacht.

Doch Anhelita Kamenska, Leiterin des Litauischen Menschenrechtszentrums, ist alles andere als zufrieden. Wie sie erklärt, ist es an vielen Grenzkontrollstellen noch nicht zu unabhängigen Kontrollen gekommen. Es brauche Zeit, um Vertrauen auf beiden Seiten aufzubauen.

Es gibt nach Ansicht von Ruth Annus, der Beauftragten für die estländische Migrations- und Grenzpolitik, keinen Grund, den Grenzbeamten zu misstrauen. "Es liegen keine Beweise dafür vor, dass die Geschichten über abgewiesene Asylsuchende stimmen", erklärte sie in ihrem Büro in Tallinn gegenüber IPS. "Die geringe Zahl von Asylanträgen erklärt sich daraus, dass das Land für Flüchtlinge nicht interessant genug ist." Der Lebensstandard in dem osteuropäischen Land sei niedriger als in Nachbarländern wie Schweden oder Finnland, erläuterte sie. Und Estland befinde sich im Unterschied zu Malta oder Italien nicht auf der Route für Flüchtlinge.

Markku Aikomus vom UNHCR-Büro für baltische und nordische Staaten zufolge ist es das Recht einer jeden Regierung, ihr Staatsgebiet abzusichern, insbesondere angesichts der zunehmend komplexer werdenden Migrationsbewegungen und steigenden Flüchtlingszahlen. Doch selbst Länder mit den striktesten Grenzkontrollen dürften diejenigen, die internationalen Schutz bedürfen, nicht aussperren.


Asylanträge zurückgezogen

Der syrische Tierarzt befindet sich seit zwei Monaten im estländischen Abschiebezentrum und weiß nicht, wann er freigelassen wird. Einige Asylsuchende wie der Pakistaner Naveed-ur-Rehmaan haben ihre Anträge aus Frust wieder zurückgezogen. "Ja, ich werde zu Hause Probleme mit den Terrorgruppen bekommen. Aber in Pakistan bin ich wenigstens frei", sagte er gegenüber IPS. "Hier macht man uns klein. Das halte ich nicht mehr aus."

Im letzten Jahr haben 17 Flüchtlinge das Land vor Abschluss ihres Asylverfahrens verlassen. Für viele ist Estland ohnehin nur ein Transitland in Richtung EU. Die Erfahrungen, die Flüchtlinge mit Migrationsbehörden in unterschiedlichen Ländern gemacht haben, sprechen sich herum.

Das ist nach Ansicht der Menschenrechtsaktivistin Toodo ein Grund, warum Estland für Flüchtlinge so unattraktiv ist. Doch gleichzeitig befindet sich Estland an der Grenze der EU. "Wir haben gegenüber den EU-Ländern eine gewisse Verantwortung", räumte sie ein. Deshalb bringe sie durchaus Verständnis für den Standpunkt der estländischen Regierung auf. (Ende/IPS/kb/2013)


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http://www.ipsnews.net/2013/06/estonia-not-on-the-refugee-way/

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IPS-Tagesdienst vom 20. Juni 2013
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Juni 2013