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SCHULDEN/018: Euroland in Geiselhaft der Finanzmärkte (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1+2/2012

Euroland in Geiselhaft der Finanzmärkte

Von Dierk Hirschel und Klaus Busch


Merkel und Sarkozy sparen Europa zu Tode. Griechenland, Spanien und Portugal wurden bereits Opfer des Brüsseler Spardiktats. Nun erreicht die Krise die deutsche Exportindustrie. Dadurch verschärft sich die wirtschaftliche Talfahrt des Eurolands. Dem alten Kontinent droht eine politisch gemachte Rezession: Der Merkel-Abschwung.


Mit dem Spardiktat von "Merkozy" war es noch nicht genug: Auf dem letzten EU-Gipfel legte das deutsch-französische Tandem den europäischen Kassenwarten neue Daumenschrauben an. Von Athen bis Paris soll es nun nationale Schuldenbremsen geben. Das jährliche Staatsdefizit darf nicht größer sein als 0,5% des Sozialproduktes. Wer gegen die neuen Haushaltsregeln verstößt, muss hohe Strafen zahlen. Das neue Brüsseler Regelwerk zwingt die Eurostaaten zu konjunkturblinden Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen. Aus der geplanten Stabilitätsunion wird eine Stagnationsunion.

Darüber hinaus dürfen entfesselte Finanzmärkte die Politik weiter vor sich herjagen. Der geplante XXL-Rettungsschirm klemmt noch immer. Schuld daran ist allein die deutsche Kanzlerin. Sie blockiert sowohl Eurobonds als auch eine aktivere Rolle der Europäischen Zentralbank. So können Investmentbanker und Hedge-Fonds-Manager weiter fröhlich auf die Pleite einzelner Staaten wetten und dadurch die Zinsen auf neue Rekordstände treiben. Ganze 8% musste Super Mario - Monti - im November 2011 zahlen, um frische Kredite zu bekommen. Es ist nur noch eine Frage der Zeit bis Rom seine Rechnungen nicht mehr bezahlen kann.

Angela Merkels Crashkurs hat aber noch immer den Rückhalt breiter Bevölkerungsschichten. Die Kanzlerin hat ihre Lesart der Krise mehrheitsfähig gemacht. Das funktionierte, da neoliberale Deutungsmuster in allen Parteien, sowie in Wissenschaft und Medien fest verankert sind.

Plötzlich redet die ganze Republik über eine Staatsschuldenkrise. Die hohen Schulden der öffentlichen Haushalte sind nach herrschender Meinung das Ergebnis laxer Haushaltspolitik. Und die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit der Krisenländer ist angeblich die zwangsläufige Folge zu hoher Lohnabschlüsse. Schuld an der Krise sind also immer die Schuldner. Folglich müssen jetzt Kassenwarte und Beschäftigte den Gürtel enger schnallen. Die Finanzmärkte sollen den Schrumpfkurs überwachen und durchsetzen.

Wenn Ideologie auf Praxis trifft, sieht die Welt jedoch ganz anders aus. Die Kassenwarte der Währungsunion haben vor der großen Krise kein Geld zum Fenster hinausgeworfen. Laut OECD sank die Staatsquote - Anteil der Staatsausgaben am Sozialprodukt - der Eurozone zwischen 2000 und 2007 von 46,3% auf 46,1%. In Irland, Spanien, Italien und Belgien wurden sogar Schulden abgebaut. In Deutschland hingegen stieg die Schuldenquote - Anteil der Staatsverschuldung am Sozialprodukt - nicht aufgrund steigender Staatsausgaben, sondern wegen üppiger Steuergeschenke. Erst der große Bankencrash ließ die Staatsausgaben europaweit explodieren. Bankenrettungspakete, Konjunkturprogramme und Arbeitslosigkeit plünderten die öffentlichen Kassen. In der Eurozone stieg die Schuldenquote um über 20 Prozentpunkte. Somit bezahlen die Retter die Zeche des Rettungseinsatzes.

Auch die abhängig Beschäftigten lebten nicht über ihre Verhältnisse. Fast überall im Euroland sind die Lohnquoten (Anteil der Löhne am Volkseinkommen) gesunken. Zwar sind Preise, Lohnstückkosten und Löhne in Südeuropa stärker gestiegen als im Norden. Doch Wettbewerbsfähigkeit ist eine relative Größe. Die deutschen Löhne kamen in den letzten zehn Jahren kaum vom Fleck. Niedrige deutsche Löhne sorgten durch niedrige Lohnstückkosten für kleine Preise. Dadurch wurde die südeuropäische Konkurrenz an die Wand gedrückt. Die deutschen Außenhandelsüberschüsse wurden jedes Jahr größer. Die deutschen Überschüsse waren aber die Defizite Spaniens, Italiens, Portugals und Griechenlands. Jetzt versinken die südeuropäischen Unternehmen und Privathaushalte im Schuldenmeer. Gegen die zunehmende Kluft zwischen starken und schwachen Staaten hilft aber keine Zwangsdiät für Defizitländer.


Sofortmaßnahmen und grundlegende Reformen

Der Euro wird nur überleben, wenn Europa die wirklichen Krisenursachen überwindet. Diese liegen in der Fehlkonstruktion des Maastrichter Vertrages, in steigenden innereuropäischen Ungleichgewichten und in entfesselten Finanzmärkten. Erforderlich sind eine neue Wachstumsstrategie, eine Niedrigzinspolitik für die Schuldnerstaaten, eine Reform der Finanzmärkte, die Koordinierung von Lohn-, Sozial- und Steuerpolitiken sowie eine Europäische Wirtschaftsregierung.

Kurzfristig braucht der alte Kontinent eine gemeinsame Wachstumsstrategie und ein europäisches Schuldenmanagement. Griechenland und seine südeuropäischen Nachbarn brauchen Investitionen in Bildung, Infrastruktur und Klimaschutz. Deswegen sollte jetzt ein Marshallplan für Südeuropa aufgelegt werden. Ein solches Investitions- und Entwicklungsprogramm kurbelt den südeuropäischen Wachstumsmotor wieder an und bekämpft die hohe Arbeitslosigkeit. Gleichzeitig sollte ein New Deal zur Verbesserung der europäischen Infrastruktur und Umwelt weitere Impulse für die wirtschaftliche Entwicklung Europas setzen.

Darüber hinaus müssen die Überschussländer ihre Binnennachfrage ankurbeln. Eine Schlüsselrolle fällt hier Deutschland zu. Das größte Überschussland kann durch eine veränderte wirtschaftspolitische Strategie helfen, die Defizite der Krisenländer abzubauen. Dafür muss aber die chronische deutsche Lohnschwäche durch eine Austrocknung des Niedriglohnsektors und eine politische Stärkung des Tarifsystems überwunden werden. Gleichzeitig müssen die öffentlichen Investitionen kräftig aufgestockt werden. Ein kräftig wachsender Binnenmarkt der größten Volkswirtschaft des Eurolandes verbessert auch die Absatzchancen südeuropäischer Exporteure. Schließlich muss die deflatorische Sparpolitik in den Schuldenländern sofort gestoppt werden.

Wachstum allein reicht aber nicht aus. Gleichzeitig müssen die Zinsen runter. Die Notfallkredite sollten zu günstigeren Konditionen vergeben werden. Zudem muss Brüssel endlich die Schulden aller Mitgliedsstaaten garantieren und Eurobonds ausgeben. Sie können die Finanzierungskosten der Schuldnerstaaten erheblich senken. Die Entschuldungspolitik der USA und Großbritanniens nach dem Zweiten Weltkrieg verdeutlicht die Bedeutung niedriger Zinsen. Durch eine staatliche Kontrolle der Zinsen für Staatsanleihen und Ersparnisse gelang es beiden Staaten, die Staatsschulden sehr rasch zu reduzieren.

Den skizzierten Sofortmaßnahmen müssen grundlegende Reformen der europäischen Institutionen und Regulierung folgen. Zentral ist zunächst eine Reform der europäischen Finanzmärkte. Entfesselte Finanzmärkte haben die Eurokrise verschärft. Die Staaten müssen endlich aus der Geiselhaft der Finanzmärkte befreit werden.

Banken, die "too big to fail" sind, darf es zukünftig nicht mehr geben. So könnten progressive Eigenkapitalquoten zukünftig als Wachstumsbremsen für Finanzinstitute fungieren. Darüber hinaus muss ein europäischer Finanzmarkt-TÜV in Zukunft über die Zulassung von Finanzmarktprodukten entscheiden. Der Handel mit Kreditausfallversicherungen muss verboten werden. Private Rating-Agenturen müssen durch eine öffentliche Europäische Rating-Agentur entmachtet werden.

Der radikalste Schritt zur Euro-Rettung wäre eine weitgehende Entkoppelung der Staatsfinanzen von den Kapitalmärkten in Form einer direkten Staatsfinanzierung durch die Zentralbank. Dies ist in den USA, Japan und Großbritannien gängige Praxis. Lediglich auf dem alten Kontinent verbietet die EZB-Satzung die direkte Staatsfinanzierung. Aktuell könnte aber der neu geschaffene Rettungsschirm (EFSF) mit einer Banklizenz ausgestattet werden, eine solche Konstruktion entspräche der von den deutschen Gewerkschaften geforderten "Bank für öffentliche Anleihen". Dann könnte die Zentralbank den Rettungsschirm finanzieren und ihn mit unendlicher Finanzkraft ausstatten. Die Spekulation auf die Pleite einzelner Staaten wäre von heute auf morgen beendet. Und die Finanzierung der Schuldenstaaten wäre dauerhaft abgesichert.

Damit aber nicht genug. Wir brauchen auch eine Koordinierung der Lohn-, Sozial- und Steuerpolitiken in der EU. Eine enge Abstimmung der Lohn-, Sozial- und Steuerpolitiken wirkt der Abwärtsspirale bei Löhnen, Sozialausgaben und Steuern entgegen. So können die Ungleichgewichte in den Handels- und Kapitalströmen der Eurozone abgebaut werden. Voraussetzung für eine koordinierte Lohnpolitik ist jedoch, dass die Gewerkschaften auch in der Lage sind, die nationale Lohnentwicklung zu steuern. Hier besteht akuter politischer Handlungsbedarf.

Es gibt aber auch ökonomisch schädliche Formen der Koordinierung wie der Stabilitäts- und der Euro-Plus-Pakt. Letzterer basiert auf dem Irrtum, dass die Ungleichgewichte zurückgingen, wenn sich alle Staaten der deutschen Zwangsdiät unterzögen. Der Pakt verschärft nur die schuldentreibende Deflationspolitik in Europa.

Der wichtigste Reformschritt wäre eine Europäische Wirtschaftsregierung. Die Währungsunion braucht eine Politische Union. Eine demokratisch legitimierte Europäische Wirtschaftsregierung könnte künftige Krisen konjunkturpolitisch effektiv bekämpfen. Eine solche Wirtschaftsregierung könnte die Wettbewerbsfähigkeit Südeuropas industrie- und dienstleistungspolitisch verbessern. Durch einen umfangreichen Finanzausgleich könnten innereuropäische Entwicklungsunterschiede verringert werden. Eine Europäische Wirtschaftsregierung erfordert aber auch eine Stärkung des Europäischen Parlaments. Noch heute fällt die demokratische Ausgestaltung der EU hinter die Errungenschaften der Französischen Revolution zurück.

Nur ein großer Sprung nach vorn kann die Europäische Union und den Euro dauerhaft stabilisieren. Wir brauchen qualitativ neue Integrationsschübe in Richtung einer Politischen Union. In früheren Krisen konnte sich Europa stets am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen. Die EU braucht jetzt erneut die Kraft für eine Radikalreform an Haupt und Gliedern.


Dierk Hirschel (* 1970) ist Bereichsleiter Wirtschaftspolitik der Gewerkschaft ver.di.
(dierk.hirschel@verdi.de)

Klaus Busch (* 1945) ist Professor (em.) für Europäische Studien und europa-politischer Berater von ver.di.
(busch@uos.de)


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1+2/2012, S. 28-30
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Siegmar Gabriel,
Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka, Thomas Meyer und Peter Struck
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Januar 2012