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DILJA/012: Beispiel Spanien - Massenproteste gegen erpreßte Verfassungsänderung (SB)


Massenproteste in Spanien gegen erzwungene "Schuldenbremse"

Neoliberales EU-Diktat stellt Demokratieanspruch bloß


Die Europäische Zentralbank (EZB) "macht" Politik. Das sogenannte "Kerneuropa", die beiden stärksten EU-Staaten Deutschland und Frankreich, "machen" Politik. Sie dominieren, nein bestimmen die politischen Entscheidungen anderer, nicht unbedingt geographisch kleinerer, aber doch wirtschaftlich schwächerer Mitgliedstaaten der sogenannten Europäischen Union. Wer sich unter einer "Union" ein Bündnis souveräner Staaten vorstellt, die sich solidarisch unterstützen und die formulierte europäische Gemeinsamkeit nicht nur beanspruchen, sondern faktisch realisieren, was sich überprüfbar daran festmachen lassen müßte, daß die schwächeren Mitglieder - selbstverständlich unter Aufrechterhaltung ihrer Souveränität - wirtschaftlich gesunden, wird angesichts der aktuellen Entwicklungen in der EU diesen Staatenbund eher für ein Haifischbecken halten.

Am Beispiel Spaniens läßt sich in diesen Tagen nachzeichnen, in welch unverhohlener Weise die selbstmandatierten Führungsstaaten der EU, Deutschland und Frankreich, sowie die entsprechenden EU-Gremien die Abhängigkeit finanziell kriselnder Mitgliedstaaten zu nutzen bereit sind, um diesen politische Vorgaben zu machen und ihnen ihre Vorstellungen neoliberaler Wirtschaftspolitik aufzuzwingen.

In vielen Städten Spaniens hat die am vergangenen Freitag im Eiltempo durchgepeitschte Verfassungsänderung, um nach deutschem Vorbild und faktischem Befehl der EZB eine "Schuldenbremse" in die spanische Verfassung zu implementieren, bereits zu Massenprotesten geführt. Zehntausende Menschen befolgten am Dienstag einen Demonstrationsaufruf der beiden großen Gewerkschaftsbünde (CCOO und UGT), um gegen die von den beiden Großparteien, der regierenden "Sozialistischen Arbeiterpartei" (PSOE) und der oppositionellen konservativen "Volkspartei" (PP), beschlossene Verfassungsänderung zu protestieren. Schon lange zuvor waren im ganzen Land Proteste, die sich gleichermaßen am Inhalt dieses tiefgreifenden Einschnitts in die spanische Gesellschaftsordnung wie daran entzündeten, daß dieser Schritt Spanien offensichtlich aus dem Ausland aufgezwungen worden war, laut geworden.

Gemessen daran, daß das heutige Spanien - wie jeder andere EU-Staat auch - beansprucht, eine Demokratie zu sein, ist dies mehr als ein fundamentaler Verfassungsbruch, da die hier deutlich zu Tage tretenden Abhängigkeits- und Zwangsverhältnisse offenlegen, daß der eigentliche Souverän faktisch vollkommen entmachtet worden ist. Das Zweierbündnis der beiden Großparteien PSOE und PP, die Spanien seit dem Ende der Franco-Zeit abwechselnd regiert und durch die dadurch postulierte Option eines politischen Wechsels zu einer Demokratie gemacht haben, erwies sich in dieser Frage als uneingeschränkt funktionsfähiges Instrument zur Durchsetzung administrativer Anforderungen, die von gänzlich anderer Seite an Spanien gestellt wurden. So haben Frankreich und Deutschland, die durch eine zwischen dem französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy und Kanzlerin Angela Merkel unlängst getroffene Vereinbarung ein gemeinsames Vorgehen in der europäischen Wirtschaftspolitik beschlossen haben, Spanien die "Empfehlung" gegeben, zur Beruhigung der Märkte die staatliche Kreditaufnahme zu begrenzen, sprich nach deutschem Vorbild eine "Schuldenbremse" einzuführen.

Für die Bundesrepublik Deutschland beinhaltete dies einen nicht minder schwerwiegenden und in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommenen, geschweige denn kritisch diskutierten Einschnitt, der das im deutschen Grundgesetz verankerte Sozialstaatsprinzip aushöhlt, weil die Prioritäten in der staatlichen Finanz-, Haushalts-, Steuer- und Sozialpolitik gemäß der dieser Maßgabe zugrundeliegenden neoliberalen Agenda auf die Ausgabenbegrenzung verlagert wurden, was im Kern nichts anderes bedeutet, als daß der Staat sich seiner Verpflichtung, Sozialleistungen in umfassendem Sinne zu gewährleisten, entledigt. Der euphemistische Begriff "Schuldenbremse" stellt eine Absage an den Sozialstaat dar, so wie er in der Bundesrepublik Deutschland wie in vielen anderen kapitalistischen Staaten und eben auch Spanien einst postuliert worden war, um den sozialistischen Systemherausforderern Paroli im Kampf um die Hirne und Herzen der Menschen bieten zu können.

Doch dazu besteht, wie es scheint, längst kein Anlaß mehr, und so wird auch in der Europäischen Union ungeniert und mit harten Bandagen ein Sozialkampf von oben geführt, für den es in dieser Größenordnung noch kein historisches Beispiel gibt. In Spanien haben sich PSOE und PP auf die von ihnen innerhalb weniger Wochen durchgesetzte Verfassungsänderung nicht zuletzt auf Druck der Europäischen Zentralbank geeinigt. Deren Chef Jean-Claude Trichet hatte in einem Brief, dessen Wortlaut in der Öffentlichkeit nicht bekannt ist, auf diese "Reform" gedrängt. Hinter diesem Drängen wie auch den "Empfehlungen" Deutschlands und Frankreichs ist eine Faust zu erkennen, die zuzuschlagen, sprich dem Land die benötigten Kredite vorzuenthalten droht, wenn die ihm gestellten Bedingungen nicht erfüllt werden. Seitens der EZB wurde nun, nachdem die spanischen Großparteien die ihnen gesetzten Vorgaben erfüllt haben, verlautbart, daß die Bank bereit sei, in großem Umfang spanische Staatsanleihen aufzukaufen.

Bereits Ende August, als PSOE und PP dieses Vorgehen untereinander beschlossen hatten, war es in Madrid zu spontanen Protestkundgebungen gekommen, die sich vor allem daran entzündeten, daß diese Verfassungsänderung nicht, wie in Spanien sonst üblich, durch eine Volksbefragung durchgeführt werden sollte. Regierung und "Opposition" - das Wort einer Zweiparteiendiktatur machte bereits die Runde, da PSOE und PP die Proteste der übrigen, insofern tatsächlich oppositionellen Parteien im spanischen Parlament ignorierten - wußten sehr genau, warum sie in Sachen "Schuldenbremse" kein Referendum durchführen lassen wollten, hätten sie doch die Ablehnung des aus Berlin, Paris und Brüssel verlangten Schritts durch das faktisch seiner Souveränität beraubte Wahlvolk riskiert. Damit ist endgültig eingetreten, wovor der spanische Regierungsberater José Ignacio Torreblanca, Professor an der Madrider Universidad Nacional de Educación a Distancia (UNED) und Leiter des Madrider Büro des European Council on Foreign Relations (ECFR), schon vor Monaten gewarnt hatte.

Torreblanca hatte in einer der größten spanischen Zeitungen, El País, deutlich gemacht, daß einige EU-Staaten, angeführt von Deutschland, die Krise benutzen würden, um anderen Staaten ihr Wirtschaftsmodell aufzuzwingen. Sollte dies so weitergehen, würde die Europäische Union binnen kurzem denselben schlechten Ruf wie der IWF seit den 1980er Jahren vor allem in Asien und Lateinamerika genießen, nämlich den, als Werkzeug zu fungieren, um eine sozial äußerst schädliche Wirtschaftspolitik durchzusetzen. Damit riskierten diese Staaten, so die warnenden Worte Torreblancas, der als Mitglied des ECFR im übrigen keineswegs der sozialen Emanzipation der europäischen Staaten, sondern, wenn man so will, ihrer herrschaftspolitisch effizienteren Zurichtung verpflichtet ist, "das Ende Europas". Selbst wenn diese Methoden funktionierten, so das Fazit des spanischen Wissenschaftlers, würden sie die EU mit einem "ernsten Demokratie- und Identitätsdefizit" behaften [1].

Deutlicher formuliert: Die EU würde Gefahr laufen, als angehender Superstaat, der nicht etwa nur Demokratie- oder sonstige Mängel aufweist, sondern in seinem Fundament darauf ausgerichtet ist, die bislang in nationalen Bezügen organisierte Administrativgewalt in die Hände einer kleinen Funktionselite an der Spitze einer europäischen Hierarchie zu übertragen, die der Kontrolle durch die Bevölkerungen ihrer Mitgliedstaaten nahezu vollständig entzogen ist, abgelehnt zu werden. Ein Vorgeschmack dessen zeichnet sich derzeit in Spanien ab. Am 18. Mai 2011 hatte Kanzlerin Merkel, nachdem in Deutschland das Renteneintrittsalter von 65 auf 67 Jahre heraufgesetzt worden war, wie aus eigener Machtvollkommenheit verlangt, daß diese Demontage des bestehenden Sozialstaats auch in den Staaten Südeuropas vollzogen werden solle. Es ginge nicht, so glaubte Merkel verkünden zu können, daß in Ländern wie Griechenland und Spanien die Menschen früher in Rente gingen als in Deutschland - alle müßten sich ein wenig gleich anstrengen.

Die nun Spanien von ihrer wie auch französischer Seite im Verbund mit der EZB aufgezwungene Verfassungsänderung, um auch in diesem Land unter dem Titel "Schuldenbremse" den Sozialabbau zu forcieren, rief Proteste und Gegenkräfte auf den Plan, die Prof. Torreblanca mit seinen mahnenden Worten noch an der Entfaltung zu hindern gesucht hatte. So wie in Spanien (und Griechenland) werden, wie unschwer vorherzusagen ist, noch weitere kleinere und mittlere Staaten unliebsame Erfahrungen mit der EU machen und einen sehr hohen Preis für "Hilfen" der Brüsseler Administration, die die finanziellen Engpässe und Abhängigkeiten der schwächeren Länder systematisch ausnutzt, zahlen müssen, nämlich die Preisgabe ihrer Souveränität.

In Spanien organisieren bereits seit Mai mehr und mehr Menschen ihre Proteste außerhalb des parlamentarischen Rahmens. Die Plattform "Wirkliche Demokratie jetzt", die sich als Demokratiebewegung versteht, lehnt den von der "Zweiparteiendiktatur PPSOE" (eine Zusammenfügung der Parteinamen PSOE und PP) verfolgten neoliberalen Kurs ab und ruft immer wieder zu Demonstrationen und Kundgebungen auf. Die am vergangenen Freitag durch die wie aus dem Nichts entstandene faktische Einheitspartei "PPSOE" beschlossene Verfassungsänderung verstärkt den bereits seit längerem schwelenden und durch brutale Polizeieinsätze gegen Protestierende, etwa der Bewegung "Die Empörten", zusätzlich angestachelten Unmut noch.

An mahnenden Worten hat es nicht gemangelt. Die in die spanische Verfassung implantierte "Schuldenbremse" werde, so die Einschätzung des Verfassungsrechtlers Antonio Cabo de la Vega [2], dazu führen, daß der Staat in Zukunft selbst dann, wenn es dafür eine klare parlamentarische Mehrheit gäbe, keine Investitionen in soziale Aufgaben mehr vornehmen könne. Dazu muß man wissen, daß Spanien innerhalb der 15 größten EU-Staaten ohnehin die geringsten Sozialausgaben sowie eine Steuerpolitik aufweist, die bei einer Kapitalbesteuerung von nur zehn Prozent gegenüber einer Besteuerung der Arbeitseinkünfte in Höhe von 23 bis 28 Prozent die Klasse der Unternehmen extrem begünstigt.

Der Politikwissenschaftler Juan Carlos Monedero aus Madrid machte in dieser Situation einen Vorschlag, der vor zwei Jahren in dem mittelamerikanischen Staat Honduras einen Militärputsch zum Sturz der demokratisch gewählten Regierung Präsident Manuel Zelayas geführt hatte. Monedero forderte nicht mehr und nicht weniger als die Einsetzung einer Verfassungsgebenden Versammlung, wie es sie in den in sozialpolitischer wie auch demokratischer Hinsicht als fortschrittlich geltenden lateinamerikanischen Staaten (Venezuela, Bolivien und Ecuador) bereits gegeben hat mit der Folge, daß sich die dortigen Bevölkerungen ihrer überkommenen Verfassungen entledigten zugunsten eines neuen, aus einem demokratischen Willensbildungsprozeß hervorgegangenen Grundlagenwerks.

"Wieso sollten wir das hier nicht machen können?" lautete die Frage Monederos [2], der damit ein sehr heißes Eisen anfaßte nicht etwa, weil sein Vorschlag einen umstürzlerischen, revolutionären und mit demokratischen Ansprüchen nicht zu vereinbarenden Inhalt hätte. Das genaue Gegenteil ist der Fall. Monederos rhetorisch gemeinte Frage sticht, gerade weil sie aus der Mitte der Gesellschaft kommt und insofern schwerlich als randständig oder extrem diskreditiert werden kann, angesichts einer infolge der sozialen Spannungen ohnehin angespannten politischen Lage in ein Wespennest. Und während bei den kleinen, "echten" Oppositionsparteien im spanischen Parlament angesichts der von "PPSOE" rundweg abgelehnten Anträge, zu der im Schnellverfahren beschlossenen Verfassungsänderung ein Referendum durchzuführen, das Wort von einem undemokratischen "Verfassungsputsch" die Runde macht, heißt eine zentrale Parole der Protestierenden: "Sie nennen es Demokratie, aber es ist keine!" [3]

Wenn diese Verfassungsänderung tatsächlich, wie es den Anschein hat, den maßgeblichen Kräften Spaniens seitens der EU bzw. der in ihr dominierenden Elite aufgezwungen wurde, steht wohl außer Frage, daß dieser Moloch seine schärfsten Krallen ausfahren und einen verfassungsgebenden Prozeß "von unten", der seiner Kontrolle vollständig entzogen wäre, nicht hinnehmen und dessen Ergebnis, sprich eine neue Verfassung, um deren demokratische Legitimation es ungleich besser bestellt wäre, nicht respektieren würde. Würden die EU-Oberen den Begriff Demokratie nicht als Legitimationsversprechen im eigenen Haus sowie als Rechtfertigungskonstrukt ihrer sogar militärischen Interventionen in anderen Regionen der Welt benutzen, sondern als unumstößliche Begrenzung des eigenen Herrschaftsstrebens akzeptieren, hätten die "Neins" der Bevölkerungen Frankreichs, der Niederlande und Irlands zur EU-Verfassung zu etwas anderem als der Durchsetzung eines nahezu textidentischen Reformwerks ohne leidige Referenden bzw. - wie im Fall Irlands - einfach zu einer zweiten Abstimmung, damit das Wahlvolk "richtig" entscheide, geführt.

Anmerkungen

[1] Rebellion der Eliten, german-foreign-policy.com, 19.05.2011

[2] Durchgepeitscht. Die großen Parteien Spaniens wollen im Eiltempo "Schuldenbremse" in die Verfassung schreiben. Von Carmela Negrete, junge Welt, 01.09.2011, S. 7

[3] "Putsch" in Spanien. Von André Scheer, junge Welt, 08.09.2011, S. 1


9. September 2011