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DILJA/026: Quo vadis, Griechenland? Das Rad der Geschichte steht still (SB)


Griechenland 2012 - Die radikale Linke ist der eigentliche Wahlsieger



Antonis Samaras, Vorsitzender der konservativen Nea Dimokratia, die aus den Parlamentswahlen am Sonntag ungeachtet ihre massiven Verluste 18,85 Prozent erzielen konnte und somit als stärkste Partei mit der Regierungsbildung beauftragt wurde, schmiß nach nur wenigen Stunden das Handtuch. "Ich habe getan, was ich konnte, um zu einem Ergebnis zu kommen", aber "es war unmöglich" [1], lautete am gestrigen Montagabend das Fazit des Politikers, der vergeblich versucht hatte, eine Regierungsbündnis zur Fortsetzung des EU-Spardiktats zu schmieden. Dank des wenn auch knappen Vorsprungs vor der Linksallianz Syriza, der eigentlichen Wahlsiegerin, die ihren Stimmanteil gegenüber 2009 mehr als verdreifachen konnte und von zuletzt 4,6 auf 16,8 Prozent kam, ist die konservative Partei in der komfortablen Rolle, als stärkste Partei 50 Bonussitze im Parlament zu bekommen, was ihr freilich nicht zur Regierungsbildung verhalf, da sie auch in einer Koalition mit der zweiten Pro-EU-Partei im neuen Parlament, der sozialdemokratischen PASOK, nur auf 149 der 300 Sitze kommen würde.

Alle weiteren Verhandlungen mit den Parteiführern möglicher Koalitionspartner, so ließ Samaras nach wenigen Stunden wissen, sind gescheitert, da weder die Demokratische Linke, die sich 2010 vom Linksbündnis Syriza abgespalten hatte, noch Syriza selbst zu einem Bündnis mit den Konservativen bereit waren. Nun ist es an Syriza und ihrem Vorsitzenden Alexis Tsipras, den Staatspräsident Karolos Papoulias noch am heutigen Dienstag mit dem Mandat zur Regierungsbildung versehen wird, binnen dreier Tage eine tragfähige Regierung auf die Beine zu stellen. Rechnet man die Sitze einer denkbaren Linkskoalition, bestehend aus Syriza, der Kommunistischen Partei (KKE) und der Demokratischen Linken zusammen, ergäbe dies mit 97 Sitzen ebenfalls ein nicht mehrheitsfähiges Bündnis. Die Unabhängigen Griechen mit ihren 33 Sitzen wären allein, selbst wenn es zu einer Annäherung käme, kein Mehrheitsbeschaffer, und so könnte Syriza bestenfalls, da ansonsten nur noch die faschistische Chryssi Avgi mit 21 Sitzen im Parlament vertreten sein wird, eine Regierung bilden, wenn es ihr gelänge, abtrünnige PASOK- oder ND-Abgeordnete mit ins Boot zu holen.

In Griechenland wie auch in den Reihen sogenannter internationaler Beobachter beginnt sich die Einschätzung durchzusetzen, daß es in Bälde zu abermaligen Neuwahlen kommen könnte, wie es laut Verfassung vorgeschrieben ist, sollte nach der zweitstärksten auch die drittstärkste Partei (PASOK) an der Aufgabe der Regierungsbildung scheitern. Steht bis zum 17. Mai keine neue Regierung, würde in Griechenland am 17. Juni abermals eine Parlamentswahl abgehalten werden. Würden weitere PASOK-Wähler abspringen und stattdessen Syriza wählen, könnte eine Situation entstehen, in der erstmals in der griechischen Geschichte die Chance einer Linksregierung bestünde. Die Gründe, die zur massenhaften Abwanderung früherer Wähler und Wählerinnen der PASOK, die zwei Drittel ihrer Wählerschaft verloren hat, geführt haben dürften, werden in diesen wenigen Wochen nichts an Aktualität verlieren können, nimmt doch die große Not der griechischen Bevölkerung von Tag zu Tag zu.

Durch die von der Troika dem Land aufgezwungenen "Spar"-Maßnahmen hat sich die Wirtschaftsleistung um 16 Prozent verschlechtert. Seit Beginn der Krise sind 60.000 Betriebe in Griechenland bankrott gegangen, im laufenden Jahr wird mit dem Verlust weiterer 160.000 Arbeitsplätze allein im Handel gerechnet. Die soziale Lage ist eine soziale Katastrophe und für immer mehr Menschen fast schon eine Frage von Leben und Tod. Seit 2009 ist das verfügbare Realeinkommen um durchschnittlich 23 Prozent gesunken, Mindestlohn und Arbeitslosengeld, das nur ein Jahr lang gezahlt wird, wurden um 22 Prozent gekürzt. Eine Viertelmillion Menschen kann sich nicht mehr aus eigener Finanzkraft ernähren, mehrere hunderttausend sind aus der medizinischen Versorgung herausgefallen, weil sie die Sozialversicherungsbeiträge nicht mehr aufbringen können. Die Zahl der Selbstmorde steigt ebenso rapide an wie die der Wohnungslosen, und so werden in Griechenland immer weniger Menschen verstehen bzw. akzeptieren können, warum der so hochverschuldete Staat so massive Rüstungsausgaben tätigen muß. So exportierte allein Deutschland, der größte Waffenexporteur und Krisenprofiteur in der Europäischen Union, noch im Jahre 2010, als die sogenannte Schuldenkrise schon voll entbrannt war, Rüstungsgüter im Wert von 35,8 Millionen Euro nach Griechenland [2].

Selbst wenn es der Linksallianz Syriza und ihrem Vorsitzenden Alexis Tsipras in den ihnen nun zur Verfügung stehenden drei Tagen und angesichts der derzeitigen parlamentarischen Kräfteverhältnisse nicht gelingen sollte, eine Linksregierung zu schmieden, die nicht nur einen Richtungswechsel, sondern eine völlige Neubestimmung der Regierungspolitik gerade auch in Hinsicht auf die Schuldenpolitik vornimmt, liegt doch die Vermutung nahe, daß sie bei etwaigen Neuwahlen noch besser abschneiden würde. Schon jetzt zeichnet sich ab, daß die jahrzehntelangen Wahlerfolge der beiden "Traditionsparteien" genannten Pro-EU-Parteien, PASOK und ND, zu einem schwer zu beziffernden Teil der wenn auch fatalistischen Ratio geschuldet gewesen sein könnten, daß die kleineren Parteien keine Chance gehabt hätten, deren Vormachtstellung je zu durchbrechen. Wäre die Wählerschaft dieser vermeintlichen Volksparteien tatsächlich von dem Mantra der Parteioberen, nämlich daß der wenn auch schmerzhafte Sparkurs die einzige und deshalb alternativlose Möglichkeit wäre, wieder zu einer besseren Entwicklung zu kommen, überzeugt, hätte es bei den Wahlen am Sonntag keine so hohen Verluste bei ihnen geben können.

Zu den eigentlichen Wahlsiegern gehört im Rahmen der Syriza auch Manolis Glezos, steht er doch auf dem ersten Platz ihrer Landesliste. Glezos ist nicht nur ein Veteran des griechischen Widerstandskampfes gegen die Besatzung durch Hitler-Deutschland, er steht genauso für den Kampf gegen die Diktatur. Nach deren Beendigung im Jahre 1974 ließ er sich für die PASOK bei den Wahlen 1981 und 1985 ins Parlament wählen, 1984 wurde er für dieselbe Partei sogar Abgeordneter im Europäischen Parlament. Für die Vereinigung der Demokratischen Linken (EDA), als deren Abgeordneter er, obwohl er wegen Pressedelikten - er leitete bei Kriegsende eine kommunistische Zeitung - noch in den 1950er inhaftiert war, 1951 in einen Hungerstreik trat, um die Freilassung ebenfalls inhaftierter Parteigenossen zu erstreiten, war er zwischen 1985 und 1989 als Vorsitzender tätig. Welchen Stellenwert ein Mensch wie er in der griechischen Gesellschaft tatsächlich einnimmt, läßt sich am ehesten erahnen anhand des von ihm und dem früheren Widerstandskämpfer und Komponisten Mikis Theodorakis im Oktober 2011 veröffentlichten Aufrufs, der wie ein inoffizielles Partei- oder vielmehr Grundsatzprogramm einer griechischen Volksbewegung gelten könnte, die sich dem Diktat der Troika widersetzt. So hatte es am Ende des Aufrufs geheißen [3]:

Die momentane Architektur des Finanzwesens, welche auf den Verträgen von Maastricht und der WHO basiert, hat in Europa eine Schuldenerzeugungsmaschine geschaffen. Wir brauchen eine radikale Änderung aller Verträge, die Unterordnung der EZB unter die politische Kontrolle durch die Völker Europas, eine "goldene Regel" für soziale, fiskalische und ökologische Mindeststandards in Europa. Wir brauchen dringend einen Paradigmenwechsel, die Rückkehr zur Wachstumsstimulation durch die Stimulation der Nachfrage, durch neue europäische Investitionsprogramme, eine neue Regulierung, Besteuerung und Kontrolle des internationalen Kapital- und Warenflusses; eine neue Form des vernünftigen und bedachten Protektionismus in einem unabhängigen Europa, das der Protagonist im Kampf um einen multipolaren, demokratischen, ökologischen und sozialen Planeten sein wird.
Wir rufen die Kräfte und Individuen, die diese Ideen teilen, auf, so bald wie möglich zu einer breiten europäischen Aktionsfront zu verschmelzen; ein europäisches Übergangsprogramm zu erstellen, unsere internationalen Aktionen zu koordinieren, um so die Kräfte einer öffentlichen Bewegung zu mobilisieren, das gegenwärtige Mächteverhältnis rückgängig zu machen und die momentanen historisch verantwortungslosen Führungen unserer Länder zu stürzen, um unsere Völker und Gesellschaften zu retten, bevor es für Europa zu spät ist.

Fußnoten:

[1] Regierungsbildung in Griechenland. Tagesschau, 08.05.2012,
http://www.tagesschau.de/ausland/griechenland2188.html

[2] Das Antlitz der Krise, german-foreign-policy.com, 07.05.2012

[3] Gemeinsamer Aufruf von Mikis Theodorakis und Manolis Glezos, Autor: Mikis Theodorakis, Veröffentlichungsdatum: 22.10.2011
http://de.mikis-theodorakis.net/index.php/article/articleview/570/1/80/

8. Mai 2012