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DILJA/028: "Stabilität" und "Schuldenbremse" - Etikettierungen rigiden Sozialabbaus (SB)


Deutsch-französische Kooperation auf qualitativ verbessertem Niveau



Der Fiskalpakt sei beschlossene Sache, an ihm gäbe es nichts zu rütteln, war in Berlin zu vernehmen, noch bevor der neugewählte sozialistische Präsident Frankreichs, François Hollande, am Dienstag seinen Antrittsbesuch bei der deutschen Kanzlerin machte. "Wir in Deutschland, und ich auch ganz persönlich, sind der Meinung, dass der Fiskalpakt nicht zur Disposition steht" [1], ließ Merkel wissen ungeachtet der Tatsache, daß jener Pakt bislang weder in der Europäischen Union in Kraft getreten ist noch in Deutschland das einer Grundgesetzänderung entsprechende Verfahren erfolgreich durchlaufen hätte. Der Vertrag wurde zwar von 25 der 27 EU-Staaten respektive ihren Regierungen unterzeichnet, doch die Ratifizierung ist nicht einmal in Deutschland, das ihn maßgeblich vorangetrieben und seine Unterzeichnung durchgesetzt hat, eine sichere Sache.

Mehr oder minder klammheimlich wurde die Abstimmung im deutschen Bundestag, die ursprünglich für die letzte Sitzungswoche im Mai geplant war, von der Tagesordnung genommen. Am 15. Juni hätte der Bundesrat über den Fiskalpakt befinden sollen. Da dieser Vertrag weitreichende Eingriffe in die Hoheitsrechte deutscher Parlamente beinhaltet, erfordert er in Bundestag wie Bundesrat eine Zweidrittelmehrheit. Weder die SPD noch die Ländervertretungen haben der Kanzlerin bislang ihre Bereitschaft signalisiert, dieses Vertragswerk so ohne weiteres durchzuwinken. Sahra Wagenknecht, stellvertretende Vorsitzende der Linkspartei, kommentierte die Regierungserklärung der Kanzlerin vom 10. Mai, derzufolge sie Wachstum mit Strukturreformen erreichen wolle, die kein Geld kosteten, als einen Vorschlag, der nichts anderes als die Fortsetzung der bisherigen Lohn- und Sozialkürzungen beinhalte und, wie die Beispiele in Griechenland, Spanien und Italien zeigten, das Gegenteil von Wachstum bewirkten. [2]

Offensichtlich ist der Bundesregierung das Risiko, schon im Bundestag, wo der Fiskalpakt aufgrund der erforderlichen Zweidrittelmehrheit durch die Gegnerschaft von SPD und Linkspartei abgelehnt werden könnte, Schiffbruch zu erleiden, derzeit noch zu groß. Der Fiskalpakt enthält, auf einen kurzen Nenner gebracht, die deutsche "Schuldenbremse" in gegenüber der grundgesetzlichen Regelung noch zugespitzten Form. Diese Regelung ist bereits höchst umstritten, enthält sie doch eine faktische Aushöhlung des Sozialstaatsprinzip sowie eine Beschneidung des Haushaltsrechts des Bundes und der Länder. [3]‍ ‍Der grundgesetzlichen "Schuldenbremse" zufolge müssen die Bundesländer ab 2020 Haushalte ohne Neuverschuldung vorlegen, während sich der Bund ab 2016 um maximal 0,35 Prozent des Bruttosozialprodukts neu verschulden dürfte. Die nun bevorstehende, durch den Fiskalpakt, sollte er in der EU und damit auch Deutschland Gültigkeit erlangen, begründete "Schuldenbremse" würde noch weit über diese Bestimmungen hinausgehen.

So befürchten die Bundesländer, daß ihnen auf diesem Wege schon 2014 enge Auflagen gemacht werden könnten. So soll es im Bundesfinanzministerium bereits detaillierte Vorgaben dazu geben, wie die Länder (!) ihre Haushaltsdefizite abbauen könnten. [4] Dies rief, nachdem das Fiskalpakt-Projekt bereits im Bundestag auf Kritik in der Opposition gestoßen war, auch den Widerstand der Bundesländer hervor, die davor warnten, dieses Vorhaben in wenigen Wochen durch Bundestag und Bundesrat peitschen zu wollen. Peter Friedrich (SPD), Bundesratsminister von Baden-Württemberg, erklärte, die Länder seien beim derzeitigen Stand nicht bereit, Souveränitätsrechte abzugeben. Der Fiskalpakt würde in das Budgetrecht der Länderparlamente eingreifen; die Ankündigung von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble, die Bundesländer einer strengeren Haushaltsüberwachung zu unterziehen, rief bei diesen Empörung hervor. Laut Friedrich würden die Länder dem neuen Schuldenregime nicht zustimmen, solange nicht einmal die Detailbestimmungen über dessen Anforderungen und Sanktionsmöglichkeiten klar seien. [4]

Desinformation scheint also nicht nur in der Öffentlichkeit vorzuherrschen, sondern sogar unter Mandatsträgern, die diesen Pakt anzunehmen und zu verantworten haben würden. Dafür muß es Gründe geben, die in den Inhalten dieses Vertragswerks zu vermuten sein dürften. Kritik an diesem Spardiktat kommt beileibe nicht nur aus den Reihen der Opposition, sondern auch von sogenannten Sachverständigen wie beispielsweise Prof. Peter Bofinger, der als Mitglied des Sachverständigenrates bei einer Expertenbefragung des Haushaltsausschusses des Bundestages zu Fiskalpakt und "Rettungsschirm" ESM am 7. Mai deutlich gemacht hatte, daß in einer wirtschaftlich kritischen Situation "Sparen" pro-zyklisch sei und die Krise noch verschärfen würde. Prof. Bofinger schrieb der Bundesregierung ins Stammbuch, mit ihrer bisherigen Strategie, die Krise durch pro-zyklisch wirkende Sparprogramme lösen zu wollen, "völligen Schiffbruch erlitten" zu haben und erklärte warnend: "Nicht zuletzt die dadurch entstandenen teilweise extrem hohen Arbeitslosenraten von jungen Menschen stellen eine große Gefahr für die politische Stabilität und zugleich für die Zustimmung der Bürger zur Europäischen Union dar." [5]

Wie wahr. Es gibt wohl kaum ein unpopuläreres Vorhaben, das derzeit den Ratifizierungsprozeß in den EU-Staaten durchläuft - oder eben nicht durchläuft. In Frankreich beispielsweise hatte der sozialdemokratische Wahlsieger François Hollande den von der deutschen Kanzlerin der gesamten EU aufoktroyierten Sparkurs scharf kritisiert und sich selbst zum (vermeintlichen) Gegenpol dieser Diktatpolitik aufgebaut. Ob ihm diese Haltung den Wahlsieg über den bisherigen Amtsinhaber und Merkel-Vertrauen Nicolas Sarkozy eingebracht hat oder nicht, mag dahingestellt bleiben. Angesichts des Unmuts, der in allen EU-Staaten, die unter diesem verschärften Spardiktat weitere Einschränkungen der nationalen Souveränität hinzunehmen hätten, anzutreffen sein dürfte, käme Hollande gegenüber Merkel die Rolle eine Oppositionsführers auf EU-Ebene zu.

Tatsächlich jedoch scheint sich der neue französische Präsident bereits in klassischer Weise als Sozialdemokrat zu erkennen gegeben haben, indem er gegenüber einem aus neoliberaler Feder stammenden Diktat eine Gegenposition zwar vortäuscht, aber keineswegs mit Leben und Effizienz zu füllen bereit ist. Der Sinn und Zweck derartiger Manöver liegt ebenso klar auf der Hand wie die politischen Akzeptanz- und Glaubwürdigkeitsprobleme, die in sämtlichen EU-Staaten mit zunehmender Geschwindigkeit anwachsen werden, je massiver und rabiater der mit dem sogenannten Sparkurs kaum schöngeredete Sozial- und Demokratieabbau durchgesetzt wird. Hollande, der unmittelbar nach seinem Amtsantritt in Berlin vorstellig wurde, hat nicht sonderlich tief in die Trickkiste gegriffen, um sich aus der Affäre zu stehlen.

Hatte er noch im Wahlkampf erklärt, den Fiskalpakt nicht ohne Nachverhandlungen bzw. Nachbesserungen ratifizieren und anstelle der Merkel'schen Sparpolitik eine Wachstumspolitik betreiben zu wollen, stellte sich alsbald heraus, daß der Dissenz zwischen Merkel und Hollande einem Sturm in Wasserglas gleicht. So bekräftigte der Franzose in Berlin, daß "Wachstum" in den Mittelpunkt der Gespräche gerückt und auf nationaler wie europäischer Ebene geschaffen werden müsse, um Schulden und Defizite abbauen zu können, und erklärte zugleich, daß er dem Fiskalpakt eine Wachstumsdimension "hinzufügen" wolle. [6] Der Begriff "Wachstum" zerfällt hier zu einer Worthülse, deren einzige Funktion darin besteht, durch den vermeintlichen Gegensatz zur "Sparpolitik" potentielle Pakt-Gegner einzubinden und zu neutralisieren, indem sie Hoffnungen und Erwartungen beispielsweise in Hollande setzen.

Derartige Wortklaubereien sind schnell entschlüsselt, stellt sich doch die deutsche Kanzlerin keineswegs gegen "Wachstum". Ganz im Gegenteil, sie geht damit völlig d'accord. Allerdings muß das Kleingedruckte beachtet werden, propagiert sie doch "Wachstum durch Strukturreformen" und nicht ein "Wachstum auf Pump", denn "das würde uns wieder genau an den Anfang der Krise zurückwerfen". [7] Strukturreformen sind eine dezente Umschreibung für die Fortsetzung eines auf Lohnkürzungen und Sozialabbau abgestellten "Spar"-Kurses, hinter der Absage eines "Wachstums auf Pump" verbirgt sich die Ablehnung des von Hollande zumindest im Munde geführten Konzeptes, durch Investitionen die Wirtschaft anzukurbeln. Der neue französische Präsident wiederum hat seinerseits, wenn auch in noch verblümten Formulierungen, bereits zu verstehen gegeben, daß das neue EU-Regime sehr wohl mit ihm zu machen sein könnte. Nach seinem Antrittsbesuch in Berlin am Dienstag hieß es bereits, Hollande hätte die Frage, ob er den von Deutschland geforderten Fiskalpakt mit seiner strafferen Haushaltsdisziplin unverändert ratifizieren werde, "ausdrücklich" offen gelassen [8].

Eine solche Offenlassung spricht Bände. Würde der französische Präsident tatsächlich, wie er wohl viele seiner Wähler und Wählerinnen hat glauben lassen, auf Gegenkurs gegenüber dem Berliner Spardiktat gehen, wäre hier Unmißverständlichkeit angezeigt gewesen. Stattdessen ließ er durchblicken, den Fiskalpakt zu akzeptieren, wenn denn "nur genug für Wachstum in Europa getan werde" [8]. Ja hat er denn das neoliberale Mantra noch immer nicht verstanden? Der Stabilitäts- und Wachtumspakt der EU, der in dem nun bevorstehenden Fiskalpakt noch seine Verschärfung erfährt, habe doch nichts anderes im Sinn, als den Gürtel immer enger und enger zu schnallen, damit irgendwann etwas dabei herauskomme! Wer dem widerspricht, hat nur noch nicht verstanden, daß das Ausbleiben welcher Wachstumsimpulse auch immer lediglich unterstreicht, daß noch nicht genug gespart und gekürzt worden ist und daß der bereits eingeschlagene, wenn auch erfolglose und offensichtlich kontraproduktive Kurs noch verschärft werden müsse...

Mit anderen Worten: Dem neoliberalen Diktat ist argumentativ auf dieser Ebene einer Pseudodebatte nicht beizukommen, da sich in ihm das Interesse, den Raubbau auf die nächsthöhere Stufe repressiver Politik zu heben, manifestiert. Da auf diesem Wege nicht nur weitere soziale Härten, sondern auch ein qualitativer Ausbau des EU-Molochs unabwendbare Bestandteile und Instrumente einer unheilvollen Gesamtentwicklung sind, besteht an Schönrednern vom Schlage des neuen Partners der deutschen Kanzlerin ein verstärktes Interesse all derjenigen, die an einer fortgesetzten Vernebelung der Lage zum Zwecke ihrer Aufrechterhaltung aktiv beteiligt sind.


Fußnoten:

[1]‍ ‍Ganz Europa will nicht mehr sparen? Merkel ist das egal. Die Welt, 08.05.2012

[2]‍ ‍Taschenspielertricks. Der Fiskalpakt muß gestoppt werden. Gastkommentar von Sahra Wagenknecht. Junge Welt, 11.05.2012, S. 8

[3]‍ ‍DILJA/194: "Schuldenbremse" im Grundgesetz höhlt die Reste des Sozialstaats aus (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/recht/meinung/remei194.html

[4]‍ ‍Bundesrat. Länder bremsen Fiskalpakt. Baden-Württembergs Bundesratsminister Peter Friedrich (SPD) weist neue Pflichten zurück
http://www.badische-zeitung.de/nachrichten/deutschland/laender-bremsen-fiskalpakt--59311889.html

[5]‍ ‍Argumente totgeschwiegen. Albrecht Müller widmete sich am Donnerstag im Internetblog "Nachdenkseiten" dem Mobbing gegen Die Linke. Rubrik "Abgeschrieben", in Junge Welt, 11.05.2012, S. 8

[6]‍ ‍Treffen in Berlin. Merkel und Hollande wollen deutsch-französische Beziehung ausbauen. Focus, 15.05.2012,
http://www.focus.de/finanzen/news/wirtschaftsticker/treffen-in-berlin-merkel-und-hollande-wollen-deutsch-franzoesische-beziehung-ausbauen_aid_753485.html

[7]‍ ‍Merkel gegen "Wachstum auf Pump". Regierung und Opposition streiten im Parlament um Konjunkturimpulse bei Bekämpfung der Euro-Krise. junge Welt, 11.05.2012, S. 1

[8]‍ ‍Hollandes Antrittsbesuch bei Merkel. Neuanfang der deutsch-französischen Beziehungen, Focus, 16.05.2012
http://www.focus.de/politik/diverses/tid-25827/hollandes-antrittsbesuch-bei-merkel-neuanfang-der-deutsch-franzoesischen-beziehungen-_aid_753713.html

18.‍ ‍Mai 2012