Alexis Tsipras - möglicher neuer Regierungschef Griechenlands in Berlin
Am 17. Juni wird in Griechenland abermals gewählt. Es ist keine Wahl zwischen Pest und Cholera, stehen sich doch in der Vielzahl zugelassener Parteien letzten Endes zwei Blöcke gegenüber, die sich anhand der Frage, ob sie den von der EU erzwungenen Sparkurs mitzutragen bereit sind oder nicht, polarisiert haben. Auf der Basis einiger demoskopischer Umfragen wird ein Politikwechsel anhand dieser Bruchlinie nicht nur für möglich oder wahrscheinlich gehalten, sondern angenommen und vorhergesagt. Dieser Fall, aus Sicht der EU-Größen so etwas wie der "größte anzunehmende Unfall", träte ein, wenn das Linksbündnis Syriza, das bereits bei den Parlamentswahlen vom 6. Mai ein sensationelles Ergebnis eingefahren hatte, weitere Stimmgewinne auf sich vereinen könnte.
In dem neugebildeten und bereits wieder aufgelösten Parlament war Syriza als zweitstärkste Kraft vertreten gewesen, nur wenige Prozente hinter der EU-konformen und als konservativ geltenden Nea Dimokratia (ND), aber deutlich vor der sozialdemokratischen und ebenfalls EU-konformen PASOK. Zwar kam nach drei Versuchen der Regierungsbildung keine mehrheitsfähige Koalition zustande, weshalb, um die deshalb erforderlich gewordenen Neuwahlen zu ermöglichen, das Parlament wieder aufgelöst wurde, doch die langjährige, seit dem Ende der Diktatur regierende Zwei-Parteien-Wechselherrschaft von ND und PASOK wurde schon am 6. Mai beendet. Massive Stimmenverluste mußten nicht für die beiden bisherigen Großparteien hinnehmen, sondern auch alle übrigen Kräfte, die sich zuvor bereitgefunden oder erklärt haben, den Brüsseler "Spar"-Kurs zu akzeptieren.
So erging es beispielsweise auch der als extrem rechtskonservativ geltenden Orthodoxen Volksversammlung (LAOS), die Ende vergangenen Jahres wie auch ND und PASOK die von dem Finanzökonom Loukas Papadimos geleitete Übergangsregierung unterstützt hatte. Ihr Chef Giorgos Karatzaferis hatte schon Anfang des Jahres politischen Weit- oder vielmehr Klarblick bewiesen, als er sich gegen Neuwahlen aussprach, weil diese "die kommunistische Gefahr verstärken" würden. Karatzaferis sagte warnend: "Wenn wir die scharfen Maßnahmen durchs Parlament bringen und dann zur Wahlurne rufen, dann gewinnen nur die Linken" [1]. Auf den Gedanken, die "scharfen Maßnahmen" zur Disposition zu stellen und ihre vermeintliche Effizienz in Hinsicht auf das vorgebliche Ziel, die staatsbankrottgefährdete griechische Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen, zu hinterfragen, kamen die Politiker all jener Parteien, die sich als EU-Partner verdingt hatten, aus naheliegenden Gründen nicht.
Wenn nun andere Politiker und andere Parteien Fragen stellen und Aussagen treffen, die die Pro-Brüssel-Front tunlichst vermeidet, ist es nicht gerade als große Überraschung zu bewerten, daß es beim nächsten Wahltag tatsächlich zu erdrutschartigen Veränderungen der bisherigen griechischen Parteienlandschaft kam. Es zeichnet sich ab, daß die Mehrheit der griechischen Wähler und Wählerinnen nicht länger bereit ist, Parteien und/oder Kandidaten ihren Zuspruch zu geben, die die sogenannte Sparpolitik ungeachtet der Tatsache, daß sie in den zurückliegenden fünf Jahren die Talfahrt nur noch verstärkt und beschleunigt hat, fortsetzen wollen. Die Pro-EU-Front zeichnet sich auch dadurch aus, die Argumente und Diskussionsangebote ihrer Kontrahenten nicht zur Kenntnis zu nehmen. Damit steht sie allerdings nicht allein da, befleißigte sich doch auch die deutsche Kanzlerin im Falle Griechenlands einmal mehr der Untugend, einen aussichtsreichen Kandidaten für das höchste Regierungsamt in einem EU- und NATO- Partnerstaat vor dem Wahltag nicht zu empfangen.
Auf diese Weise hatte Angela Merkel bereits den neuen französischen Präsidenten François Hollande brüskiert, was ihr wenig half, die Abwahl ihres engen Verbündeten Nicolas Sarkozy zu verhindern. Im Falle Griechenlands, genauer gesagt des Berlin-Besuchs des Syriza-Vorsitzenden Alexis Tsipras, blieb das Kanzleramt, im Bilde gesprochen, voll und ganz verbarrikadiert. Die Kanzlerin wie auch das gesamte im Bundestag vertretene politische Spektrum war sich in diesem Punkt, den möglichen nächsten Regierungschef vollständig zu ignorieren, einig. Einzige Ausnahme bildete die Linkspartei, die es sich nicht nehmen ließ, den Vorsitzenden ihrer griechischen Schwesterpartei in ihre Bundestagsfraktion einzuladen, bevor dieser am Dienstag in Berlin an der Bundespressekonferenz teilnahm und deutlich machte, was ihn zu seiner Visite in Deutschland wie auch, am Tag zuvor, in Frankreich veranlaßt hatte.
Zunächst einmal machte Alexis Tsipras deutlich, daß ein Wahlsieg seines Bündnisses nicht automatisch den Austritt Griechenlands aus der Euro-Zone bedeuten würde. Syriza sei eine "tief europafreundliche" Kraft, so Tsipras, der in Berlin erklärte: "Wir wollen nicht die Zerstörung Europas". [2] Er machte allerdings auch unmißverständlich deutlich, daß im Falle eines Wahlsieges seines Linksbündnisses eine Fortsetzung der bisherigen Politik nicht erfolgen würde. Die sogenannten Sparauflagen, die die Europäische Union bzw. der Internationale Währungsfonds (IWF) Griechenland auferlegt hätten, lehnte Tsipras ab. Die ihm entgegengebrachte Erklärung, daß es keine weiteren Hilfen geben würde, sollte Griechenland die Reformvereinbarungen aufkündigen, bezeichnete der Syriza-Chef als "Erpressung". Dies sei der falsche Weg, so der griechische Linkspolitiker, der direkt die Völker Frankreichs und Deutschlands ansprach, indem er sagte: "Wir bitten um die Solidarität der Völker in Deutschland und Frankreich." [2]
Die in diesen Ländern dominierenden Politiker und Medien zeigten sich demgegenüber taub bis ignorant - selbstverständlich aus naheliegenden und nachvollziehbaren Gründen. So betonte Tsipras die Souveränität Griechenlands, womit er unmißverständlich zu verstehen gab, daß er als Appendix einer Brüsseler Verwaltungspolitik nicht zur Verfügung stehen würde. Er warnte davor, daß ganz Europa auf eine Katastrophe zusteuern könnte und begründete dies mit der Situation in den 1930er Jahren, die in den Nationalsozialismus mündete. Gegenüber der deutschen Kanzlerin machte er deutlich, daß sie sich nicht einmischen solle und daß sie begreifen müsse, daß es innerhalb der EU nur gleichberechtigte Partner und nicht Eigentümer und Mieter gäbe. Den bisherigen Spar- und Reformkurs bezeichnete er als "vollständig ineffizient". [2] Zur Begründung führte er an, daß die deutschen Steuerzahler ihr Geld in ein Faß ohne Boden steckten, mit dem in Wirklichkeit die Banken finanziert werden würden. [3]
Tsipras propagierte anstelle von Sparprogrammen Investitionen in die griechische Wirtschaft mit dem Argument, daß Griechenland nur dann seine Schulden würde zurückzahlen können. Spricht so ein Politiker, der sein Land vollends in den Ruin bringen will? Wohl kaum. Die deutsche Presse hingegen behandelt ihn, noch bevor seine Vorschläge und Argumentationen überhaupt publik wurden, wie den unerwünschten Störenfried, der er in den Reihen all jener, die EU-weit das von der deutschen Kanzlerin maßgeblich vorangetriebene neoliberale Diktat durchsetzen wollen, tatsächlich auch ist. Für die Weigerung Angela Merkels, auf sein Gesprächsangebot einzugehen, hatte der mögliche nächste Regierungschef Griechenlands eine einfache Antwort parat: "Diejenigen, die nicht den Dialog suchen, haben wohl ein schlechtes Gewissen." [4] Alexis Tsipras wird aller Voraussicht nach die am 17. Juni bevorstehenden Neuwahlen gewinnen können, wenn er - und danach sieht es auch nach seinem Besuch in Berlin aus - der konsequent kritischen Haltung gegenüber der EU-Sparpolitik treu bleibt.
Fußnoten:
[1] Ein Viertel der Griechen lebt bereits unter der Armutsgrenze, von Wassilis Aswestopoulos, telepolis, 05.01.2012
http://www.heise.de/tp/artikel/36/36190/1.html
[2] Tsipras in Berlin. Der gefürchtete Grieche bettelt und droht Europa, von Jan Hildebrand, Die Welt, 22.05.2012
http://www.welt.de/politik/ausland/article106362070/Der-gefuerchtete-Grieche-bettelt-und-droht-Europa.html
[3] Tsipras will gemeinsame Lösung. Griechenland soll in Euro-Zone bleiben, focus, 22.05.2012
http://www.focus.de/politik/ausland/tsipras-will-gemeinsame-loesung-griechenland-soll-in-euro-zone-bleiben_aid_756736.html
[4] Chef der griechischen Radikallinken in Berlin. Tsipras stichelt gegen Merkel und EU, von Bernd Niebrügge, tagesschau, 22.05.2012
http://www.tagesschau.de/inland/tsiprasberlin100.html
23. Mai 2012