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STANDPUNKT/063: Ein Europa der Solidarität bedeutet faire Handelspolitik (spw)


spw - Ausgabe 1/2019 - Heft 230
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Meinung
Ein Europa der Solidarität bedeutet faire Handelspolitik

von Dietmar Köster


Einleitung

Die weltweite Zunahme von sozialer Ungleichheit und Armut ist eine der zentralen Ursachen für Flucht und Migration. Die EU-Handelspolitik hat hierzu beigetragen. Ein Europa der Solidarität muss seine Handelspolitik grundlegend ändern, wenn die Länder des Globalen Südens eine Chance für wirtschaftliche Prosperität erhalten sollen. Dazu kann eine mutige sozialdemokratische Politik an einer wachsenden Bereitschaft für Solidarität der Bürger*innen in Europa anknüpfen.


1. Wachsende Bereitschaft für ein Europa der Solidarität(1)

Der Brexit und das Erstarken nationalistischer Kräfte zeigen, dass die Europäische Union am Scheideweg steht: Entweder sie erodiert weiter und wird ein Ort von (autoritären) Nationalstaaten oder es gelingt ein Neustart für ein Europa der Solidarität. Die sozialdemokratische Gestaltungsaufgabe besteht darin, ein solidarisches Europa der Vielen statt der Wenigen zu schaffen, das den Menschen in Zeiten weltweiter Umbrüche und Unsicherheiten Hoffnung auf ein gutes Leben gibt, ohne in einen Eurozentrismus zu verfallen. So wie sie ist, bleibt die EU jedenfalls nicht. Die kommende Europawahl wird zu einer Richtungsentscheidung.

Die Chancen für den Entwicklungspfad eines Europas der Solidarität sind da. Darauf weisen einige Untersuchungen hin, in denen Einstellungen der Bürger*innen gegenüber der EU erfragt wurden: So sehen in Deutschland 75 Prozent (in allen Mitgliedstaaten 66 Prozent) der Befragten in der EU mehr Vor- als Nachteile. Diese allgemeine positive Sichtweise auf die EU wird dadurch untermauert, wenn nach der Bereitschaft für die Solidarität in Europa gefragt wird. 60 Prozent befürworten eine solidarische Politik: Sie wären bereit, in einen Fonds einzuzahlen (z.B. 7 Euro pro Monat), um Bürger*innen eines anderen EU-Landes zu unterstützen, das in eine Wirtschaftskrise mit steigender Arbeitslosigkeit gerät. Daran wird deutlich, dass eine mehrheitliche Bereitschaft zur Unterstützung einer solidarischen Politik in der EU, die eine Umverteilung über nationale Grenzen hinweg praktizieren würde, existiert. Dieses Verständnis von Solidarität unterscheidet sich grundlegend von einem Nationalbewusstsein.

Diese Solidarität bezieht sich auch auf Migrant*innen. Eine Studie zur Integration von Zugewanderten in Deutschland zeigt, dass die Mehrheit der Bürger*innen das Zusammenleben zwischen Einheimischen und Migrant*innen positiv sehen. Diese Erkenntnis steht im Widerspruch zu der verbreiteten Annahme, dass es eine eher überwiegend migrationsfeindliche Stimmung gebe. Eine andere Studie verdeutlicht, dass 77 Prozent der befragten Europäer*innen bereit sind, Flüchtlinge aufzunehmen. Nur in Italien (56 Prozent), in Polen (49 Prozent) und in Ungarn (32 Prozent) liegen die Werte darunter.

Diese Daten weisen darauf hin, dass es in der Bevölkerung ein viel größeres Ausmaß an inner- und außereuropäischer Solidarität gibt, als das gemeinhin angenommen wird und im Regierungshandeln zum Ausdruck kommt. An dieser Bereitschaft für Solidarität in der Bevölkerung müssen sozialdemokratische Strategien in der Europawahl anknüpfen. Es sollten also nicht die sogenannten besorgten Bürger*innen, die nichts dabei finden, mit gewaltbereiten Nazis durch die Straßen zu ziehen, die Nazisprüche skandieren und andere Menschen durch die Städte hetzen und Steine in jüdische Restaurants werfen, im Fokus des Wahlkampfes stehen.

Allerdings findet die vorhandene Bereitschaft zu Solidarität bei dem Thema einer gemeinsamen Flucht- und Migrationspolitik keine Entsprechung im Regierungshandeln der Mitgliedstaaten. Dabei hat das europäische Parlament seit längerem Grundzüge einer gemeinsamen solidarischen Asylpolitik mehrheitlich beschlossen. Allerdings blockiert der Rat jede Verständigung über die Vorschläge des Europäischen Parlaments, wie zum Beispiel die Überwindung des Prinzips der Erstankunft bei der Dublin-Reform. Hiernach müssen Geflüchtete ihren Asylantrag in dem Staat stellen, in dem sie die EU erstmals betreten. Nach dieser Regelung tragen die Mitgliedstaaten der EU-Außengrenzen alleine die Verantwortung. Dabei tragen die Mitgliedstaaten der EU insgesamt doch in erheblichem Maße eine Mitverantwortung an den Ursachen von Migration und Flucht.


2. Migration und Flucht

Momentan sind 68,5 Millionen Menschen auf der Flucht, vor zehn Jahren waren es noch 37,5 Millionen. Weit mehr als 90 Prozent der geflüchteten Menschen sind Binnenflüchtlinge und fliehen innerhalb von Staaten des globalen Südens oder in die Nachbarstaaten. Nur weniger als drei Prozent von ihnen schaffen den Weg nach Europa. Die Hauptursache für Flucht sind Kriege wie beispielsweise in Syrien oder in Afghanistan. Ebenso führten Kriege mit dem Ziel des "Regime-Change" im Irak oder in Libyen zu zerfallenden Staaten und beförderten Fluchtbewegungen. Darüber hinaus sind die wachsenden sozialen Ungleichheiten in der Welt eine zentrale Triebfeder für Flucht und Migration: So ist die Zahl der Hungernden von 2015 zu 2016 um 38 Millionen auf 815 Millionen gestiegen, 520 Millionen in Asien, 243 Millionen in Afrika und 42 Millionen in Lateinamerika.

Das groteske Ausmaß von sozialer Ungleichheit in der Welt ist offensichtlich. Auf der einen Seite müssen eine Milliarde Menschen täglich mit einem Euro überleben, haben 900 Millionen Menschen keinen Zugang zu sauberem Wasser und hat jeder dritte Mensch auf der Welt keinen Zugang zu Sanitäranlagen. Auf der anderen Seite verfügen die 42 reichsten Menschen über ein Vermögen wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung. 2012 erhöhten die 100 reichsten Menschen ihr Vermögen um 240 Milliarden US-Dollar. Man braucht kein Prophet zu sein, um zu erkennen, dass diese tiefen sozialen Spaltungen die Welt immer instabiler machen werden.


3. Steigende soziale Ungleichheiten in der Welt und Handelsabkommen

Zu der weltweiten Instabilität haben Freihandelsabkommen neuen Typs erheblich beigetragen. Freihandelsabkommen beruhen auf der neoliberalen Behauptung, Märkte seien effizient und führten zu mehr Wohlstand für alle. Das ist eher Ideologie und hat mit der Realität wenig zu tun.

Ein fairer Welthandel kann zur allgemeinen wirtschaftlichen Prosperität beitragen. Handelsabkommen können ein guter Hebel sein, um weltweit beispielsweise bessere Arbeitnehmer*innenrechte und Umweltschutz umzusetzen. Allerdings werden jüngste Handelsabkommen, wie das mit Japan, diesen Ansprüchen nicht gerecht. Ebenso ist das Abkommen mit Singapur, in dem beispielsweise zwei ILO-Kernarbeitsnormen - das Recht auf Versammlungsfreiheit und das Verbot der Diskriminierung am Arbeitsplatz - nicht erfüllt werden, unzureichend. Die Möglichkeit, Globalisierung fair zu gestalten und die Kluft zwischen Gewinner*innen und Verlierer*innen des Welthandels zu schließen, wurde auch mit diesen Abkommen erneut verpasst.

Weltweite soziale Ungleichheit und Armut werden auch durch ungerechte Wirtschaftsbeziehungen zwischen der EU und den afrikanischen Staaten verursacht. Die EPAs (Economic Partnership Agreements) sind zum Nachteil Afrikas und führen dazu, dass die afrikanischen Märkte für die einheimischen Produkte zerstört werden. Das über Jahre subventionierte Hühner- und Schweinefleisch und die Getreideprodukte aus der EU haben den kleinen Landwirten in Afrika die Existenzgrundlage entzogen. Sie konnten ihre landwirtschaftlichen Güter nicht mehr verkaufen, da sie teurer waren als die der europäischen Konkurrenten. Ebenso hat zur Not beigetragen, dass die großen Fischtrawler der EU in der Vergangenheit die Meere vor den Küsten West- und Ostafrikas leerfischten und den einheimischen Fischern ihre Fanggründe nahmen. Außerdem beklagen die afrikanischen Staaten, dass große Unternehmen mittels Steuerhinterziehungen und aggressiver Steuervermeidung einen Schaden in Höhe von 50 Milliarden Euro pro Jahr anrichten.

Auch künftige Freihandelsabkommen der EU mit Afrika müssen kritisch betrachtet werden. Ein Freihandelsabkommen der EU mit Kenia würde zum Beispiel bedeuten, dass Kenia seine Produkte wie Säfte, Waschmittel und anderes nicht mehr in Ostafrika absetzen kann, weil sie gegenüber EU-Produkten nicht mehr konkurrenzfähig wären. EPAs in der jetzigen Form würden den sozialökonomischen Druck auf diese Länder erhöhen, zunehmende Arbeitslosigkeit und steigende Not würden die Folge sein. Noch mehr Menschen werden dann zur Flucht gezwungen sein und in den Staaten des globalen Nordens Zuflucht suchen.

Ebenso hat die Austeritätspolitik des IWF, der Kredite u.a. nur bei Privatisierungen, niedrigen Einkommen und gegen massive "Sparauflagen" gewährte, erheblich zum Niedergang der Wirtschaft in vielen Ländern des globalen Südens beigetragen. Zudem ist das Geld, das dort ankam, nicht in die Infrastruktur und in die Wirtschaft investiert worden, sondern zu erheblichen Teilen in den Taschen korrupter Staatsführer gelandet.


4. Anforderungen an eine faire und solidarische Handelspolitik

Wie könnte ein Ausweg für die Länder des globalen Südens aus ihrer wirtschaftlichen Misere aussehen? Jedenfalls nicht in Freihandelsabkommen wie sie die EPAs vorsehen. Sie bewirken eher das Gegenteil und verstärken die Ungleichgewichte. Hinzu kommt, dass die EU und China um die Rohstoffe Afrikas konkurrieren. Die EU versucht, sich mittels der EPAs den Zugriff auf die Rohstoffe zu sichern.

Die Länder mit einer geringen wirtschaftlichen Leistungskraft wie insbesondere in Ostafrika werden nur eine Chance haben, wenn sie ihre Märkte vor der überlegenen Wettbewerbsfähigkeit des globalen Nordens schützen. So hat sich China in den letzten 40 Jahren verhalten und ebenso handelte das deutsche Kaiserreich, als es gegenüber dem industrialisierten England in der Produktivität weit zurücklag.

Progressive Entwicklungspfade sollten eine stärkere Kooperation afrikanischer Staaten untereinander ermöglichen und den Handel innerhalb des Kontinents fördern. Hier ist mit der Einigung auf eine afrikanische Freihandelszone zuletzt auch einiges geschehen. Sie ermöglicht eine Förderung der regionalen Wertschöpfung, die auch die Regionen stärkt. Wenn es zu Abkommen zwischen der EU und Afrika kommt, müssen zumindest die ILO-Kernarbeitsnormen eingehalten werden. Ebenso muss gesichert werden, dass die multinationalen Unternehmen faire Steuern zahlen. Es ist auch hier sicherzustellen, dass die Unternehmen in den Ländern ihre Steuern zahlen, in denen sie ihre Gewinne erwirtschaften. Der Steuerwettbewerb nach unten zwischen den Staaten wird die Lage der afrikanischen Staaten weiter verschlechtern. Notwendig sind internationale Regelungen wie eine globale Mindeststeuer, Steuertransparenz und die Einrichtung einer internationalen Steuerbehörde innerhalb der UN. Umverteilung des volkswirtschaftlich erzeugten Reichtums zulasten der Hyperreichen und zugunsten der unteren und Mittelschichten ist auch international dringend geboten.

Kriege, die weltweite soziale Ungleichheit und künftig der Klimawandel mit seinen Auswirkungen auf Afrika sind die zentralen Ursachen für Flucht und Migration. Ein Europa der Solidarität muss die Bekämpfung dieser Ursachen Priorität einräumen. Dabei ist an solidarischen Haltungen in der Bevölkerung anzuknüpfen, die stärker ausgeprägt sind als das gemeinhin angenommen wird. Sozialdemokrat*innen in Europa müssen hier ihre Chance sehen, ihr Profil zu schärfen und sollten mutiger sein.


Prof. Dr. Dietmar Köster, MdEP,
ist Vorstandsmitglied des Forums DL21.


Anmerkung

(1)
Ich danke Dr. Sonja Grabowsky für ihre konstruktiven Hinweise.

*

Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 1/2019, Heft 230, Seite 14-16
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. März 2019

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