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LAIRE/064: Rasanter Ausbau der Repressionsmittel in Italien (SB)


In Italien wird der permanente Ausnahmezustand etabliert

Beredtes Schweigen der Europäischen Union zu dieser Entwicklung


Was ist beunruhigender, daß in Italien Soldaten auf den Straßen patrouillieren oder daß die anderen EU-Staaten nicht vehement dagegen opponieren? Diese Frage drängt sich geradezu auf, denn als in nicht allzu ferner Vergangenheit eine rechtsgerichtete Partei in Österreich an der Regierung beteiligt werden sollte, wurde eine EU-weite Kampagne gegen die Alpenrepublik vom Zaun gebrochen. In Italien hingegen hat unter Silvio Berlusconi eine konservativ-rechtsgerichtete Koalitionsregierung das Zepter in der Hand, die mit ihren bereits beschlossenen Gesetzen und Bestimmungen um vieles mehr erfüllt, was in Österreich lediglich als behauptete Bedrohung im Raum gestanden hatte und wofür dann das ganze Land abgestraft wurde.

Die Repressionen, die in den letzten Wochen und Monaten von der italienischen Regierung und zahlreichen rechtsgerichteten Bürgermeistern auf kommunaler Ebene durchgesetzt wurden, wecken bei vielen Erinnerungen an den Faschismus unter Benito Mussolini wach. Dabei wird der "Duce" in manchen Aspekten bereits heute übertroffen.

Beispielsweise waren in den 1920er Jahren in Italien Versammlungen von mehr als fünf Personen in der Öffentlichkeit verboten. Vor kurzem hat jedoch der Bürgermeister der 100.000-Einwohner-Stadt Novara, Massimo Giordano, von der rechtsgerichteten Partei Lega Nord die Bestimmung erlassen, daß sich Gruppen von drei oder mehr Personen nachts nicht mehr in Parks und auf Plätzen treffen dürfen.

Wenn also ein Ehepaar in einer lauen Sommernacht noch einen Spaziergang macht und einem anderen Paar aus der Nachbarschaft begegnet, müssen beide aneinander vorbeigehen, um nicht den Eindruck einer Versammlung entstehen zu lassen. Ansonsten besteht die Gefahr, daß sie von der Polizei verhaftet und abgeführt werden. Selbst wenn sich beim anschließenden Verhör auf der Polizeiwache herausstellen sollte, daß keines der Ehepaare bei seinem Spaziergang einen terroristischen Anschlag geplant hat, droht ihm eine Geldstrafe von 350 Euro.

Weitergehen, immer in Bewegung bleiben, andere Menschen tunlichst meiden, bloß keinen Kontakt aufnehmen - in Novara wird sich dies tief in die Köpfe und Herzen der Bevölkerung einprägen. Das Nachtleben wird reduziert, die Menschen werden tendenziell in ihre Häuser verbannt - eine Vorstufe zum totalen nächtlichen Ausgehverbot wie in Kriegszeiten.

Selbstverständlich beschränkt sich die dramatische Verschärfung der Repressionen nicht auf eine einzige norditalienische Stadt, auch in süditalienischen Badeorten herrscht ein ähnliches Versammlungsverbot. Zudem wurde unter dem Vorwand von angeblich unbewältigbaren Flüchtlingsströmen in ganz Italien der nationale Notstand ausgerufen. Mit dem Patrouillieren von 3000 Soldaten in großen Städten wurde das Trennungsgebot von Polizei und Militär, jener Hauptunterschied zwischen Demokratie und Militärregime, aufgehoben. Und vor wenigen Wochen begann eine Kampagne, bei der sämtliche Roma und Sinti, einschließlich der Kinder, erkennungsdienstlich behandelt werden, indem man ihnen die Fingerabdrücke abnahm. Die Daten werden in eine Sonderkartei aufgenommen. Kritik an dieser diskriminierenden Maßnahme wird von der Berlusconi-Regierung mit dem zynischen Argument gekontert, daß dies nicht diskriminierend sei, denn demnächst sollten alle Bürger ihre Fingerabdrücke abgeben.

In der Stadt Brescia darf niemand mehr mit einem Bierglas in der Hand vor die Tür treten, die Polizei würde ihn verhaften. Auf dem Bahnhof von Novara ist das Trinken von Alkohol nach 18.00 Uhr verboten. Zudem wurde ein Kulturzentrum für Einwanderer geschlossen. In der Stadt Trento dürfen Eltern nicht mehr ihre Kinder in der Badeanstalt fotografieren, weil andere Kinder aufs Bild geraten könnten, und das könnte von pädophil veranlagten Elternteilen mißbraucht werden, lautet die Begründung. In Venedig, Florenz, Triest, Padua und Cortina ist das Betteln verboten.

In Verona hat ein Vierjähriger auf einer öffentlichen Treppe ein Schinkenbrot gegessen. Das ist verboten! Der Junge wurde mit einer Strafe von 50 Euro bedacht. Den empörten Aufschrei in der Presse beantwortete Bürgermeister Flavio Tosi (Lega Nord) lakonisch, daß das Gesetz für alle gleich sei. Das stimmt insofern nicht, als daß Berlusconi ein Gesetz erlassen hat, das ihn, der unter Korruptionsverdacht steht, vor jeglicher juristischer Verfolgung schützt.

Der römische Bürgermeister Gianni Alemanno wollte ein Verdikt erlassen, wonach das Wühlen in Müllcontainern verboten ist - wegen der "Wahrung des urbanen Dekors". Katholische Organisationen haben schließlich verhindert, daß die Bestimmung in Kraft trat, und verlangt, der Bürgermeister soll erst einmal dafür sorgen, daß alle Einwohner genügend zu essen haben.

Diese Beispiele und viele mehr demonstrieren, wie der Ausnahmezustand zunehmend größere Lebensbereiche der Italiener beherrscht. Das Ziel solcher Repressionen ist immer das gleiche: Einschüchterung der Bevölkerung zwecks Qualifizierung der Verfügungsgewalt. Weil weder Deutschland noch andere Mitgliedsländer der Europäischen Union nennenswerte Kritik an den polizeistaatlichen Entwicklungen in Italien üben, muß man annehmen, daß sie damit einverstanden sind. Italien spielt somit auf dem Gebiet der Inneren Sicherheit innerhalb der EU eine Vorreiterrolle. Was derzeit in Italien geschieht, könnte schon morgen auch in deutsches Gesetz gegossen werden.

Vor dem Hintergrund der rapiden Verteuerung von Lebensmitteln und - wie zahlreiche Beispiele aus der ganzen Welt in den letzten zwölf Monaten gezeigt haben - des wachsenden Protestpotentials unter den von Armut und Nahrungsmangel betroffenen Menschen macht das vermeintliche Über-das-Ziel-Hinausschießen der italienischen Regierung durchaus Sinn: Während sich die Bürger in Scharmützeln aufreiben und ihnen hier und da kleine Siege zugestanden werden - siehe die Verhinderung des Verbots in Rom, Müllcontainer durchwühlen zu dürfen -, hat der Staat längst seine Repressionsmittel entwickelt und ausgebaut, um die drohende Bürgerkriegssituation zu Lasten eines beträchtlichen, aus der Versorgung herausfallenden Teils der Bevölkerung bewältigen und seine Position sichern zu können.

13. August 2008