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FRAGEN/017: Wie könnte Griechenland aus der Krise kommen? (TU Dresden)


Dresdner UniversitätsJournal Nr. 9 vom 19. Mai 2015

Wie könnte Griechenland aus der Krise kommen?

Interview mit Professor Alexander Karmann und und Professor Marcel Thum von Mathias Bäumel


TUD-Experten befragt: Die "europäischen Institutionen" wollen, dass die Schulden Griechenlands mit immer neuen Schulden beglichen werden - vorausgesetzt, Wirtschaft und Gesellschaft werden reformiert. UJ befragte zu diesem Thema die Professoren Alexander Karmann (Seniorprof. für Volkswirtschaftslehre) und Marcel Thum (Prof. für Finanzwissenschaft).


UJ: Im Zusammenhang mit der seit einigen Jahren vorhandenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Situation in Griechenland ist häufig die Rede von Staatsschuldenkrise und von Bankenkrise. Können Sie diese beiden Begriffe erläutern?

Thum: Eine Staatsschuldenkrise bedeutet, dass die Anleger Zweifel an der Rückzahlung der Staatsschulden haben. Wenn diese Zweifel aufkommen, verlieren die Staatspapiere an Wert - das ist dann zum Nachteil der Anleger, die die Staatspapiere gerade halten. Schlimm für den Staat ist aber, dass er nun höhere Zinsen für alle neuen und revolvierten Kredite bezahlen muss. Wenn die Anleger Zweifel bekommen, dass sie ihre Spargroschen von der Bank zurückbekommen, versuchen sie ihr Erspartes abzuheben. Da die Spareinlagen aber meist in langfristigen Krediten, z.B. Immobilienkrediten, stecken, wird die Bank illiquide, wenn das alle Sparer versuchen. Zur Bankenkrise wächst sich das aus, wenn die Banken untereinander, z.B. durch Interbankenkredite, stark verzahnt sind. Dann kann schon der Zweifel an der Liquidität einer Bank eine Kettenreaktion auslösen.

Karmann: Neben dieser sogenannten Vertrauenskrise in das Bankensystem, die sich zu einem Bankrun auswächst und in Illiquidität des Bankensystems endet, gibt es das noch unangenehmere Insolvenzrisiko, dem die griechischen Banken ausgesetzt sind: Die Verbindlichkeiten übersteigen die Forderungen gegen Banken, die damit auch keinen Puffer an Eigenkapital mehr haben.


UJ: Wie wirken beide im Falle Griechenlands zusammen?

Thum: Die Insolvenz des griechischen Staates konnte bisher nur durch Kredite anderer Staaten bzw. internationaler Organisationen wie IWF verhindert werden. Wenn diese Hilfen ausbleiben, z.B. weil die Geberstaaten weitere Belastungen für ihre Steuerzahler fürchten, könnte der griechische Staat seine Verpflichtungen bei Kreditgebern und Bürgern nicht mehr erfüllen. Wenn Griechenland dann nicht im Alleingang beliebig Euros "nachdrucken" kann, bliebe dem griechischen Staat keine andere Wahl, als explizit oder implizit - z.B. durch Ausgabe einer Parallelwährung, mit der die Rechnungen des Staates im Inland bezahlt werden - aus dem Euro auszusteigen. Die Bürger würden dann einer drohenden Umstellung ihrer Euro-Ersparnisse auf eine neue Währung gerne zuvorkommen. Der Versuch die Ersparnisse abzuziehen, würde einen Zusammenbruch des Bankensystems zur Folge haben.

Karmann: Erschwerend kommt hinzu, dass griechische Banken sich in besonderem Maße an der Staatsfinanzierung des eigenen Staates beteiligten, in dem sie griechische Staatsanleihen gekauft haben. Da die Marktbewertung dieser Staatsanleihen schrumpft, steigt auch das o.g. Insolvenzrisiko, da der Wert von Bankverbindlichkeiten - sprich: Einlagen - unverändert bleibt. Deshalb fordert die EZB nun auch zusätzliche Sicherheiten von den griechischen Banken.

Zum anderen bewirkt ein griechischer Staatsbankrott unmittelbar - und wie in der Öffentlichkeit kaum bekannt - einen Kollaps des griechischen Bankensystems: Griechische Banken halten - aufgrund von Eigenkapitalproblemen - ersatzweise tax credits, als Steuergutschriften des griechischen Staates, die rechtlich als Eigenkapital gelten, aber bei einem Staatsbankrott sofort ihren Wert verlören. Damit würde ein Staatsbankrott auch zu einem Zusammenbruch des griechischen Bankensystems führen. Solche staatlich emittierten Steuergutschriften, aus der deutschen Wirtschaftsgeschichte von 1923 als Quasi-Geld durchaus bekannt, waren bezeichnenderweise bei der Einführung des Euro-Währungssytems - trotz einiger kritischer Hinweise - nicht ausgeschlossen worden.


UJ: Für die Einführung des Euro als Buchgeld 1999 mussten die künftigen Euroländer bestimmte Konvergenzkriterien - unter anderem auch stabile öffentliche Haushalte - erfüllen. So wurde den Euroländern eine jährliche Neuverschuldung von maximal 3 Prozent und ein Gesamtschuldenstand von maximal 60 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts zugestanden. Insbesondere Griechenland konnte jedoch den Euro nur aufgrund von geschönten Statistiken einführen. In Griechenland selber gab es schon seit Langem Unmut über die Verhältnisse. So soll es im Staatsapparat bzw. dem Öffentlichen Dienst "normal" gewesen sein, dass ein und dieselbe Person betrügerisch mehrere Beamtenverhältnisse an unterschiedlichen Einrichtungen hatte und so Mehrfachbezüge kassierte. Angeblich sollen weite Teile des griechischen Bankenwesens der Kirche von Griechenland gehören, und sämtliche Geistliche in Griechenland sollen vom Staat bezahlt werden. Zudem soll diese Kirche der größte Grundbesitzer im Land sein. Waren die Missverhältnisse im griechischen Staatshaushalt vor dem Euro-Beitritt für die anderen Euroländer nicht zu erkennen? Was veranlasste die anderen Euroländer, Griechenland trotz der Missstände in die Eurogruppe aufzunehmen?

Thum: Erstens war zumindest das Ausmaß der griechischen Verwaltungsprobleme nicht bekannt. Zweitens hat man sicher unterschätzt, wie unglaubwürdig die No-Bailout-Regel war, d.h. der Vorsatz, nicht wechselseitig für die Schulden der anderen Länder einzustehen. Die allgemeine Vorstellung war, dass jedes Land aus Eigeninteresse auf seine Schulden und seine generelle makroökonomische Entwicklung achten würde, da man von den anderen Ländern keine Rettung zu erwarten hatte. Die Akteure in den Finanzmärkten haben allerdings nie an diese No-Bailout-Regel geglaubt. Und in der Tat sind bei Ausbruch der Krise - aus Angst vor einem Flächenbrand in den Finanzmärkten - sofort die gegenseitigen Hilfsmaßnahmen in bisher unbekanntem Ausmaß in die Höhe geschraubt worden.

Karmann: Die Gutglaubenswilligkeit der anderen Euroländer zum Beitritt Griechenlands in den Euroraum kann man historisch durchaus nachvollziehen: Zum einen wurden die Konvergenzkriterien letztlich immer beurteilt bzgl. eines "in der Tendenz erfüllt", wie das Beispiel des zum Eurobeitritt bereits hochverschuldeten Belgiens zeigt. Zum anderen gaben gerade Staaten wie Spanien und Portugal, deren Demokratien ebenfalls historisch eher jung waren und sich als gesellschaftspolitisch stabil erwiesen in den schweren Zeiten der Inflationsbekämpfung, Mut zur Annahme, dass auch Griechenland sich als stabil erweisen würde.


UJ: ...Aber warum musste Griechenland trotzdem unbedingt in den Euro-Raum?

Karmann: Den aktuellen Zeitpunkt der Aufnahme Griechenlands in die Eurozone kann man nur aus der genannten politischen Good-Will-Haltung verstehen, die darauf vertrauen will, dass sich mit geänderten Rahmenbedingungen auch die Verhaltensweisen anpassen. In der Tat gaben etwa die sinkenden Kapitalmarktzinsen für griechische Papiere ja auch positive Signale. Nur diese Verbesserung ökonomischer Grunddaten war aus heutiger Sicht lediglich die Reaktion der Marktteilnehmer, die mit der Aufnahme Griechenlands einen Ausfallschutzschild (der anderen Euroländer) über Griechenland sahen, und hatte erst mal nichts mit einem Konvergenzprozess zu tun.

Es gibt jedoch ein generelles Konstruktionsproblem im Euroraum, das Politiker im Nachgang in die Währungsverfassung hineingeschrieben haben: Danach muss jedes EU-Land prinzipiell - und zu einem geeigneten Zeitpunkt - auch Mitglied der Eurozone werden. Dies war die politische Reaktion aus dem Ausscheren von Großbritannien, Dänemark, Schweden, die nicht in den Euroraum wollten. Mit dieser Festlegung war (und ist) für jedes EU-Mitgliedsland, also auch für Griechenland, die Aussicht auf den Euro klar vor Augen. Aus meiner Sicht ist dieses im Nachgang installierte Junktim EU/Euroraum angesichts der ansonsten gut nachvollziehbaren EU-Ausweitungspolitik (zur Verbesserung von Handelsbeziehungen) der entscheidende Nach-Geburtsfehler des Euro - eine Erkenntnis, die für mich als einem der wenigen deutschen Pro-Euro-Volkswirte der ersten Stunde besonders bitter ist.


UJ: ...Aber warum hat man sich auf diese sogenannte No-Bailout-Regel geeinigt, wenn doch während der Konzeptionsphase des Euro einige Analysten genau davor gewarnt haben und meinten, der Euro könne nur funktionieren, wenn auch alle beteiligten Staaten ihre Schulden in einen einzigen Euro-Schulden-Pool zusammentun würden und nicht jedes Land seine Schulden für sich bilanziert?

Karmann: Was für ein Glück, kann man nur sagen. Das automatische Risiko-Poolen einer Bail-Out-Regel würde ja noch mehr zum Trittbrettfahren einladen. So behandelt man erst mal nur den konkreten Risikofall.


UJ: Es entsteht der Eindruck, als würde Griechenland behandelt wie ein völlig Überschuldeter, dem zur Tilgung seiner Schulden immer weitere Kredite (also weitere Schulden) von der ehemaligen Troika aufgedrängt werden. Und diese Kredite werden dann auch noch als "Hilfe" oder gar Freundschaftsdienst bezeichnet, obwohl man dem Überschuldeten den Gang in die geordnete Insolvenz raten müsste. Inwieweit ist also ein Vergleich der Situation dieser Privatperson mit der Situation Griechenlands sinnvoll und möglich?

Thum: Gemeinsam ist beiden, dass eine Insolvenz typischerweise bedeutet, dass Dritte für in der Vergangenheit eingegangene Verpflichtungen geradestehen müssen. Es gibt aber auch einen wichtigen Unterschied: Privatpersonen können die Rückzahlung von Krediten nur aus ihrem zukünftigen Einkommen, das mehr oder minder gegeben ist, leisten. Staaten haben dagegen die Macht, ihre Bürger mehr oder weniger zu besteuern. Hier ist weniger die Frage relevant, ob sie Kredite zurückzahlen "können" sondern eher, ob sie bereit sind, genug Mittel aus dem privaten Bereich ihrer Bürgern abzuziehen, um damit die öffentlichen Schulden zu bedienen.

Karmann: Als "Nicht-Sherpa", also als Wissenschaftler, der nicht unmittelbar mit Politikberatung zu tun hat, könnte man leichter zu radikaleren Beurteilungen, wie angedeutet, kommen. Aber wir müssen auch verstehen, dass handelnde Politiker, die auf Wiederwahlsicht agieren, das Risiko eines Staats- und Bankenzusammenbruchs nur ungern eingehen wollen, insbesondere wenn Wissenschaftler nicht verbindlicher das genannte Risiko beziffern können - was angesichts vergangener Erfahrungen zu Ansteckungseffekten ("Lehman-Pleite") in der Tat mehr als schwierig ist.


UJ: Da Griechenland jeden einzelnen Teilkredit zu hohen Zinsen zurückzahlen muss, verdienen die Kreditgeber an Griechenlands Misere. Bei aller Schuld, die der Staat Griechenland an der Entstehung der Krise über Jahrzehnte hat - ist es nicht verständlich, dass die griechische Bevölkerung die Kooperation von Europäischer Zentralbank, Internationalem Währungsfonds und Europäischer Kommission als Feindbild ausmacht? Denn der "Durchschnittsgrieche" gewinnt doch den Eindruck, dass er mit seiner Arbeitslosigkeit die Gewinne der sogenannten Troika bezahlt.

Karmann: Die Mär vom hohen Zins stimmt im konkreten Fall des Staates Griechenland nicht: Die Neuverzinsung liegt bei rund einem Prozent, und zudem ist die Rückzahlung der Schuld um Jahre hinausgezögert, um Griechenland Freiraum zu gewähren.

Thum: Der Zins auf griechische Staatspapiere ist eher zu niedrig als zu hoch, weil der Zins durch die Stützungsmaßnahmen der EU und der EZB nach unten getrieben wurde.


UJ: Gibt es eigentlich international akzeptierte Regeln für den geordneten Ablauf bei einem Staatsbankrott? So ähnlich wie beispielsweise bei einer Insolvenz einer GmbH oder gar bei einer Privatinsolvenz?

Thum: Ganz so geordnet wie bei einer Privatinsolvenz kann es schon deshalb nicht abgehen, da es für Staaten keine übergeordnete Institution gibt, die - vergleichbar einem nationalen Insolvenzgericht - bindende Entscheidungen treffen kann. Das höchste Recht der Parlamente ist die Budgethoheit - und dazu gehört eben auch, bestimmte Verpflichtungen nicht zu erfüllen oder etwas nicht in die "Insolvenzmasse" zu geben, um im Bild der Privatinsolvenz zu blieben.


UJ: Und gibt es bei einem drohenden Staatsbankrott auch den Tatbestand der Insolvenzverschleppung? Könnte man Griechenland diesen Vorwurf und der (nicht mehr so genannten) Troika den Vorwurf der Beihilfe zur Insolvenzverschleppung machen?

Thum: Ob das Bild der Insolvenzverschleppung passend ist, hängt davon ab, ob man die notwendigen strukturellen Anpassungen (insbesondere im Arbeitsmarkt) oder die Schockwelle als das größere Problem ansieht. Hier kann niemand eine definitive Kosten-Nutzen-Rechnung vorlegen. Ich selbst halte es allerdings für sehr unwahrscheinlich, dass Griechenland beim Verbleib im Euro jemals die notwendigen Lohnanpassungen im eigenen Arbeitsmarkt hinbekommt. Und ohne diese strukturellen Anpassungen - zusätzlich zu den notwendigen institutionellen Reformen, die nicht recht vorankommen - sehe ich auch keine Chance auf eine Erholung.

Karmann: Vieleicht erleben wir eine Zeit der Parallelwährung in Griechenland, wie oben angedeutet. Eine Lösung, die aber auch ihre Tücken hat, wie das Beispiel Argentinien zeigt: Sogar das Versprechen einer langfristigen und über viele Jahre auch erfolgreich durchgehaltenen Kopplung einer Währung an eine andere (dort an den Dollar, hier an den Euro) kann am Ende wieder unter die Räder kommen. Die Parallelwährung wäre also eine stark temporär begrenzte.

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Quelle:
Dresdner UniversitätsJournal, 26. Jg., Nr. 9 vom 19.05.2015, S. 6
Herausgeber: Der Rektor der Technischen Universität Dresden
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Mai 2015

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