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GROSSBRITANNIEN/001: Die Niederlage der britischen Labour-Partei bei den Parlamentswahlen 2015 (spw)


spw - Ausgabe 3/2015 - Heft 208
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Meinung
Die Hoffnung stirbt zuletzt: Die Niederlage der britischen Labour-Partei bei der Parlamentswahl 2015

von Ed Turner und Alexander Wochnik


Vor der Parlamentswahl 2010 rechneten Experten mit der Abwahl von der damals unter Gordon Brown-geführten Labour-Regierung und mit (wie in Großbritannien und Mehrheitswahlrecht üblich) einer Mehrheitsregierung der Konservativen Partei unter David Cameron. Man war überrascht, als die Bildung einer Mitte-Rechts Koalition der Konservativen und Liberalen notwendig wurde, da den Tories eine absolute Mehrheit fehlte.

Auch die Unterhauswahl 2015 war wieder für eine Überraschung gut: Experten hatten eher mit einem Patt gerechnet, ggf. mit einem Vorsprung der Tories, aber auch mit der Möglichkeit einer von Labourgeführten und von den Schottischen Nationalisten (SNP) geduldeten Minderheitsregierung. Stattdessen erreichten die Konservativen eine absolute Mehrheit. Dies hat außerhalb Großbritanniens für Aufsehen gesorgt, da eine Volksabstimmung zur britischen EU-Mitgliedschaft voraussichtlich 2016 oder 2017 stattfinden wird und man befürchtet, dass die Briten die EU bis dahin in Geiselhaft nehmen könnten. Zudem gibt es, gerade für Anhänger des sozialdemokratischen Lagers, andere wichtige Konsequenzen, die dieser kurze Beitrag darstellt.

Der Wahlkampf

In den drei Jahren vor der Wahl hatte Labour in den Meinungsumfragen fast ununterbrochen einen Vorsprung vor den Tories. Allerdings schrumpfte dieser: lag er Mitte 2013 noch bei etwa 10 Prozent, waren die Parteien zwei Monate vor der Wahl fast gleichauf (Ukpollingreport 2015). Sämtliche Wahlergebnisse waren während der Legislaturperiode für Labour enttäuschend: die schottischen Parlamentswahlen im Jahr 2011 führten zu einer absoluten Mehrheit der SNP; bei den Europawahlen erreichten die Europa-Gegner der UKIP den ersten Platz; und bei der Bürgermeisterwahl in London wurde der Konservative Boris Johnson wiedergewählt.

Der Labour-Vorsitzende Ed Miliband versuchte einerseits das bestehende kapitalistische System zu kritisieren und radikale Reformen anzuregen, andererseits, bei einer knappen Haushaltslage, Vorschläge für staatliche Mehrausgaben in sehr engen Grenzen zu halten; innerhalb der Wahlperiode sollte die staatliche Neuverschuldung auf Null reduziert werden (Labour 2015). Labour schlug vor eine "Mansion Tax" (Villa-Steuer) einzuführen, um die finanzielle Ausstattung des Gesundheitssystems zu verbessern; sie wollte Energiepreise kappen, und eine (nach deutschen Maßstäben ziemliche schwache) Mietpreisbremse einführen, auch um Wohngeldausgaben zu reduzieren. Eine Erhöhung des Mindestlohns wurde versprochen, ebenso eine Reduzierung der derzeit 9.000 Pfund (ca. 11.700 Euro) hohen Studiengebühren auf 6.000 Pfund, sowie eine Ausweitung von kostenloser Kindertagesbetreuung. Bei der brisanten Frage der Einwanderungspolitik fuhr Labour einen ziemlich harten Kurs, allerdings mit der Begründung, einen "Wettbewerb nach unten" vermeiden zu wollen. Dazu wurde vorgeschlagen, dass EU-Ausländer künftig erst nach zwei Jahren Aufenthalt in Großbritannien Sozialleistungen bekommen sollten.

Das konservative Wahlprogramm entsprach, zumindest bis zur Endphase des Wahlkampfs, dem, was man von einem konservativen Wahlprogramm erwarten würde: Steuersenkungen bei der Erbschafts- und Einkommenssteuer für Besserverdiener; eine Reduzierung der Obergrenze für Sozialleistungen, die Familien beanspruchen können; erhebliche (wenn auch nicht genau definierte) Kürzungen bei Sozialleistungen überhaupt; sowie eine Erweiterung der Rechte von Sozialmietern, die eigene Sozialwohnung zu kaufen (Conservatives 2015). Während der heißen Phase des Wahlkampfs gab es ein paar wichtige Entwicklungen: Ausgaben im Gesundheitssystem sollten erheblich steigen, um dem Druck des demographischen Wandels gerecht zu werden. Und ganz überraschend verkündete Premierminister David Cameron, nur noch eine Legislaturperiode regieren und danach nicht mehr antreten zu wollen.

Die "heiße Phase" des Wahlkampfs schien für Labour-Anhänger ziemlich gut zu verlaufen. Gerade bei den drei Fernsehdebatten (die jedoch wegen Camerons Widerspruch keine Kopf-an-Kopf Duelle waren), hat Ed Miliband zumindest nicht schlechter als sein Widersacher David Cameron abgeschnitten, obwohl auch die Vorsitzende der Schottischen Nationalisten Nicola Sturgeon gute Umfragewerte erzielte (vor allem in ihrer schottischen Heimat) (Guardian, 3. April 2015). Vergeblich versuchten die Konservativen einen "Wendepunkt" bei den Umfragen herbeizuführen: Ein Brief von führenden Firmenchefs, der mit der Begründung, Labour sei Gift für das Wirtschaftswachstum, von der Wahl der Partei abriet, schien nicht viel zu nützen. Ebenso schienen andere Initiativen, die besonders Rentner begünstigen sollten (wie etwa größere Flexibilität mit erspartem Geld in privaten Rentenkassen) nicht die gewollte Wirkung zu haben. Nur die ständigen Warnungen der Konservativen, eine Stimme für Labour würde zu einer unberechenbaren Regierung führen, die immer auf die Stimmen der Schottischen Nationalisten angewiesen wäre, schienen wirklich bei der Bevölkerung anzukommen (Independent, 5. Mai 2015).

Das Wahlergebnis

Bis zur Schließung der Wahllokale glaubten führende Labour-Funktionäre, sie hätten noch eine Chance auf Regierungsbildung (Guardian, 3. Juni 2015). Mit der ersten Hochrechnung jedoch, und zunehmend im Laufe des Abends, wurde nicht nur klar, dass die Konservativen einen deutlichen Vorsprung erreichten, sondern, dass sie die absolute Mehrheit der Sitze im Unterhaus erzielt hatten. Die Wahlergebnisse sind in der Tabelle zusammengefasst:

Drei Faktoren sind zusammengekommen, die eine Verkettung unglücklicher Umstände bewirkten:

1. Die Werte von Labour in Schottland sind eingebrochen. Hatte sie 2010 (unter dem Schottischen Parteivorsitzenden Gordon Brown) noch 41 von 59 Sitzen geholt, hat sie im Jahr 2015 lediglich einen einzigen Wahlkreis gewonnen (und die Schottischen Nationalisten gewannen sensationelle 56 Wahlkreise). Der Schatten-Außenminister Douglas Alexander und der Vorsitzende von Labour in Schottland Jim Murphy, gehören zu den prominentesten Verlierern.

2. Der Weg zur absoluten Mehrheit für die Konservativen wurde durch die Schwäche der Liberaldemokraten leichter gemacht: 27 Wahlkreise gewannen die Tories von den Liberals.

3. Labour hat in wichtigen, knappen Wahlkreisen ("marginal seats"), besonders schlecht gegen die Konservativen abgeschnitten, und viele Wähler, die eine Protest-Stimme gegen die Regierung abgeben wollten, haben UKIP anstatt Labour favorisiert (Fisher 2015).

(Tabelle aus der Originalpublikation im Schattenblick nicht veröffentlicht.)


Labour hat bei ein paar demographischen Gruppen kräftig zugelegt, denen allerdings auf Grund ihrer relativ geringen Wahlbeteiligung nicht so große Bedeutung zukommt: junge Leute (im Alter von 18-24: +12 Prozent, unter jungen Frauen sogar +16 Prozent) und private Mieter (+10 Prozent). Unter Rentnern (-8 Prozent), Eigentumswohnungsbesitzern (-2 Prozent) und in den oberen demographischen Gruppen (keine Änderung, aber die Konservativen +6 Prozent) (Ipsos MORI 2015).

Als Reaktion auf diese Wahlniederlage trat Labour-Vorsitzender Miliband zurück. Sämtliche ehemalige Führungspersönlichkeiten (darunter der ehemalige EU-Kommissar Peter Mandelson und sogar Milibands Bruder und ehemaliger Außenminister David Miliband) bemängelten eine zu große Konzentration auf Stammwählerschichten und eine vermeintliche Vernachlässigung der Mittel-Schicht (BBC, 11. Mai 2015).

Künftige Herausforderungen

Die Konservativen haben jetzt eine Mehrheit von lediglich 12 Sitzen im Unterhaus. Insofern könnte man meinen, sie sei hauchdünn und bei der nächsten Wahl leicht zu knacken. Diese Sicht würde aber drei erhebliche Herausforderungen vernachlässigen:

1. Im Zuge der Wahlergebnisse in Schottland sollte man damit rechnen, dass die SNP bei den schottischen Parlamentswahlen 2016 wieder eine absolute Mehrheit erreichen und auf eine neue Volksabstimmung zur Unabhängigkeit dringen wird. Mit dem britischen Wahlsieg der in Schottland unbeliebten Konservativen und der Möglichkeit eines in Schottland ungewollten EU-Austritts, ist die Wahrscheinlichkeit eines Votums für eine Unabhängigkeit gestiegen. Dies würde mittelfristig den Weg zur absoluten Mehrheit für die Konservativen im restlichen Land eher erleichtern.

2. Labour steht nun vor etlichen strategischen Dilemmas: rückt sie weiter in die Mitte um Stimmen in England und Wales zurückzugewinnen, wird sie in Schottland noch "unwählbarer" werden. Dazu scheint die Auswahl an möglichen neuen Parteivorsitzenden noch keine strahlenden Persönlichkeiten nach dem Vorbild eines Tony Blair, der einst gegen die Konservativen haushoch gewonnen hat, zu bieten.

3. Die Anzahl der "Marginal Seats" ist nun gering, da die Konservativen in sehr vielen von diesen ihre Mehrheiten sehr stark ausgebaut haben. Die Hürde bei der nächsten Wahl, diese zurückzuerobern, wäre also sehr hoch (Guardian, 21. Mai 2015). Dazu kommt, dass eine Wahlkreisneugliederung stattfinden wird, die Labour viele Sitze kosten wird. Neue Regeln zur Zusammenstellung des Wählerverzeichnisses werden in Kraft treten, die Labour erheblich schaden werden, da gesellschaftliche Randgruppen, die oft umziehen und mit Anmeldeformularen nicht gut umgehen können, häufiger nicht registriert werden. Zudem hat die neue Regierung bereits verkündet, Spenden von Gewerkschaften an Parteien (d.h. überwiegend an die Labour-Partei) stärker zu regulieren als es bisher der Fall war (Guardian, 27. Mai 2015).

Alles in allem sieht die Lage für Labour nun ziemlich katastrophal aus. Hatten sich führende Politiker im April dieses Jahres noch auf die Regierungsarbeit vorbereitet, muss die Partei nun um ihr bloßes Überleben kämpfen. Dieser Artikel soll keine konkreten Empfehlungen für eine etwaige zukünftige Labour-Strategie liefern. Allerdings wäre es naiv zu glauben, dass eine vermeintliche Rückkehr in die "politische Mitte" die Wogen glätten könnte. Ein solcher Schritt würde zu sehr an Peter Mandelsons "intensive Entspannung beim Zusehen wie manche Leute schweinereich werden" (O-Ton: "Intensely relaxed about people getting filthy rich") erinnern. Dies würde eine weitere Abkehr der Schotten von Labour und Großbritannien riskieren und desillusionierte Labour-Wähler in ihrem Protest bestätigen. Die neue Führung sollte charismatisch sein. Sie sollte sich darauf verstehen, die Wähler und nicht die Politikerzunft mitzureißen. Ebenfalls sollte man nicht überstürzt das Kind mit dem Bade ausschütten. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Wähler die Wirtschaftsentwicklung auf einem aufsteigenden Ast wähnten und sich deshalb mit der Tagespolitik der Regierung abfanden. Dies bedeutet nicht zwangsläufig, dass das komplette Wahlprogramm Labours falsch war. In dem Dokument mag noch brauchbares Material liegen.


Literatur

• BBC (2015): Results of the 2015 General Election
(http://www.bbc.co.uk/news/election/2015/results, letzter Zugriff 07.06.2015).

• BBC (11. Mai 2015): David Miliband criticises brother's election approach
(http://www.bbc.co.uk/news/uk-politics-32697212, letzter Zugriff 08.06.2015).

• Conservatives (2015): Strong Leadership, A Clear Economic Plan, A Brighter, More Secure Future - The Conservative Party Manifesto 2015
(https://www.conservatives.com/Manifesto, letzter Zugriff 06.06.2015).

• Fisher, Steve (2015): How did the Tories win a majority?
(http://electionsetc.com/2015/05/08/how-did-the-tories-win-a-majority/, letzter Zugriff 07.06.2015).

• Guardian (3. April 2015): Revealed: The winner of the leaders' election debate
(http://www.theguardian.com/politics/2015/apr/03/revealed-the-winner-of-the-leaders-election-debate, letzter Zugriff 06.06.2015).

• Guardian (21. Mai 2015): Pollster John Curtice warns a Labour majority in 2020 is 'improbable'
(http://www.theguardian.com/politics/2015/may/21/pollster-john-curtice-warns-labour-majority-2020-election-improbable-politics, letzter Zugriff 08.06.2015).

• Guardian (27. Mai 2015): Labour funding will be hit hard by changes to political levy system
(http://www.theguardian.com/politics/2015/may/27/labour-funding-hit-change-political-levybill, letzter Zugriff 08.06.2015).

• Guardian (3. Juni 2015): The Undoing of Ed Miliband - and how Labour lost the election
(http://www.theguardian.com/politics/2015/jun/03/undoing-of-ed-miliband-and-how-labour-lost-election, letzter Zugriff 07.06.2015).

• Independent (5. Mai 2015): Post-election 'shambles' looms as 70 Prozent of voters say SNP should not be able to veto UK government policies
(http://www.independent.co.uk/news/uk/politics/generalelection/general-election-2015-postelectionshambles-looms-as-70-per-cent-of-voters-say-snp-should-not-be-able-to-veto-uk-government-policies-10227199.html, letzter Zugriff 06.06.2015).

• Ipsos MORI (2015): How Britain voted in 2015
(https://www.ipsos-mori.com/researchpublications/researcharchive/3575/How-Britain-voted-in-2015.aspx?view=wide, letzter Zugriff 08.06.2015).

• Labour (2015): Britain can be better: The Labour Party Manifesto 2015
(http://www.labour.org.uk/page/-/BritainCanBeBetter-TheLabourPartyManifesto2015.pdf, letzter Zugriff 05.06.2015).

• Ukpollingreport (2015): Voting intention since 2010
(http://ukpollingreport.co.uk/voting-intention-2, letzter Zugriff 05.06.2015).


Ed Turner ist Dozent für Politikwissenschaft an der Aston University.

Alexander Wochnik ist freier Publizist und lebt in Birmingham.

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 3/2015, Heft 208, Seite 4-7
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Juli 2015

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