Schattenblick → INFOPOOL → EUROPOOL → POLITIK


GROSSBRITANNIEN/012: Die Labour-Partei und der Brexit (spw)


spw - Ausgabe 1/2019 - Heft 230
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Meinung
Die Labour-Partei und der Brexit

von Mary Kaldor


Die Labour-Partei ist die 'Remain'-Partei. Eine am Vorabend des Parteitags 2018 durchgeführte YouGov-Umfrage hat gezeigt, dass 90 Prozent der Labour-Mitglieder für einen Verbleib in der Europäischen Union stimmen würden, sollte es zu einem zweiten Referendum kommen, und dass 86 Prozent ein solches Referendum befürworten.(1) Labour-WählerInnen sind ebenfalls überwiegend für einen Verbleib und von denjenigen, die beim ersten Referendum für den Austritt gestimmt haben, hält eine Mehrheit andere Themen für wichtiger. Auch Momentum, die Bewegung, die 2015 von Corbyn-AnhängerInnen ins Leben gerufen wurde, hat seine Mitglieder vor Kurzem befragt und dabei festgestellt, dass diese mit großem Abstand einen Verbleib in der EU befürworten.

Das Problem ist, dass die Parteiführung, insbesondere das Büro von Jeremy Corbyn, ganz bewusst einen Kurs der mehrdeutigen Botschaften verfolgt. Während des Referendumswahlkampfs hat sich Corbyn zwar für einen Verbleib in der EU eingesetzt, aber seine KritikerInnen unterstellen ihm, er habe dies nur halbherzig getan. Es ist schwer zu sagen, ob das tatsächlich der Fall war oder ob er nicht vielmehr von der offiziellen Kampagne des 'Remain'-Lagers an den Rand gedrängt wurde, in der Konservative, Liberale und Abgeordnete der Labour-Partei, die einen Mittekurs vertreten, den Ton angaben. Corbyn hat zweifellos einige leidenschaftliche Reden gehalten. In einer dieser Reden sagte er: "Es gibt starke sozialistische Argumente für einen Verbleib in der Europäischen Union, genau wie es schlagkräftige sozialistische Argumente für eine Reform und einen progressiven Wandel in Europa gibt. Indem wir über den Kontinent hinweg zusammenarbeiten, können wir die wirtschaftliche Entwicklung fördern, soziale Rechte und Menschenrechte schützen, den Klimawandel bekämpfen und rigoros gegen Steuerhinterziehung vorgehen."(2)

In der Zeit nach dem Referendum vertrat Corbyn die Ansicht, dass das Ergebnis der Abstimmung respektiert werden müsse und dass Labour versuchen sollte, die Spaltung in Brexit-BefürworterInnen und -GegnerInnen zu überwinden - diese Ansicht war damals ziemlich weit verbreitet. Er setzte sich für einen 'weichen' Brexit ein, der einen dauerhaften Verbleib in der Zollunion und den Erhalt von Umweltschutzstandards und Arbeitnehmerrechten beinhalten sollte. Infolgedessen wurde das Thema Brexit während des Wahlkampfs im Jahr 2017 kaum diskutiert. Die Labour-Partei erzielte bei der Wahl einen beachtlichen Erfolg. Der enorme, 25 Prozentpunkte betragende Vorsprung, den die Konservative Partei laut Umfragen zu Beginn des Wahlkampfs hatte, konnte am Wahltag auf zwei Prozentpunkte verringert werden. Am Ende hatte keine der im Parlament vertretenen Parteien eine absolute Mehrheit und die Konservativen waren von den Stimmen der nordirischen Democratic Unionist Party (DUP) abhängig, einer extremistischen, nationalistischen Partei. Labours Wahlerfolg konnte nicht allein auf Corbyns Charisma und die Popularität des Anti-Austeritäts-Programms der Partei zurückgeführt werden. Entscheidend waren auch die großen Graswurzel-Kampagnen, die vor allem von jungen Menschen angeführt wurden, die es bereuten, beim Referendum 2016 nicht mit abgestimmt zu haben, und das von 'Best for Britain' und anderen Anti-Brexit-Bewegungen beförderte strategische Abstimmungsverhalten. Der Wahlerfolg in Kensington und Chelsea, einer wohlhabenden, von den konservativen Tories dominierten Gegend, lässt sich beispielsweise nicht mit einer Corbyn-Euphorie erklären; vielmehr war die Wahrnehmung ausschlaggebend, dass sich Labour eher dem Brexit entgegenstellen würde als die Tories.

Seit den Wahlen im Jahr 2017 hat das Drängen auf ein zweites Referendum insbesondere an der Basis der Labour-Partei zugenommen. Lokale Organisationseinheiten der LabourPartei brachten für den Parteitag im Jahr 2018 um die 150 Anträge ein, von denen die meisten ein zweites Referendum beziehungsweise einen neuen Volksentscheid ('People's Vote') über den von Theresa May ausgehandelten Deal forderten - noch nie zuvor in der Geschichte der Partei wurden für ein einzelnes Anliegen so viele Anträge eingebracht. Nach langen Verhandlungen mit der Parteiführung (der Brexit hatte beim Parteitag 2017 noch nicht einmal auf der Tagesordnung gestanden, obgleich das Thema bei Veranstaltungen am Rande des Parteitages und bei Momentums parallel stattfindender 'World Transformed'-Konferenz leidenschaftlich diskutiert wurde) wurde ein Kompromiss erzielt und fast einstimmig verabschiedet, mit dem sich Labour darauf festlegte, sich Mays Deal entgegenzustellen und dann auf Neuwahlen zu drängen. Sollten Neuwahlen nicht möglich sein, würden laut dem Beschluss alle anderen Optionen erwogen, einschließlich eines erneuten Volksentscheids. Als der Brexit-Schattenminister Keir Starmer den Kompromissbeschluss vorstellte und den Halbsatz "mit der Option eines Verbleibs in der Europäischen Union" hinzufügte, brach der gesamte Parteitag in lauten Applaus aus.

Das ist der aktuelle Stand. Das Verhandlungsergebnis, das Theresa May aus Brüssel mitgebracht hat, wurde abgeschmettert, und zwar deutlicher als es irgendjemand erwartet hatte. Labour brachte unmittelbar darauf ein Misstrauensvotum gegen die Regierung ein, welches seinerseits scheiterte. Die Parteiführung bleibt jedoch bei ihrer Linie, sie befürworte einen 'besseren' oder 'vernünftigeren Deal'. Um AnhängerInnen eines Verbleibs in der EU zu beschwichtigen, fügt sie hinzu, dass im Falle eines Scheiterns dieses Vorhabens ein erneuter Volksentscheid in Erwägung gezogen würde. Die Idee eines 'besseren Deals' ist eine Schimäre - eine 'Einhörner'-Fantasie, wie viele sagen. Die Idee eines 'besseren Deals' besteht im Wesentlichen aus kleinen Justierungen an Mays Deal, und zwar indem die Zollunion dauerhaft eingerichtet und Umweltschutzstandards sowie Arbeitnehmerrechte ergänzt werden. Selbst wenn die EU bereit wäre, eine neue Verhandlungsrunde zu eröffnen, stünde dieser 'bessere Deal' am Ende vor genau denselben Hindernissen wie Mays Verhandlungsergebnis. Brexit-BefürworterInnen würden diesen 'besseren Deal' hassen, weil er das Land weitestgehend an das europäische Regelwerk binden würde, und das bei einem gleichzeitigen massiven Repräsentationsverlust in den europäischen Institutionen, was auf einen enormen Souveränitätsverlust hinauslaufen und das Land zu dem machen würde, was Brexit-BefürworterInnen als Vasallenstaat bezeichnen. Brexit-GegnerInnen, insbesondere die sich politisch links verortenden, lehnen einen solchen Deal ebenfalls ab, weil das Vereinigte Königreich keinen Einfluss mehr auf die Regeln der EU hätte und es ihnen nicht mehr möglich wäre, die EU im Zusammenschluss mit anderen linken Parteien und Gruppierungen zu reformieren und zu demokratisieren.

Warum also hält die Parteiführung an ihrer Position fest? Eine weitverbreitete Theorie ist, dass Corbyn selbst, trotz der von ihm angenommenen Haltung während des Referendumswahlkampfs, europaskeptisch ist. Er ist Teil der alten 'Bennite Left', der Anhängerschaft des ehemaligen britischen Politikers Tony Benn, die 1975 gegen den Eintritt in die Europäischen Gemeinschaften stimmte. Diese Theorie wird vor allem von den an einem Mittekurs orientierten Abgeordneten, den Veteranen der Blair-Jahre, vertreten, die Corbyn als Parteivorsitzenden aus tiefstem Herzen verabscheuen. Was auch immer Corbyns persönliche Ansichten sein mögen: Es stimmt, dass es in der Labour-Partei trotz der von einer überwältigenden Mehrheit vertretenen proeuropäischen Haltung eine kleine Gruppe lautstarker 'Lexiters' (linker Brexit-BefürworterInnen) gibt, die in Corbyns Büro einen starken Einfluss haben. Sie argumentieren, die Europäische Union sei ein von Grund auf neoliberaler Club, der nicht reformierbar sei. - Der Guru dieser Denkweise ist Costas Lapavitsos, ein Wirtschaftsprofessor und ehemaliger Abgeordneter der Partei Syriza. Sie behaupten zudem, die bestehenden europäischen Regelungen zur staatlichen Beihilfe würden die Labour-Partei daran hindern, ihr sozialistisches Wahlprogramm umzusetzen.

Beide Argumente sind äußerst umstritten. Linke Brexit-Gegner, die bei weitem in der Überzahl sind, argumentieren, dass die Idee von einem auf ein einzelnes Land beschränkten Sozialismus in dieser globalisierten Welt eine Fantasievorstellung ist. Wenn wir die Auswirkungen der Globalisierung - insbesondere auf die deindustrialisierten Gegenden Großbritanniens, die beim Referendum für den Austritt gestimmt haben - ernsthaft angehen wollen, dann ist es unabdingbar, Teil einer größeren Gruppierung von Staaten zu sein und unsere Kräfte mit denen der Linken in ganz Europa zu bündeln. Hinzu kommt, dass sowohl Frankreich als auch Deutschland ein weit höheres Niveau an staatlichen Beihilfen aufweisen als das Vereinigte Königreich und dass nichts von dem, was im Wahlprogramm der Labour-Partei steht, nach den gegenwärtigen Regeln nicht umgesetzt werden könnte. Zudem weisen Linke Brexit-Gegner darauf hin, dass es das Vereinigte Königreich war, das in der EU eine neoliberale Politik vorangetrieben hat und dass wir es unseren sozialistischen Partnern in Europa schuldig sind, einen Beitrag zur Durchsetzung eines alternativen Politikmodells zu leisten. Das wahrscheinlich wichtigste Argument ist aber ein politisches: Der Brexit kann nur durch eine Allianz mit der Rechten zu Stande kommen - und eine solche Allianz würde jedwedes sozialistisches Projekt zunichtemachen.

Eine zweite, vielleicht überzeugendere Theorie besagt, dass es der Parteiführung darum geht, die Labour-Fraktion im Parlament zusammenzuhalten. Von den Labour-Abgeordneten, in deren Wahlkreisen eine Mehrheit für den Austritt gestimmt hat, haben zwar in der Vergangenheit viele einen Verbleib in der EU unterstützt. Nun aber zeigen sie sich zutiefst besorgt um ihre eigene Position, sollte sich Labour offen für einen Verbleib aussprechen. Bei den Wahlen im Jahr 2017 hat es die Labour-Partei geschafft, den Großteil ihrer traditionellen, von Brexit-AnhängerInnen dominierten Hochburgen zu verteidigen. Eine klare Positionierung für den Verbleib in der EU würde sich aber nicht zwangsläufig in Verlusten niederschlagen. Wir sprechen hier von den ehemaligen Kohle- und Industrieregionen - Regionen, die von den Folgen des Brexits wohl am härtesten getroffen würden. Viele derjenigen, die für den Brexit gestimmt haben, sind bereits vor dem Referendum zur UK Independence Party (UKIP) abgewandert und haben sich danach, als UKIPs Umfragewerte in den Keller gingen, eher den Konservativen als Labour angeschlossen (auch wenn es hier je nach Region Unterschiede gab). Selbst in Gegenden, in denen die AustrittsbefürworterInnen gewonnen haben, ist die Mehrheit der Labour-WählerInnen für einen Verbleib und selbst von den Labour-WählerInnen, die für den Austritt gestimmt haben, halten Umfragen zufolge nur neun Prozent den Brexit für das wichtigste Thema. Bei einem Besuch in zwei dieser Gegenden habe ich kürzlich festgestellt, dass die allgemeine Stimmung eine der Desillusion ist - die Menschen haben die Nase voll vom Brexit, sie sind entsetzt über das Chaos in Westminster und sie sind sich einig, selbst wenn sie für den Brexit gestimmt haben, dass der Austritt aus der EU negative wirtschaftliche Folgen hätte. Mein Gefühl ist, dass es in diesen Gegenden vor allem auf ein politisches Programm ankommt, das sich auf lokale Themen konzentriert und auf die Frage, wie Investitionen und Arbeitsplätze geschaffen werden und wirtschaftliche Erneuerung gelingen kann. Entscheidend ist: Wenn Labour beim Thema Brexit weiterhin mehrdeutige Botschaften aussendet, wird die Partei im Rest des Landes, in den Gegenden, die für einen Verbleib gestimmt haben, sehr viel mehr Stimmen verlieren als sie dadurch in ihren traditionellen Hochburgen je hinzugewinnen könnte.

Eine dritte Theorie hat etwas mit Taktik zu tun. Manch einer argumentiert, dass die Parteiführung eine raffinierte Strategie verfolgt, die darauf abzielt, die Tories scheitern zu lassen. Der von Labour vorgeschlagene 'bessere Deal' mag die Unterstützung vieler moderater Tories erhalten, aber er würde die Konservative Partei spalten. Wenn das die Strategie sein sollte, so wäre das verwerflich, da damit die parteipolitische Taktik vor das Wohlergehen des Landes gestellt würde. Wenn bei dieser Strategie überdies in Kauf genommen werden sollte, den Brexit am Ende geschehen zu lassen oder, schlimmer noch, einen Brexit ohne Abkommen geschehen zu lassen, so würde der Großteil der Labour-Mitglieder dies der Parteiführung niemals verzeihen.

Und schließlich ist da noch das Demokratie-Argument. Corbyn ist ein Demokrat und vielleicht ist er einfach zutiefst davon überzeugt, dass das Ergebnis des Referendums zu respektieren ist. Darüber hinaus besteht ein erhebliches Unbehagen angesichts der Vorstellung, dass ein zweites Referendum der extremen Rechten eine Bühne bereiten und die Polarisierung zwischen Brexit-BefürworterInnen und -GegnerInnen weiter verschärfen könnte. Die Ermordung der Abgeordneten Jo Cox im Vorfeld des ersten Referendums hat diese Befürchtungen noch verstärkt. Aber auch wenn diese Sorgen verständlich sind, ist das Demokratie-Argument letztendlich nicht überzeugend. Zunächst einmal war die erste Abstimmung nicht sehr demokratisch. Die 'Leave'-Kampagne hat erwiesenermaßen die Ausgabengrenzen überschritten und somit das Gesetz gebrochen: Hätte es sich um eine Parlamentswahl gehandelt, so hätten die Vorwürfe vor Gericht überprüft werden können, was möglicherweise zu einer Wiederholung der Abstimmung geführt hätte. Dieses Verfahren ist jedoch bei einem Referendum nicht vorgesehen, weil Referenden eine beratende (!) Funktion haben. Die erste Abstimmung war aber noch in weiterer Hinsicht fragwürdig - aufgrund der Lügen und Falschnachrichten, die verbreitet wurden, und aufgrund der mutmaßlichen Einflussnahme Russlands. Darüber hinaus war das für das Referendum vorgesehene Regelwerk angesichts einer solch folgenschweren, verfassungsrelevanten Entscheidung äußerst schlecht konstruiert: Das betrifft die einfache Mehrheit, die für einen Sieg reichte; die Tatsache, dass die Regionen nicht für sich selbst entscheiden konnten; oder die Tatsache, dass in Großbritannien lebende Staatsangehörige der Commonwealth-Länder mit abstimmen durften, EU-BürgerInnen jedoch nicht.

Aber selbst wenn man all das beiseitelässt: Demokratie kann nicht bedeuten, dass Entscheidungen in Stein gemeißelt sind. Menschen ändern ihre Meinung. WählerInnen versterben und neue WählerInnen werden volljährig. Alle Umfragen deuten auf eine signifikante Verschiebung zugunsten des 'Remain'-Lagers hin, selbst in Gegenden, die mehrheitlich für den Austritt gestimmt haben. Wahlen werden in regelmäßigen Abständen durchgeführt - warum also sollte es undemokratisch sein, mehr als ein Referendum abzuhalten? Es gibt unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten natürlich gute Gründe, die gegen Referenden im Allgemeinen sprechen; sie sind im Gegensatz zu deliberativen Methoden der Entscheidungsfindung, vor allem in Parlamenten, ein populistisches Instrument. Aber da im Jahr 2016 die Entscheidung für ein Referendum getroffen wurde, ist kaum vorstellbar, wie diese Entscheidung ohne die Durchführung eines weiteren Referendums zurückgenommen werden könnte. Einige KommentatorInnen, insbesondere der ehemalige Premierminister Gordon Brown, Neal Lawson von der Pro-Labour-Organisation Compass, oder Lisa Nandy, eine Abgeordnete aus einem 'Leave'-Wahlkreis, schlagen die Durchführung eines oder mehrerer Bürgerforen (Citizens Assembly) vor, im Rahmen derer Brexit-BefürworterInnen und -GegnerInnen eine gemeinsame Haltung für den besten Weg vorwärts entwickeln. Bei einem Feldversuch, den das University College London im September 2017 durchgeführt hat, entschieden sich die TeilnehmerInnen am Ende für einen weichen Brexit.(3) Solche Bürgerforen müssten jedoch, wie in Irland geschehen, mit einem Referendum kombiniert werden.

Hinsichtlich des Arguments, dass ein weiteres Referendum der extremen Rechten eine Bühne bereiten und, wie Theresa May sagt, "den sozialen Zusammenhalt gefährden" würde, muss betont werden, dass es noch sehr viel schlimmere Konsequenzen hätte, den Brexit einfach durchzuziehen. Der Brexit ist ein Projekt der Rechten. Er wird zum Auseinanderbrechen des Vereinigten Königreichs führen. Schottland wird unabhängig werden und Irland wird entweder wiedervereint oder es wird zum Krieg zurückkehren. Der Brexit ist ein rassistisches, migrantenfeindliches Projekt. Und statt den Menschen in den abgehängten Regionen die Kontrolle zurückzugeben, wird der Brexit die Kontrolle den Deregulierern überlassen, die sich Großbritannien als einen sicheren Hafen für Hedgefonds, Fracking und so weiter ausmalen.

All die genannten Theorien gehen davon aus, dass Corbyn ein Parteivorsitzender im traditionellen Sinne ist - entweder angetrieben von den Ideen der alten Labour-Partei oder darauf bedacht, sich mit einer cleveren Taktik, die sich nicht auf eine Seite festlegt, alle Möglichkeiten offenzuhalten - und dass er der Partei seine Ansichten von oben herab aufzwingen kann. Tatsächlich aber muss man Corbyn als Verkörperung eines neuen Phänomens verstehen, das Hilary Wainwright als 'Neue Politik' ('New Politics') bezeichnet.(4) Das Phänomen ist der Enthusiasmus, der Corbyn an die Macht verhalf, der die Labour-Partei zur größten Partei Europas machte und der den Erfolg der Partei bei den Wahlen im Jahr 2017 erklärt. Labour ist nicht mehr die alte, männliche, britische Partei der Arbeiterklasse, als die sie in vielen der 'Leave'-Gegenden imaginiert wird. Labour ist heute die Partei der Beschäftigten im öffentlichen Sektor und im High-Tech-Sektor, die Partei der neuen, unterbezahlten und mit Null-Stunden-Verträgen ausgestatteten Beschäftigten im Dienstleistungssektor. Unter diesen Beschäftigten sind sowohl Männer als auch Frauen, Menschen aus ganz Europa und aus der ganzen Welt. Die 'Neue Politik' ist 'bottom-up' und partizipativ, sie baut auf Alltagswissen und Kreativität - die Rolle der Parteiführung ist es, dieses Phänomen zu befördern. Wenn Corbyn dieses Phänomen nicht mehr verkörpert und sich mehr wie ein traditioneller Parteivorsitzender verhält, könnte sich all das in Luft auflösen. Schon jetzt verlassen viele Menschen die Partei. Die Frustration ist groß - darüber, dass Labour diesen Moment, diese einmalige Gelegenheit, nicht nutzt, um Mays Schwäche, das von den Tories angerichtete Chaos und ihre Lügen zu entlarven, und um einen alternativen, hoffnungsvolleren Weg einzuschlagen. Die Zukunft der 'Neuen Politik', in Großbritannien und in ganz Europa, ist abhängig davon, wie die Frage des Brexits entschieden wird.


Mary Kaldor
ist emeritierte Professorin für Global Governance und Leiterin der Abteilung für Konfliktforschung und Zivilgesellschaft am Institut für Internationale Entwicklung der London School of Economics and Political Science


Anmerkungen

(1) The Guardian vom 22.09.2018: Corbyn faces clash with Labour members over second EU referendum,
https://www.theguardian.com/politics/2018/sep/22/corbyn-under-pressure-from-labour-members-over-brexit, abgerufen am 17.02.2019

(2) Cooper, Luke et al. (o.J.): Another Europa Is Possible,
https://www.anothereurope.org/wp-content/uploads/2018/03/aeip-reform-final-web.pdf, abgerufen am 17.02.2019.

(3) Renwick, Alan et al. (2017): Citizins' Assembly On Brexit,
https://www.ucl.ac.uk/constitution-unit/research/uk-and-europe/citizens-assembly-brexit-0, abgerufen am 17.02.2019.

(4) Wainwright, Hillary (2018): A New Politics from the Left (Radical Futures), Cambridge: Polity Press.

*

Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 1/2019, Heft 230, Seite 5-9
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
Abo-/Verlagsadresse:
spw-Verlag / Redaktion GmbH
Westfälische Straße 173, 44309 Dortmund
Telefon 0231/202 00 11, Telefax 0231/202 00 24
E-Mail: spw-verlag@spw.de
Internet: www.spw.de
 
Die spw erscheint mit 6 Heften im Jahr.
Einzelheft: Euro 7,-
Jahresabonnement Euro 39,-
Auslandsabonnement Europa Euro 49,-


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. März 2019

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang