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HOLLAND/002: Die Wahlen in den Niederlanden und ihre Auswirkungen auf die EU (spw)


spw - Ausgabe 6/2012 - Heft 193
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Die Wahlen in den Niederlanden und ihre Auswirkungen auf die EU

Von Siebo M. H. Janssen



Die Wahlen vom 12. September 2012 zur "Tweede Kamer" (zweite Kammer, vergleichbar dem Deutschen Bundestag) endeten mit mehreren kleineren und einigen größeren Überraschungen auf die im folgenden Beitrag eingegangen werden soll. Darüber hinaus sollen die Auswirkungen der Wahlen auf die EU und die Europapolitik der Niederlande beleuchtet werden.

Als im April 2012 der Rechtspopulist Geert Wilders und seine PVV (Partei der Freiheit) die Regierungskoalition aus rechtsliberalem VVD und christdemokratischen CDA als Tolerierungspartner scheitern ließ, ging es in erster Linie um Fragen der Sozial- und Wirtschaftspolitik. Um die Haushaltskriterien des Maastrichter Vertrages zu erfüllen, müssen die Niederlande im Haushalt 2013 mehrere Milliarden Euro einsparen. Um dieses Ziel zu erreichen einigten sich VVD und CDA auf umfangreiche Kürzungen im Sozial-, Gesundheits-, und Kulturbereich. Während Wilders die Kürzungen im Kulturbereich und, aufgrund des Drucks des CDA weniger betroffenen Entwicklungshilfeetats, als zu gering empfand, gingen ihm die Kürzungen im Sozial- und Gesundheitsbereich zu weit. Wilders vertritt nicht nur rechtsdemagogische Positionen in Bezug auf Islam und EU, sondern geriert sich in der niederländischen Öffentlichkeit auch als Vertreter der sogenannten "kleinen Leute", deren soziale Anliegen er gegen Migranten, die EU und die nationalen Eliten vorgibt zu verteidigen.

Das Ende der Koalition kam gleichsam überraschend, gingen VVD und CDA doch davon aus, dass Wilders nach sieben Wochen Verhandlungen einer Einigung nicht seine Stimme verweigern würde.

Die Folge dieses Verhaltens und das Ausbrechen einer neuerlichen politischen Krise in den Niederlanden führte, um die Vorgaben der EU-Kommission für 2013 doch noch einhalten zu können, zur Ausschreibung von Neuwahlen im September 2012 sowie der Bildung einer ad-hoc-Koalition im Parlament aus VVD, CDA, D66 (Linksliberale), Groen Links (Grüne) und Christenunie (gemäßigt konservativ-protestantisch-soziale Partei). Nicht beteiligt war die größte Oppositionspartei, die sozialdemokratische PvdA. Diese lehnte, ähnlich wie die PVV von Wilders und die linkspopulistische Sozialistische Partei (SP - vergleichbar der Linken) die vorgesehenen Kürzungen im Sozialhaushalt ab und verwies auf ihr Konzept einer Erreichung der Ziele der EU-Kommission zu einem späteren Zeitpunkt und auf die umfassende Forderung nach Investitionsprogrammen.

Die PvdA war politisch in den Monaten vor dem Auseinanderbrechen der Koalition, ähnlich wie der CDA, durch ein umfragepolitisches "Tal der Tränen" gegangen. Die zweitstärkste Partei der Wahlen von 2010 mit ihren 30 Sitzen lag seit Monaten in den Umfragen bei 15-20 Sitzen und wurde, abhängig von der Umfrage nach VVD, SP und teilweise PVV und D66, nur noch dritt- bis fünfstärkste Fraktion. Auffallend war vor allem der Aufstieg der SP in den Umfragen. Deren charismatischer und auf Regierungsfähigkeit hin orientierter Fraktionsvorsitzender und Spitzenkandidat Roemer schaffte es seine Partei in den Umfragen von 15 realen Sitzen auf bis zu 38 virtuelle Sitze zu heben und damit sogar kurzfristig zur stärksten Partei zu avancieren. Relativ bald brach der Nimbus des charismatischen Siegertypen allerdings zusammen, da Roemer sich in den TV-Duellen einige peinliche Patzer erlaubte und in vielen Fragen als unsicher und schlecht informiert bei den Wähler/innen ankam. Mit dem Niedergang Roemers begann der politische (Wieder)Aufstieg des sozialdemokratischen Spitzenkandidaten Diederik Samsom, einem ehemaligen Greenpeaceaktivisten, und der PvdA. Samsom schaffte es als einziger, neben Alexander Pechthold (D66), die Politik der bisherigen Koalition sachlich kompetent und mit einer klaren Alternative als ökonomisch und sozial gefährlich sowie explizit antieuropäisch zu dekonstruieren. Er wurde damit zum herausragenden politischen Gegenspieler des bisherigen Ministerpräsidenten Rutte vom VVD. Allerdings zeigte sich auch bereits während des äußerst kurzen (ca. 3-4 Wochen) und heftig geführten Wahlkampfs, dass alle Koalitionsoptionen außer der einer großen Koalition aus VVD und PvdA so gut wie unmöglich waren, wollte man nicht auf eine weitere Legislaturperiode mit fragilen Mehrheitsverhältnissen bzw. dubiosen Partnern wie der PVV, der SP oder der Tierrechtspartei bzw. einer Rentnerpartei zusammenarbeiten.

Das Ergebnis der Wahlen am 12. September war dann zwar in der Höhe des Sieges von VVD und PvdA (beide gewannen noch einmal 10 bzw. 8 Sitze hinzu) überraschend deutlich, aber eine Mehrheit und damit mögliche Regierungsbildung dieser beiden Parteien zeichnete sich bereits in der letzten Woche vor den Wahlen ab. Die großen Verlierer dieser Wahlen waren Wilders PVV (die von 24 auf 15 Sitze fiel) sowie die SP Roemers, die trotz anfänglich günstiger Umfragen, auf ihren 15 Sitzen stehen blieb. Dramatisch, von 10 auf 3 Sitze, verloren auch die Grünen (Groen-Links) unter ihrer erstmals antretenden und mittlerweile bereits wieder abgetretenen Spitzenkandidatin Jolande Sap, sowie der bereits 2010 nahezu halbierte CDA (2008: 41 Sitze, 2010: 21, 2012: 13), dessen Wählerschaft die Zusammenarbeit mit Wilders offensichtlich als wesentlich dramatischer ansah als eine Mehrheit des Parteiapparates dies wahrhaben wollte. Diese erneute Niederlage des CDA dürfte einerseits mit der Zusammenarbeit mit Wilders zusammenhängen, war und ist der CDA in vielen Politikbereichen doch immer noch eine stark christlich-sozial geprägte Partei, sowie mit der zunehmenden Entkonfessionalisierung nicht nur in den protestantischen Landesteilen, sondern mittlerweile und deutlich später, auch in den katholischen Südprovinzen Limburg und Nord-Brabant. Vor allem Limburg wählte 2010 massiv Wilders und die PVV (Wilders stammt aus dem nordlimburgischen Venlo) und 2012 den VVD, so dass in diesem Zusammenhang von einer Entkonfessionalisierung der katholischen Landesteile nach rechts gesprochen werden kann.


Die Koalitionsbildung zwischen VVD und PvdA in europapolitischer Perspektive

Die unmittelbar nach den Wahlen beginnenden Koalitionsverhandlungen zwischen den beiden großen Wahlsiegern VVD und PvdA hatten eine Reihe von grundsätzlichen innenpolitischen Problemen zu lösen, wie z.B. die Höhe der Krankenkassenversicherungsbeiträgen, die steuerliche Absetzbarkeit der Aufnahme von Hypotheken auf den Häuserkauf sowie zahlreiche weitere Fragen zur Sozial- und Wirtschaftspolitik. Überraschend schnell, für niederländische Verhältnisse, kamen die Verhandlungsführer beider Parteien nach nur ca. sieben (7) Wochen mit konkreten Verhandlungsergebnissen.

Neben den wesentlichen innenpolitischen Streitpunkten wogen auch die Gegensätze in der Europapolitik schwer. Zwar gelten beide Parteien historisch gesehen als (gemäßigt) pro-europäisch, allerdings wird Europa von nahezu gegensätzlichen Standpunkten aus betrachtet. Wesentlich in diesem Zusammenhang ist, dass Samsom als Spitzenkandidat der PvdA mehrfach die pro-europäischen Grundsätze seiner Politik und der PvdA betonte und sich nachhaltig für weitere Hilfsprogramme für die "Krisenstaaten" ausgesprochen hatte. Der VVD hingegen hatte immer die strikte Linie der Haushaltssanierung und Sparprogramme vertreten und sich als enger Verbündeter der deutschen Bundesregierung im Kampf gegen die "Krise" gesehen.

Die Ernennung des engagierten Europäers Frans Timmermanns (PvdA) zum Außen- und Europaminister dürfte in dieser Hinsicht ein deutliches Signal sein. Timmermanns, bereits mehrfach Staatssekretär für Europafragen, und eines der europapolitischen "Aushängeschilder" der niederländischen Politik gilt als klarer Vertreter eines deutlichen Kompetenzzuwachses für Europa bei gleichzeitigem Ausbau bzw. Beibehaltung der Unterstützung für die Krisenstaaten. Auch der neue Vizepremier Lodewijk Asscher (PvdA) steht auf dem explizit pro-europäischen Flügel der PvdA. Zusammen mit Samsom, der Fraktionsvorsitzender in der zweiten Kammer bleibt, ist die PvdA in der neuen Koalition deutlich pro-europäisch und darüber hinaus politisch stark auf die Richtung der europäischen Wirtschaftspolitik des französischen Präsidenten Hollande ausgerichtet. Dies mag manchem im VVD als zu weitgehendes Zugeständnis an die Sozialdemokraten gelten und es ist davon auszugehen, dass beide Parteien einen Mittelweg in Bezug auf die europäische Finanzpolitik einschlagen werden, der zwischen den Positionen Deutschlands und Frankreichs verlaufen wird. Allerdings haben sich die Liberalen diesen Politikwechsel "teuer bezahlen lassen", denn im Gegenzug haben sie eine deutliche Kürzung der Entwicklungshilfe (1 Mrd. Euro) durchgesetzt. Diese Kürzungen sind für die, traditionell stark auf internationale Zusammenarbeit ausgerichtete, PvdA problematisch, weil selbst unter der Tolerierung Wilders die seinerzeitige Regierung aus VVD und CDA, auf Druck des CDA, die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit "nur" um ca. 500 Millionen Euro gekürzt hatte, obwohl Wilders wiederholt eine Reduzierung auf null gefordert hatte. Ein anderer Wermutstropfen für den linken Flügel der PvdA dürfte die Verschärfung der Asyl- und Einwanderungspolitik sein, hier muß - wie im Falle der Entwicklungszusammenarbeit - von einem deutlichen politischen Sieg des VVD gesprochen werden. Erstaunlich ist, dass die PvdA insgesamt, also auch der linke Flügel, diese "Angriffe" auf traditionelle Kernbereiche ihrer Politik ohne größere Gegenstimmen passieren ließ. Hier stellt sich tatsächlich die Frage ob die eindeutige Fokussierung der PvdA auf eine innenpolitisch sozialere Gestaltung der Niederlande, bei gleichzeitiger Preisgabe zentraler Vorstellungen in Bezug auf die Armutsbekämpfung und eine humane Flüchtlingspolitik nicht einen Kurswechsel des außenpolitischen Denkens insgesamt einläutet? Für die PvdA steht seit 2012 offensichtlich die soziale Frage im Inneren vor allen anderen Fragen, gefolgt durch eine europäische Sozialpolitik, während Entwicklung und eine humane Flüchtlings- und Einwanderungspolitik dem politischen Opportunismus geopfert werden und gleichsam nur noch als Nebenprodukte der nationalen und europäischen Interessenpolitik vorkommen.

Die PvdA hätte in den Koalitionsverhandlungen die Möglichkeit gehabt, die europäische Politik nicht nur im Rahmen einer richtigen, wichtigen und notwendigen europäischen Solidarität zu gestalten, sondern auch deutliche Schwerpunkte in Bezug auf internationale Solidarität zu legen. Dass diese Chance, relativ leichtfertig, vertan wurde bleibt ein Makel des ansonsten durchaus akzeptablen Koalitionsvertrages. Für eine solche europäische und internationale Solidarität hätte die PvdA in der zweiten Kammer auch auf die Unterstützung der linksliberalen D66, durch Groen-Links (Grün-Linke), der kleinen christlich-sozialen Christenunion (CU) und möglicherweise sogar durch den sich neu orientierenden und wieder in die christlich-soziale Richtung rückenden CDA (Christdemokraten) rechnen können. Ob diese "one-way-Solidarität" eine rein machtpolitische Offerte ist, oder vielmehr ein politischer Paradigmenwechsel der PvdA zu befürchten steht wird sich in den nächsten Monaten und Jahren zeigen müssen.

Positiv festzuhalten bleibt abschließend, dass europapolitisch ein Durchbruch gelungen ist, trotz des bitteren Beigeschmacks in Bezug auf die Entwicklungszusammenarbeit und der Flüchtlings- und Asylpolitik, ein Durchbruch gelungen und als Fazit lässt sich festhalten, dass es den antieuropäischen Populisten von links (SP) und rechts (PVV) nicht gelungen ist die Angst gegen Europa weiter zu schüren, sondern es scheint vielmehr so zu sein, dass die Niederlande, nach ca. 10 Jahren der (europa)politischen Verirrungen wieder an ihre Tradition als pro-europäisches Land anschließen wollen. Ob dieser Neubeginn in europapolitischer Hinsicht Erfolg haben wird, wird auch davon abhängen ob es der sozial-liberalen Koalition gelingen wird die, weiterhin vorhandenen sozial- und wirtschaftspolitischen Gegensätze zu überwinden und für ihre Gesamtkonzeption von Politik auch in der ersten Kammer eine Mehrheit zu finden, denn dort benötigen sie (vorläufig) den CDA oder die linksliberalen D66 um ihre politischen Ziele umsetzen zu können.

Sollten die oben angesprochenen Probleme gelöst werden und das Kabinett Bestand haben, so könnte das Kabinett Rutte II als erstes post-populistisches Kabinett in die jüngere Geschichte eingehen, das die positiven europapolitischen Traditionen beider Parteien und der Niederlande insgesamt wieder betont und zugleich ein weiteres (gemäßigtes) Gegengewicht zur Austeritätspolitik der Bundesregierung darstellt.

Zu wünschen wäre dies nicht nur den Niederlanden, sondern auch der EU, die für jeden stabilen, pro-europäischen Partner in diesen unsicheren Zeiten des antieuropäischen Populismus dankbar ist.


Dr. Siebo M. H. Janssen ist 1. stellvertretender Vorsitzender des Kölner Forum für Internationale Beziehungen und Sicherheitspolitik e.V. (KFIBS).

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 6/2012, Heft 193, Seite 59-62
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Februar 2013