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ITALIEN/040: Venezianer wollen "weg von Rom" (Gerhard Feldbauer)


Venezianer wollen "weg von Rom"

Lega Nord droht mit Abspaltung der reichen Industrie-Region

von Gerhard Feldbauer, 24. März 2014



89 Prozent der knapp 2,7 Millionen (73 Prozent) Teilnehmer an einer Befragung über eine "unabhängige und souveräne Republik Venezien" wollen "weg von Rom". Das ist Ergebnis einer am 21. März beendeten sechstägigen von der sezessionistischen Lega Nord initiierten privaten online-Umfrage, die jedoch von der Landesregierung von Ministerpräsident Luca Zaia (Lega Nord) zugelassen wurde. Begonnen hatte das bereits früher angesetzte Votum rein zufällig am 16. März, demselben Tag, da auf der Krim das Unabhängigkeitsreferendum stattfand.

Als eigentlicher Drahtzieher gilt die rechtsextreme separatistische Lega Nord, die seit ihrer Gründung 1991 eine Politik der Abspaltung der reichen Industrie-Regionen vom Zentralstaat betreibt. Sie ist im Veneto wie auch in der Lombardei, ebenso in mehreren Städten, so in Verona, stärkste Partei. Auch wenn die Abstimmung nur den Status einer privaten Initiative hatte, will die Lega, wie aus Regierungskreisen verlautete, das Ergebnis jetzt zum Anlass nehmen, um ein offizielles Referendum einzuleiten. Dazu wurden bei der Abstimmung bereits zehn Delegierte gewählt, die das organisieren sollen. In einem Interview mit der Zeitung "Il Quotidiano" argumentierte Ministerpräsident Zaia, die italienische Verfassung könne eine Abspaltung nicht verhindern. Gegenüber der Rundfunk- und Fernsehanstalt RAI bezog er sich auch auf das von Katalonien und Schottland ausgehende Vorbild der Unabhängigkeitsbewegung.


Ausländerfeinde für "Selbstbestimmung"

Da wird es ausgesprochen heuchlerisch, wenn die für ihren offenen Rassismus und extreme Ausländerfeindlichkeit bekannten Legisten, die als Mitglieder der früheren faschistoiden Berlusconi-Regierungen das schärfste Gesetz gegen Einwanderer in der EU durchsetzten, sich plötzlich auf das Selbstbestimmungsrecht berufen. Die italienischen Medien, die sich unisono fast alle an der antirussischen Hetzkampagne beteiligen, äußerten sich mit keinem Wort zu dem neuerlichen Versuch dieser Abspaltung von Rom. Das "Schweiz Magazin" sah als Ursache, man fürchte, die "Büchse der Pandora" zu öffnen. Denn als nächstes könnte Alto Adige (Südtirol), anders als Venezien bis zum Ende des Ersten Weltkrieges österreichische Provinz, "heim nach Wien" wollen. Russische Medien, darunter "Russia Today" und "Stimme Russlands", haben das Ereignis als Trend gegen die antirussische Medienwelle dagegen aufgegriffen.

Dabei sind die entgegengesetzten historischen Parallelen offensichtlich: Während die Krim als altes russisches Territorium nach einer Entscheidung ihrer mehrheitlich russischen Bevölkerung nach einem mit Faschisten in Kiew inszenierten Staatsstreich zu Russland zurückkehrt, soll Venezien, das ein Zentrum der italienischen Renaissance war und dessen Bevölkerung in den Befreiungsbewegungen des Risorgimento (1789-1870) an den Unabhängigkeitskriegen gegen die Habsburger Unterdrücker für die Herstellung des italienischen Nationalstaates teilnahm, von seinem Nationalverband losgerissen werden.


Genscher stimulierte Spaltungsversuche

Die Lega Nord entstand 1991 aus den Ligen der Lombardei und des Veneto (beide einst Habsburger Besitz), Piemonts, Liguriens, der Romagna und der Toskana unter dem Slogan "Weg vom Rom" und "hin zu Deutschland". Triebkräfte waren der Zusammenbruch des Ostblocks, die von Deutschland favorisierte Zerstückelung Jugoslawiens, die Spaltung der Tschechoslowakei und die nach der Einverleibung der DDR wieder erwachende deutsche Großmachtrolle. Die Lega propagierte die historische Zugehörigkeit der Norditaliener zu Langobarden, Kelten und Franken. Durch dieses Konzept schimmerte die faschistische Blut- und Boden-Ideologie, an deren Stelle die etwas weniger diskreditierten ethnischen und kulturellen Differenzen traten. Die Lega betreibt offenen Rassismus, auch gegen Süditaliener. Der Fußballclub von Neapel wurde in Mailand mit Spruchbändern empfangen: "Was Hitler mit den Juden gemacht hat, wäre auch das Richtige für Napoli". Bossi drohte, gegen die "römischen Schurken" seine Legisten "an die Gewehre zu rufen" und äußerte, es sei leider "leichter, Ratten zu vernichten als Zigeuner auszurotten".

Die Forderungen der Lega nach regionaler Autonomie bis hin zu föderalen Strukturen entsprachen von Anfang an den Interessen der großen Unternehmer, sich am supranationalen "Alpengroßraum" der EU zu beteiligen. Zu den Förderern gehörten Konzerne wie Fiat. Der damalige deutsche Außenminister Genscher erklärte, der nördliche Teil Italiens werde entdecken, "dass er mehr gemeinsame Interessen mit Süddeutschland als mit Süditalien hat". Der "Corriere della Séra" kommentierte, es gehe um die "Neuaufteilung des europäischen Raumes und die Eroberung neuer Einflusssphären".

Historisch bedingt konzentriert sich bis heute das Industrie- und Finanzkapital im Norden, während der Süden als Reservoir von Agrarprodukten und billigen Arbeitskräften in bitterster Armut das Dasein eines Entwicklungslandes fristet, abhängig von den Almosen, die Rom ihm aus dem Norden zukommen lassen muss. Mit einflussreichen Kapitalkreisen im Hintergrund wollen die reichen Nord-Regionen sich dem Spardiktat der EU entziehen. Die Mehrheit der Bevölkerung will sich ihren höheren Lebensstandard sichern und unterstützt das. Der Veneto, eine der reichsten Regionen Europas, will seine Steuern von derzeit 70 Mrd. Euro nicht mehr in die Staatskasse abführen. Die Lega hat bereits früher gedroht, Steuern zu boykottieren. Ihr ehemaliger Chef Umberto Bossi drohte als Vizepremier der letzten Regierung Berlusconis (2008 bis 2011) mit der Einführung einer eigenen Währung als erstem Schritt zu einem Separatstaat Padanien. Die linke "Unita" befürchtete "einen Dominoeffekt" der Umfrageergebnisse "auf andere Regionen". Denn die Rettungsschirmpolitik der EU und die vorangetriebene deutsche Vorherrschaft verstärken die Nord-Süd-Gegensätze. Das italienische Kapital sucht Anschluss an die deutsch/europäische Wirtschaftsgroßmacht in Berlin. Dabei will es das eigene Gewicht stärken und den Ballast des Südens loswerden.

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Quelle:
© 2014 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. März 2014