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ITALIEN/303: Corona-Pandemie führt zu "Explosion der Armut" in Süditalien (Gerhard Feldbauer)


Corona-Pandemie führt zu "Explosion der Armut" in Süditalien

Obdachlose, die Ärmsten in den Elendsvierteln werden ihrem Schicksal überlassen

von Gerhard Feldbauer, 2. April 2020


"Mit mehr als 105.000 Infizierten, über 77.000 noch Positiven und fast 12.500 Toten erreicht Italien den Höhepunkt der Infektionen mit dem Coronavirus", berichtete die staatliche Nachrichtenagentur ANSA am Mittwoch. Den bisherigen Höhepunkt erreicht auch das mit der Krise wachsende Elend, besonders im Süden. Während Premier Conte allen Bürgern "die notwendige medizinische Versorgung und den sozialen und wirtschaftlichen Schutz verspricht", kommt es, wie der Bürgermeister Leoluca Orlando von Palermo auf Sizilien sagt, zu einer "unvorstellbaren Explosion der Armut". Wie Medien berichteten, bedienten sich verzweifelte Menschen, ohne einen Cent in der Tasche, in Supermärkten ohne zu bezahlen. Premier Conte erklärte danach, an "Familien in Not" würden Lebensmittelgutscheine von 25 Euro verteilt. Das dürfte der bekannte Tropfen auf den heißen Stein sein. Die im Notfall-Paket der Regierung von 50 Mrd. Euro (das noch aufgestockt werden soll) für die Armen vorgesehenen 400 Millionen seien völlig unzureichend und würden in zwei bis drei Wochen aufgebraucht sein, so Leoluca Orlando.

Laut Statistiken lebten 2019 etwa achtzehn Millionen Italiener in Armut und sozialer Ausgrenzung. Fünf Millionen von ihnen, so bezifferte es die Caritas Italia, befanden sich in "absoluter Armut", ihr Monatseinkommen lag im Süden bei 554 Euro, was noch nicht einmal für eine einfache Wohnung reicht, vom Notwendigsten für das Essen ganz zu schweigen. Es sind die Hunderttausenden Arbeitslosen, die Obdachlosen, die in den Slums Dahinvegetierenden, die Schwarzarbeiter, deren Familien jetzt völlig mittellos sind. "Diese sozial Benachteiligten, die ohnehin bereits aus der Gesellschaft ausgegrenzt sind, trifft es in einer Zeit, da das gesamte Wohlfahrtssystems ernsthaft geschwächt ist", erklärt der Soziologie-Professor an der Universität von Messina Pietro Saitta gegenüber junge Welt. Sie, "die jetzt am dringendsten Unterstützung brauchen, werden jetzt völlig ausgeschlossen". In den Dokumenten der Regierung finden sie keine Berücksichtigung, sie werden der "öffentlichen Wohltätigkeit überlassen".

Sizilien wird von Sebastiano Musumeci, dem Chef einer Sizilianischen Allianz, einem Ableger der heutigen faschistischen Brüder Italiens, regiert, der 2017 mit Hilfe eines von der rassistischen Lega Matteo Salvinis angeführten Bündnisses die Wahlen gewann. Wenn diese fanatischen Feinde von Linken jeglicher Couleur heute die Krisen-Dekrete von Premier Conte, der mit den Sozialdemokraten regiert, ausführen sollen, dann tangiert das natürlich auch, wie Saitta ausführt, "partikularistische Kriterien", um Wählerbasen für "politische Gewinne zu erzielen".

Derweil dreht sich weiter alles darum, wie die Wirtschaft, sprich an erster Stelle die Konzerne, am besten vor den Auswirkungen der Krise geschützt, ihre Gewinnverluste abgefangen werden können, wird gejammert, welche Auswirkungen der Fall des Dax auf die Börsengänge hat.

Eine andere Seite der Krisen-Betrachtung der herrschenden Kreise ist, dass kaum ein "kleiner Hoffnungsschimmer" in Sicht ist. Der für seine Kumpanei mit dem Industriellenverband Confindustria bekannte Ex-Premier (2013-2017) und Chef der von der sozialdemokratischen Partito Democratico (PD) abgespaltenen rechtslastigen Partei Viva Italia (Lebendiges Italien), Matteo Renzi, fordert, die Produktion in allen Unternehmen wieder aufzunehmen. Premier Conte lehnte zwar ab und will die allgemeine Quarantäne bis Ostern, möglicherweise auch darüber hinaus, aufrechterhalten, aber für den Sektor "der produktiven Aktivitäten" solle sie "nicht lange dauern". Er werde als erstes wieder öffnen können. Überhaupt werde auch über ein "Danach" gesprochen.

Zu diesem "Danach" gehören die anhaltenden Auseinandersetzungen in der EU, bei denen Conte kritische Positionen zur deutschen Kanzlerin Merkel bezieht. Ihn treibt laut ANSA die Sorge, wenn die Reaktion nicht kohärent, energisch und koordiniert erfolge, "werde Europa auf dem globalen Markt immer weniger wettbewerbsfähig" sein. Für den Notfall sei kein einzelnes Land verantwortlich, und es geht nicht um finanzielle Spannungen. Die EU konkurriere mit China, mit den Vereinigten Staaten, die zwei Billionen bereitgestellt haben. Der italienische Premier betont, Italien habe "seine Schulden immer bezahlt und wird dies auch weiterhin tun". Ein "Eurobond-Mechanismus" bedeute nicht, dass die Deutschen "einen einzigen Euro für italienische Schulden zahlen müssen". Es gehe darum, zusammenarbeiten, um wirtschaftlich "bessere Bedingungen" zum Wohle aller zu schaffen.

Auch am Donnerstag dreht sich alles weiter um die Wirtschaft. Conte relativiert laut ANSA seine Aussagen zum "Danach". Er sagt, dass "es noch keine Entscheidung für die Folgen gibt", das werde geschehen, "wenn die Experten dies sagen und nur in einigen Sektoren". Aber er will schon am Freitag ein Dekret vorlegen, das "die Liquidität für Unternehmen" sicherstellen soll. Es gehe um "eine Art Manöver neuer relevanter Maßnahmen, die vor Ostern erhofft werden".

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Quelle:
© 2020 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 4. April 2020

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