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SPANIEN/021: Austerität und Sezession (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 2. Oktober 2017
german-foreign-policy.com

Austerität und Sezession 02.10.2017


BERLIN/MADRID - Der eskalierende katalanische Sezessionskonflikt erschüttert mit Spanien ein von den Berliner Austeritätsdiktaten schwer getroffenes Land. Spanien, in deutschen Medien zuweilen als ein Vorzeigebeispiel einer angeblich erfolgreichen Sparpolitik gefeiert, ist trotz eines bescheidenen Wirtschaftswachstums weiterhin mit enormen sozialen und ökonomischen Problemen konfrontiert; Arbeitslosigkeit und Armut verharren auf hohem Stand. Die Krisenpolitik der vergangenen Jahre ließ auch den ökonomischen Abstand zu den Wohlstandszentren der Eurozone anwachsen. Von einem Schuldenabbau, der das offizielle Ziel der deutschen Austeritätspolitik in der EU ist, kann immer noch keine Rede sein. Zudem befeuert die schlechte ökonomische Lage samt der überaus hohen Schuldenlast den katalanischen Sezessionsstreit, in dem auch die Aufteilung der Staats- und Regionalschulden konfliktverschärfend wirkt.

Armut als neue Normalität

Spanien hat sich noch immer nicht von dem sozioökonomischen Doppelschlag erholt, den das Land in den vergangenen Jahren hinnehmen musste - zunächst durch die globale Finanzkrise, anschließend durch das Berliner Spardiktat. Rund eine Dekade nach Ausbruch der Weltwirtschaftskrise, in deren Verlauf der spekulationsbefeuerte spanische Immobiliensektor kollabierte, belegt das Land bei vielen sozialen und ökonomischen Kennziffern immer noch die hintersten Plätze in Europa. Trotz eines Wirtschaftswachstums von 3,2 Prozent 2016, das in diesem Jahr laut Prognosen rund 2,8 Prozent betragen soll, liegt die Massenarbeitslosigkeit in Spanien bei offiziell mehr als 18 Prozent; die Jugendarbeitslosigkeit ist sogar doppelt so hoch. Der leichte Rückgang der Erwerbslosigkeit, die während der Rezession in Spanien auf zeitweise rund 25 Prozent angestiegen war, ist teilweise der Abwanderung von rund 1,7 Millionen ausländischen Arbeitskräften zu verdanken, die auf dem Höhepunkt des spanischen Immobilienbooms im dortigen Bausektor beschäftigt waren; vor allem aber ist er auf die Entstehung prekärer Arbeitsverhältnisse mit Bruttolöhnen von 900 Euro zurückzuführen, die in ihrer Mehrzahl zeitlich befristet sind.[1] Immer noch sind rund 27 Prozent der Bevölkerung vom Abstieg in die Armut und von sozialer Exklusion bedroht. Überdies hat die tiefe Wirtschaftskrise, die Spaniens konservative Regierung in Einklang mit Ex-Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble durch einen strikten Austeritätskurs überwinden wollte, die soziale Spaltung des Landes massiv verschärft. Die Einkommensdifferenz zwischen den obersten 20 Prozent der Einkommensbezieher und dem untersten Fünftel beläuft sich auf den Faktor 7,5; dies ist der höchste Wert in der gesamten EU. Sollten Prognosen des IWF zutreffen und Spanien die Krise bis 2019 endgültig überwunden haben, dann läge die Arbeitslosenquote laut dem Währungsfonds immer noch bei 16 Prozent.[2]

Wachsender Rückstand gegenüber Deutschland

Hinzu kommen strukturelle Probleme der spanischen Wirtschaft, die es der iberischen Halbinsel zusehends schwer machen, im binneneuropäischen Konkurrenzkampf mit der dominanten deutschen Exportwirtschaft zu bestehen. Spaniens Unternehmen fallen bei der Produktivität im internationalen Vergleich stark zurück; sie liegen inzwischen auf dem letzten Platz der OECD-Länder. Dabei stagnierte das Produktivitätsniveau der spanischen Wirtschaft in den Krisenjahren: Zwischen 2008 und 2015 wurden de facto keinerlei Produktivitätsfortschritte erzielt, während die Ausgaben für Forschung und Entwicklung in der hauptsächlich durch Kleinbetriebe geprägten spanischen Industrie längst unter den EU-Durchschnitt fielen. Der Produktivitätsabstand zum deutschen Zentrum der Eurozone weitet sich beständig. Die bescheidene wirtschaftliche Belebung der vergangenen Monate beruht vor allem auf dem Tourismus, dem niedrigen, im Krisenverlauf deutlich gesunkenen Lohnniveau und der massiven Ausweitung prekärer Arbeitsverhältnisse. Das durch jahrelange Sparpolitik zusätzlich zerrüttete spanische Bildungssystem ist überdies kaum in der Lage, adäquate Ausbildungsmöglichkeiten zu gewährleisten. Rund 20 Prozent der Lohnabhängigen unter 25 Jahren haben nur einen Real- oder Hauptschulabschluss ohne weitere Qualifikationen - ein europäischer Negativrekord.[3]

Schwelende Schuldenkrise

Dabei ist die von Berlin oktroyierte Austeritätspolitik sogar an ihrem selbstgesteckten Ziel gescheitert, die Schuldenlast Spaniens zu senken und den Staatshaushalt zu konsolidieren.[4] Im vergangenen Jahr verzeichnete Madrid ein Haushaltsdefizit von 4,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), während für das laufende Jahr ein Defizit von 3,5 Prozent prognostiziert wird; beide Werte liegen deutlich über den Sparvorgaben der EU-Kommission. Auch für das kommende Jahr wird nicht damit gerechnet, dass Madrid die Brüsseler Sparvorgaben realisieren kann.[5] Der Fehlbetrag zwischen Vorgaben und Realität beläuft sich allein in diesem Jahr auf elf Milliarden Euro - trotz zu Jahresbeginn eingeführter Zusatzsteuern auf Unternehmensgewinne und Alkohol. Hinzu kommen weiterhin schwelende Schwierigkeiten auf dem spanischen Finanzsektor: Auf den Staat dürften zusätzliche Rettungskosten für angeschlagene Finanzinstitute zukommen. Der anvisierte Abbau der Staatsverschuldung scheint kaum mehr erreichbar zu sein: Ursprünglich war vorgesehen, die spanische Staatsverschuldung von 99,4 Prozent des BIP (2016) auf 97,7 Prozent im kommenden Jahr zu drücken; doch rechnet die EU-Kommission mittlerweile angesichts der ohnehin abkühlenden Konjunktur und der langsamer als prognostiziert sinkenden Arbeitslosigkeit eher mit einem Anstieg der Staatsschulden auf rund 100 Prozent des BIP. Tatsächlich ist etwa die spanische Industrieproduktion im Juli 2017 im zweiten Monat in Folge gesunken.[6] Wie dramatisch der krisen- und austeritätsbedingte Schuldenanstieg verlief, zeigt ein Blick in die jüngste Vergangenheit: 2007, am Vorabend der Weltfinanzkrise, betrug Spaniens Staatsschuld nur 35 Prozent des BIP. Die Maßnahmen zur Stabilisierung des spanischen Finanzsektors nach dem Platzen der Immobilienblase haben die Staatsschulden binnen weniger Jahre explodieren lassen.

Schulden im Sezessionskonflikt

Die langjährige Wirtschaftskrise hat mutmaßlich auch den katalanischen Separatismus verstärkt. Die Autonome Region Katalonien, die als eine der ökonomisch avanciertesten Spaniens gilt, generiert ein Fünftel des BIP und der Steuereinnahmen des Landes, während der jährliche Nettotransfer an die Zentralregierung auf zehn bis 15 Milliarden Euro geschätzt wird.[7] Der Streit zwischen Madrid und Barcelona um die Steuereinnahmen und den Zugriff auf staatliche Liquiditätsfonds wurde durch die Krise und die Berliner Austeritätspolitik befeuert, da die Finanzmittel für die Regionen - jeweils 50 Prozent der Mehrwert- und Einkommenssteuer - stark geschrumpft sind und die Regionen sich daher ebenfalls verschuldet haben.[8] Katalonien hat dabei den höchsten Schuldenstand aller spanischen Regionen angehäuft; er beläuft sich mit 60,4 Milliarden Euro auf rund 30 Prozent des katalanischen BIP.[9] Die austeritäts- und krisenbedingt explodierten Schulden bilden mittlerweile einen eigenen Streitpunkt zwischen Madrid und Barcelona; katalanische Politiker drohen, im Falle einer Abspaltung den Schuldenanteil ihrer Region nicht zu übernehmen.[10] Bei einer Sezession Kataloniens sähe sich Madrid damit einer sprunghaft auf rund 114 Prozent des BIP angestiegenen Schuldenlast konfrontiert. Die Schuldenfrage werde für die Region, sollte sie sich tatsächlich abspalten, entscheidend sein, urteilen US-Medien: "Der Erfolg Kataloniens würde vor allem dadurch determiniert, ob es einen Prozentsatz der spanischen Schulden übernimmt und ob es verpflichtet würde, seine eigenen Schulden abzuzahlen. Beides würde das Potenzial einer neuen katalanischen Nation für ökonomische Expansion schädigen."[11]


Anmerkungen:

[1] Thomas Urban: Generation im Nirgendwo.
sueddeutsche.de 25.08.2017.

[2] Spain's Economy is Growing, but Leaving Most Spaniards Behind.
therealnews.com 25.09.2017.

[3] Sandra Louven: Schöner Schein in Spanien.
handelsblatt.com 14.03.2017.

[4] "EZB kann nicht Aufgaben der Politik übernehmen".
handelsblatt.com 04.10.2017.

[5] Jan Marot: Spanien bekommt Defizit nicht in den Griff. derstandard.at 15.02.2017.

[6] Spanien bekommt Defizit nicht in den Griff.
t-online.de 08.09.2017.

[7] German election result revives eurozone jitters as investors turn attention to Spain.
marketwatch.com 25.09.2017.

[8] Martin Dahms: Madrid greift finanziell durch.
morgenweb.de 18.09.2017.

[9] La ley de transitoriedad prevé que la Agencia Tributaria no recaude en Cataluña.
lavanguardia.com 28.08.2017.

[10] Alfons López Tena, Elisanda Paluzie: Here are the economics of a Catalan secession from Spain.
businessinsider.com 24.02.2016.

[11] Sofia Bosch: Here's how bad economically a Spain-Catalonia split could really be.
cnbc.com 21.09.2017.

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Oktober 2017

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