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AUSSEN/143: EU-Außenminister protestieren gegen Abrissaktionen Israels im Westjordanland (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 16. Mai 2012

Nahost: EU-Außenminister protestieren gegen Abrissaktionen Israels im Westjordanland

von Daan Bauwens



Brüssel, 16. Mai (IPS) - Die Außenminister aller 27 EU-Staaten haben sich bei einem Treffen in Brüssel entschieden gegen die Zerstörungen palästinensischer Häuser durch Israel im Gebiet C des Westjordanlandes ausgesprochen. Seit Anfang 2011 sind dort etwa 60 von der Europäischen Union finanzierte Projekte dem Erdboden gleichgemacht worden, 110 weitere sind gefährdet. Politische Beobachter werfen den israelischen Behörden vor, gezielt gegen EU-finanzierte Vorhaben anzugehen.

Das Gebiet C umfasst 60 Prozent des Westjordanlandes und steht gemäß dem Oslo-Vertrag vollständig unter der militärischen und zivilen Kontrolle Israels. Die EU richtet ihren Blick verstärkt auf dieses Gebiet, nachdem Berichte über die zunehmende Zerstörung palästinensischer Wohnhäuser und Infrastrukturen Beunruhigung ausgelöst hatten. Betroffen sind auch Projekte, die von europäischen Steuerzahlern finanziert werden.

Der EU-Rat für auswärtige Angelegenheiten forderte Israel am 15. Mai auf, die Einschränkungen für Bauvorhaben von Palästinensern und Projekten zur wirtschaftlichen Entwicklung des Gebiets C aufzuheben. Der Rat verurteilte außerdem gewaltsame Übergriffe israelischer Siedler gegen Palästinenser und verlangte von der israelischen Regierung, die Vorfälle strafrechtlich zu verfolgen.

Vor dem Hintergrund des EU-Treffens stellten Entwicklungs- und Hilfsorganisationen im Westjordanland neue Informationen über die Zerstörung von EU-Projekten zusammen. Nach Erkenntnissen der Arbeitsgruppe Vertreibung, die die Arbeit internationaler nichtstaatlicher Organisationen in den besetzten Palästinensergebieten koordiniert, wurden seit Anfang vergangenen Jahres mindestens 62 Bauten und Strukturanlagen zerstört, die von Frankreich, den Niederlanden, Großbritannien, Polen, Irland, Spanien, Schweden und der Europäischen Kommission finanziert worden sind. Wohnhäuser gehörten ebenso dazu wie Zisternen und Tierställe.


Auch alternative Energieprojekte betroffen

Die Arbeitsgruppe Vertreibung berichtet von weiteren mehr als hundert gefährdeten Projekten, für die Belgien, Frankreich, Deutschland, die Niederlande, Polen, Spanien, Großbritannien, Irland, Schweden und die EU-Kommission Geld bereitgestellt haben. Die israelischen Behörden haben den Abriss oder zumindest den Baustopp bereits angeordnet. Betroffen sind auch Projekte im Bereich erneuerbarer Energien, Wasserleitungen und Sanitäranlagen.

Aus einem kürzlich von dem UN-Büro für Humanitäre Angelegenheiten (OCHA) veröffentlichten Bericht geht zudem hervor, dass mehr als ein Viertel aller 2011 zerstörten palästinensischen Bauten von internationalen Gebern finanziert worden waren.

Nach einer Anfrage des britischen Europaabgeordneten Chris Davies schätzt die Europäische Kommission den zwischen Anfang 2001 und Oktober 2011 durch die Abrissaktionen entstandenen Schaden für die EU und ihre Mitgliedsländer auf mehr als 49 Millionen Euro. Rund 29 Millionen Euro kamen direkt aus Brüssel. Die meisten Zerstörungen gehen zwar auf die Zeit der Zweiten Intifada und des Kriegs im Gazastreifen 2008/2009 zurück. Die Liste der Kommission ist allerdings nicht vollständig und hat Daten aus der jüngsten Vergangenheit noch nicht erfasst.

Am 13. Februar riss die israelische Armee eine alte Zisterne nieder, die von der polnischen Organisation 'Humanitarian Action' mit Geldern des Außenministeriums wieder instandgesetzt worden war. Im April wurden nahe Hebron zwei weitere Zisternen niedergewalzt, die von der französischen Regierung bezahlt worden waren. Israel führte in diesem wie auch in den meisten anderen Fälle an, dass keine Genehmigung für das betreffende Projekt vorgelegen habe. Die israelische Zivilverwaltung und die Armee behalten sich das Recht vor, alle Anlagen abzureißen, die ohne ihre Einwilligung errichtet werden.

Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen, die in dem Gebiet tätig sind, ist es allerdings schier unmöglich, eine Genehmigung zu erhalten. Kürzlich veröffentlichte UN-Daten belegen, dass weniger als ein Prozent des Gebiets C für die Entwicklungsmaßnahmen zugunsten der Palästinenser vorgesehen ist. In den vergangenen Jahren wurden demnach 94‍ ‍Prozent der palästinensischen Bauanträge abgelehnt.


Schulunterricht in Zelten und Baracken

Etwa 10.000 palästinensische Kinder im Gebiet C und in Ostjerusalem waren daher zu Beginn des Schuljahres 2011 dazu gezwungen, den Schulunterricht in Zelten, Wohnwagen oder Blechbaracken zu besuchen.

Ayman Rabi von der größten palästinensischen Nichtregierungsorganisation 'Palestinian Hydrology Group' ist der Ansicht, dass Israel das Fehlen von Genehmigungen als willkommenen Vorwand nutzt, um Gebäude abreißen zu lassen. "Die israelischen Behörden erklären uns immer, dass das Gebiet, in dem wir bauen, eine Sicherheitszone ist. Die Abrissaktionen entbehren aber jeder rechtlichen Grundlage", sagte Rabi, dessen Organisation sich um Wasserversorgung und sanitäre Strukturen kümmert. Zugleich wies er darauf hin, dass von den USA finanzierte Projekte in demselben Gebiet nicht angetastet würden.

Ende vergangenen Jahres ordnete Israel zudem an, dass der Bau von fünf vom Auswärtigen Amt finanzierten Solar- und Windstromanlagen auf den Südlichen Hebron-Hügeln eingestellt werden müsse. Die Dörfer in Massafer Yatta wurden bisher nicht an das israelische Stromnetz angeschlossen. Die israelischen Behörden sicherten zwar zu, die Projekte nicht anzurühren, zerstörten im vergangenen Januar jedoch Haus und Ställe einer der palästinensischen Familien, für die die Solarzellen bestimmt waren.

Nach einem Bericht hochrangiger EU-Diplomaten vom Dezember 2011 lebten vor dem Sechstagekrieg 1967 zwischen 200.000 und 320.000 Palästinenser in dem heutigen Gebiet C. Aufgrund der israelischen Aktionen gegen die Palästinenser ist die Zahl inzwischen auf 56.000 gesunken. Die Zahl der israelischen Siedler stieg dagegen zwischen 1972 und 2010 von 1.200 auf 310.000. (Ende/IPS/ck/2012)


Links:
http://www.unocha.org/
http://www.pah.org.pl/
http://www.phg.org/
http://www.ipsnews.net/news.asp?idnews=107802

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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Mai 2012