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INNEN/418: Die europäische Integration verläuft nicht demokratisch genug (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 122/Dezember 2008
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Gut für Eliten, weniger gut für Bürger
Die europäische Integration verläuft nicht demokratisch genug

Von Max Haller


Zwischen Eliten und Bürgern besteht eine erhebliche Kluft, wenn es um die Einstellung zum europäischen Integrationsprozess geht. Am spektakulärsten trat diese Kluft zutage in der Ablehnung des "Vertrags über eine Verfassung für Europa" durch die Franzosen und Niederländer im Jahr 2005: Die Eliten mit politischer, wirtschaftlicher und bürokratischer Macht haben vitale Eigeninteressen an der Integration, während deren Segnungen für die Bevölkerung weit weniger spektakulär sind als behauptet.


Eliten - gemeint sind damit vor allem die europäischen politischen Eliten in Brüssel und in den Hauptstädten der Mitgliedsländer, aber auch die wirtschaftlichen und die neuen bürokratischen Eliten der EU - betrachteten die in Frankreich und den Niederlanden abgelehnte Verfassung als einen entscheidenden Schritt zur Vertiefung der Union, durch den diese effizienter, demokratischer und sozialer werden würde. Warum wird diese Ansicht von vielen Bürgern, nicht nur den Franzosen und Niederländern, nicht geteilt? Warum haben kürzlich sogar die Iren, Hauptnutznießer der Integration, den Vertrag von Lissabon abgelehnt?

Auch andere Indikatoren belegen die Kluft zwischen Eliten und Bürgern. Bereits in den frühen 1990er Jahren stieß die Ratifizierung des Maastricht-Vertrags auf unerwartete Probleme; die Dänen lehnten ihn mehrheitlich ab. Die Schweizer und Norweger verweigerten den EU-Beitritt trotz massiver Empfehlungen durch ihre politischen Führungsgruppen. Selbst in jenen Ländern, in denen sich klare Mehrheiten der Wähler für Beitritt bzw. Vertiefung der Integration aussprachen - wie in Spanien oder in Mittelosteuropa -, war das Niveau der Zustimmung bescheiden. Hier war die Beteiligung an den entsprechenden Abstimmungen meist gering - anders als in Ländern mit niedrigen Raten der Zustimmung oder mehrheitlicher Ablehnung. In all diesen Ländern entwickelten sich im Zuge der Abstimmung auch äußerst lebhafte öffentliche Debatten. In den darauf folgenden parlamentarischen Abstimmungen der gleichen Länder zeigten sich allerdings weit höhere Quoten der Zustimmung als in den jeweiligen Volksabstimmungen - in aller Regel 80 Prozent bis 100 Prozent.

Repräsentative Umfragen unter Eliten und Bürgern förderten die gleiche Kluft zutage.

Eine Gallup-Erhebung im Jahre 1996 stellte in einer Stichprobe von fast 4.000 europäischen Politikern, Spitzenbeamten, Wirtschaftsführern und kulturellen Eliten fest, dass 94 Prozent von diesen der Meinung waren, die Mitgliedschaft ihres Landes in der EU sei "eine gute Sache"; der entsprechende Anteil unter den Bürgern insgesamt betrug nur 48 Prozent. In einer ähnlichen Befragung des CIRCAP-Instituts der Universität Siena unter 250 italienischen EU-Spitzenbeamten und Mitgliedern des Europäischen Parlaments waren 94 Prozent der Ansicht, dass die EU ihre militärische Macht verstärken sollte, um eine größere Rolle in der Welt spielen zu können; auch hier war nur die Hälfte von ebenfalls befragten Bürgern dieser Meinung.

Wie ist diese Kluft entstanden? Eine befriedigende Antwort auf diese Frage geben weder die etablierten Integrationstheorien noch ausschließlich auf Klassen- und Wirtschaftsinteressen bezogene kritische Theorien. Aussagekräftiger erscheint hier eine an Max Weber angelehnte soziologische Perspektive, die Ideen und Interessen als entscheidende Triebkräfte sozialer Prozesse betrachtet. Unentbehrlich ist auch eine zweite, normative Perspektive, wie sie die "demokratische Elitentheorie" von Etzioni-Halevy bereitstellt. Danach besteht das entscheidende Charakteristikum moderner Demokratien darin, dass die Rekrutierung, Einsetzung und Ablösung der politischen Eliten durch die Bürger bestimmt werden kann und dass die Beziehungen zwischen den verschiedenen Funktionseliten in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur offen und transparent gestaltet wird.

In diesem Beitrag werden drei Thesen entwickelt. Die Kluft zwischen Eliten und Bürgern im Prozess der europäischen Integration entstand zum Ersten, weil alle einflussreichen Elitegruppen - die politischen, wirtschaftlichen und bürokratischen Eliten - direkt vom Integrationsprozess profitieren; zum Zweiten, weil die Vorteile aus der Integration für die Bürger weit bescheidener sind als von den Eliten behauptet; zum Dritten, weil der Integrationsprozess auch Verlierer erzeugt und nationalstaatliche, demokratische und soziale Standards unterhöhlt.

Warum initiierten die politischen Eliten den Integrationsprozess, und welche Vorteile beziehen sie daraus? Drei Faktoren sind hier relevant. Erstens: Der Transfer von Kompetenzen nach Brüssel ermöglicht es vielen Politikern, Ziele und Maßnahmen durchzusetzen, die sie in ihren Heimatländern nicht hätten durchsetzen können oder von denen sie glaubten, dazu nicht in der Lage zu sein. Dies betrifft strukturelle innere Reformen wie auch die Wiedergewinnung von Einfluss auf der globalen Ebene. Zweitens können Politiker durch die europäische Integration auch ihre persönlichen Interessen befördern. Die EU hat viele neue politische Funktionen, Positionen und Karrieren geschaffen, die hoch bezahlt und oft mit zahlreichen Zusatzvergütungen verbunden sind. Drittens eröffnet die Teilnahme nationaler Politiker an den zahllosen offiziellen Treffen und festlichen Gipfeln und Zeremonien sowie die Übernahme hoher Funktionen die Möglichkeit, Publizität und Prestige zu Hause und im Ausland zu erlangen.

Die europäische Integration bezog sich von Beginn an vor allem auf die ökonomische Sphäre. Es ist daher evident, dass auch die ökonomischen Eliten in hohem Maße vom Integrationsprozess profitiert haben müssen. Dies lässt sich in mehreren Aspekten zeigen. Schon der erste Schritt der Integration - die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl im Jahr 1952 - wurde von den deutschen, belgischen und französischen Industriellen dieser Sektoren begrüßt, weil er es ihnen ermöglichte, die enge Zusammenarbeit fortzusetzen, die sie bereits in den 1930er und 1940er Jahren aufgebaut hatten. Ein zweiter Schwerpunkt der Wirtschaftsintegration betraf die Landwirtschaft. Hier wurden die Interessen agrarischer Großunternehmer von Beginn an durch ein umfangreiches System der Regulierung und Unterstützung der landwirtschaftlichen Produktion stark privilegiert.

Bis heute erhält dieser Sektor trotz seines extrem abnehmenden wirtschaftlichen Gewichts den Löwenanteil des EU-Haushalts. Die wirtschaftlichen Eliten nahmen zum Dritten auch strategischen Einfluss auf die "Revitalisierung" des Integrationsprozesses in den 1980er Jahren. Die weitreichenden Reformvorschläge von Jacques Delors, die zur Durchsetzung des vollen freien Marktes führten, wurden bis ins Detail entworfen vom "European Round Table of Industrialists". Die Eliten verfolgten damit das Ziel, aus der EU einen riesigen Binnenmarkt zu machen, der zur Verstärkung ihrer Wettbewerbsposition auf globaler Ebene beitragen würde. Zusätzlich initiierte die EU zu dieser Zeit eine strategische Industrie- und Handelspolitik mit dem Ziel, "europäische Champions" in bestimmten Industriesektoren zu schaffen, auch wenn dies oft dem Prinzip des freien Wettbewerbs widersprach. Ein Beleg dafür ist auch die Tatsache, dass die EU nur eine verschwindend geringe Anzahl von potenziell wettbewerbseinschränkenden Unternehmensfusionen untersagt. Tausende Unternehmerverbände und Lobbyisten beobachten bzw. beeinflussen heute in Brüssel die gesetzgeberischen und regulatorischen Aktivitäten der EU, stellen der EU-Kommission Informationen zur Verfügung und unterbreiten ihr Vorschläge.

Die dritte Elitegruppe, die für den europäischen Integrationsprozess von entscheidender Bedeutung ist, sind die neuen europäischen Beamten ("Eurokraten"). Der Einfluss dieser Gruppe wird in der einschlägigen Forschung besonders stark unterschätzt. Man spricht hier von einer Bürokratie völlig neuer Art: hart arbeitend und effizient, und vor allem extrem "schlank" im Vergleich zu den nationalen Staatsbürokratien. Dies ist jedoch eine irreführende und statische Sicht. Aus dynamischer Perspektive zeigt sich, dass die Eurokratie seit Gründung der EWG in den 1950er Jahren kontinuierlich wächst: Sie nimmt jedes Jahrzehnt um etwa 10.000 Beamte zu und beträgt derzeit über 40.000 Beamte; auf nationaler Ebene ist dagegen ein weit geringeres Wachstum, zum Teil sogar eine Abnahme, zu verzeichnen.

Darüber gibt es, wie eine kleine Spezialstudie in vier Ländern zeigte, in den Mitgliedsländern wahrscheinlich eine ebenso große "EU-Stellvertreterbürokratie", die ausschließlich mit EU-Angelegenheiten befasst ist. Die Eurokratie ist auch weit davon entfernt, ein völlig neues Modell von Bürokratie darzustellen; auch sie enthält rigide hierarchische Unterteilungen, ist dem Wirken von "Bürokratismus" im weitesten Sinne ausgesetzt und steht unter dem Einfluss mächtiger Gewerkschaften. Weiterhin kann man feststellen, dass Entlohnung, Arbeitsplatzsicherheit und Zusatzleistungen für die "Eurokraten" außerordentlich gut sind; selbst wenn EU-Beamte an ihrer Arbeit keinen Spaß mehr finden, gehen sie selten weg, da sie sich in einem "goldenen Käfig" gefangen fühlen, wie Tiefeninterviews gezeigt haben.

Es gibt daher mehr als genug Gründe, die erklären, warum die Eliten so enthusiastisch für die europäische Integration werben. Welches Bild ergibt sich aus der Sicht der Bürger? In verschiedenen Mitgliedsländern und Makroregionen der EU bestehen sehr unterschiedliche Haltungen im Hinblick auf die Ziele der Integration. In manchen (so etwa in Großbritannien) wird die Integration als "notwendiges Übel" gesehen; in anderen versteht man die EU-Mitgliedschaft als eine Art Krücke, die zur Lösung von inneren Problemen beitragen soll, die man selber nicht lösen kann (Italien); in einem stellte sie einen Ersatz für eine schwache nationale Identität dar (Deutschland). Nicht zuletzt diese Divergenz macht es der EU so schwer, eine klare Identität und kohärente Vision über ihre Zielsetzung zu entwickeln.

Des Weiteren lässt sich zeigen, dass die realen Leistungen der Integration weit bescheidener sind als die Erwartungen und Hoffnungen, die vielfach mit ihr verbunden werden. In fast allen zentralen Indikatoren der sozioökonomischen Entwicklung (Wirtschaftswachstum, Beschäftigung, Arbeitslosigkeit, Inflation, Sozialausgaben) über den Zeitraum 1995-2004 hat die EU im Vergleich mit den USA und Japan vergleichsweise bescheiden oder schlechter abgeschnitten. Dies wurde von der Bevölkerung auch so wahrgenommen. Eine Analyse von Eurobarometer-Fragen über die Beurteilung der EULeistungen durch die Bürger zeigt Folgendes: In den Ländern, die wirtschaftlich in diesem Jahrzehnt gut abgeschnitten haben, beurteilen die Bürger den Einfluss der Integration sehr positiv, in jenen, wo dies nicht der Fall war, deutlich weniger positiv. Es ist also keineswegs so - wie vielfach behauptet -, dass die Menschen die Leistungen der EU nicht zu würdigen wissen; ihre Urteile sind vielmehr signifikant auf die objektiven Entwicklungen in ihrem Land bezogen und reflektieren die unterschiedlichen Trends innerhalb der EU sehr deutlich.

Eine andere Möglichkeit, die Leistungen der EU zu beurteilen, besteht darin, diese mit den grundlegenden Ideen und Zielen zu konfrontieren, die mit der europäischen Einigung meist verbunden werden. Eine systematische Analyse der Schriften der wichtigsten Autoren, die in den vergangenen Jahrhunderten Beiträge zur "Idee Europa" geliefert haben, ergibt hier überraschende Befunde. Zum einen hat es die Idee Europa in der Geschichte nie gegeben; vielmehr wurden sehr verschiedene Visionen parallel nebeneinander entwickelt. Einige darunter waren aus heutiger Sicht sehr problematisch; sie sahen ein vereinigtes und starkes Europa voraus, jedoch unter autoritär-monarchischer Herrschaft.

Zum anderen verbanden die prominentesten Vertreter der "Idee Europa", wie Saint Simon, Victor Hugo oder Giuseppe Mazzini, diese Idee vor allem mit Demokratie und Frieden, aber nicht mit einer politisch-bürokatischen Integration Europas. Ihr Denken stimmte vollkommen überein mit Immanuel Kants berühmter These vom "Ewigen Frieden", in welcher die Etablierung der Demokratie als hinreichender Grund für die Sicherung des Friedens zwischen den Nationen bezeichnet wird. Stimmt diese These - und keine einzige unter Hunderten von neueren politikwissenschaftlichen Studien konnte sie empirisch widerlegen -, so wäre nicht die europäische Integration die Hauptursache für die Erhaltung des Friedens im westlichen Europa gewesen, sondern die Einführung demokratischer Regierungsformen.

Es wird hier nicht argumentiert, dass die europäische Integration insgesamt als ein problematischer Weg zu betrachten ist. Problematisch ist vielmehr die elitäre und nur teilweise demokratische Art und Weise, in welcher dieser Prozess bislang abgelaufen ist. Hochproblematisch erscheint eine Tendenz, die man in vielen Mitgliedsländern der EU heute beobachten kann. Sie besteht darin, dass Kritiker der EU als "Europafeinde" abgestempelt und mit "extrem Rechten" und "Linken" in einen Topf geworfen werden. Die politische Legitimität eines Systems wird nicht in erster Linie durch die Existenz radikaler Parteien oder allgemein geringes Systemvertrauen bedroht, sondern vor allem durch eine Polarisierung und Spaltung des Parteiensystems.

Solange alle Parteien das demokratische Kräftespiel akzeptieren, besteht kein grundsätzliches Problem. Ein solches tritt aber auf, wenn es Parteien gibt, die in kontinuierlicher Opposition zum System stehen bzw. von den Mehrheitsparteien kontinuierlich als "undemokratisch" oder - in unserem Falle - "europafeindlich" - ausgegrenzt werden. Nicht nur bei den Repräsentanten dieser Parteien, sondern auch bei den von ihnen vertretenen gesellschaftlichen Gruppen entwickelt sich dann das Gefühl, dass ihnen das System keine Alternativen mehr bietet. Eine solche Konstellation mag sich in manchen Mitgliedsländern der EU entwickelt haben - mit der Folge, dass auch die EU-Kritiker selber zu immer schrilleren Tönen greifen, um sich Gehör zu verschaffen, unterstützt und gefördert durch eine Boulevardpresse, die dieses Thema genüsslich aufgreift. Die überraschenden Wahlerfolge von EU-Kritikern wie Paul van Buitenen in den Niederlanden, Hans Peter Martin in Österreich oder der United Kingdom Independence Party in Großbritannien haben gezeigt, welches Potenzial an Unbehagen über die EU in weiten Kreisen der Wähler vorhanden ist.


Max Haller, zurzeit Gast am WZB, ist Professor für Soziologie an der Universität Graz und korr. Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Sozialstrukturanalyse, europäische Integration und internationaler Vergleich von Wertorientierungen. 2008 erschien von ihm unter anderem "Gesellschaft Österreichs. Sozialstruktur und sozialer Wandel" (Campus Verlag).
max.haller@uni-graz.at


Literatur

Eva Etzioni-Halevy, The Elite Connection. Problems and Potentials of Western Democracy, Cambridge: Polity Press 1993, 239 S.

Max Haller, European Integration as an Elite Process: The Failure of a Dream? New York/London: Routledge 2008, 462 S. (deutsche Ausgabe: Europäische Integration als Elitenprozess. Das Ende eines Traums?, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, im Erscheinen, 288 S.)

Frederick D. Weil, "The Sources and Structure of Legitimation in Western Democracies: A Consolidated Model Tested with Time-series in Six Countries since World War II", in: American Sociological Review, Vol. 54, 1989, S. 682-706


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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 122, Dezember 2008, Seite 33 - 35
Herausgeberin:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Februar 2009