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INNEN/436: Endlich der Freispruch - aber das Sterben im Mittelmeer geht weiter! (Der Schlepper)


Der Schlepper Nr. 49 - Winter 2009
Quartalsmagazin für Migration und Flüchtlingssolidarität in Schleswig-Holstein

Endlich der Freispruch - aber das Sterben im Mittelmeer geht weiter!
Reisebericht der Delegation nach Agrigent zum "Cap Anamur Prozess"

Von Heike Behrens


Am 20. Juni 2004 nahm das Schiff Cap Anamur 37 Flüchtlinge, die von Libyen aus auf dem Fluchtweg nach Europa vor der italienischen Küste in Seenot geraten waren, an Bord. Der Lübecker Kapitän Stefan Schmidt wollte sie, wie es in der Seefahrt geboten ist, retten und in den nächstgelegenen Hafen bringen.


Doch die italienischen Behörden verweigerten dem Schiff das Recht zum Einlaufen. Zwei Wochen lang blieben die Flüchtlinge und die Besatzung zusammengepfercht auf der Cap Anamur. Schließlich erhielten sie die Erlaubnis, in den sizilianischen Hafen Port Empedocle einzulaufen. Doch dort angekommen wurden 36 Flüchtlinge innerhalb weniger Tage - ohne Asylverfahren - abgeschoben.

Kapitän Stefan Schmidt, der Vorsitzende des Vereins Cap Anamur Elias Bierdel und der erste Offizier Vladimir Daschkewitsch kamen für kurze Zeit in Untersuchungshaft. Das Schiff wurde für sieben Monate in Italien an die Kette gelegt und wurde erst nach einer Zahlung von zwei Mio. Euro Kaution wieder freigegeben. Im November 2006 wurden Schmidt, Bierdel und Daschkewitsch wegen Beihilfe zur illegalen Einreise angeklagt und mit einer Freiheitsstrafe bis zu vier Jahren und einer Geldstrafe von jeweils 400.000,-- Euro bedroht.


Delegation zur Urteilsverkündung

Zur Urteilsverkündung am 07.10.09 in Sizilien/Agrigent initiierte das Lübecker Flüchtlingsforum die Entsendung einer Delegation zur Unterstützung von Stefan Schmidt und Elias Bierdel. VertreterInnen des Flüchtlingsforums, der Humanistischen Union, der Gemeindediakonie, aber auch Privatleute und Familienmitglieder von Stefan Schmidt sind aus Solidarität zusammen nach Agrigent geflogen.

Einen Tag vor Urteilsverkündung war ein Treffen mit dem Präfekten der Stadt Agrigent, Herrn Postiglione, anberaumt worden, um ihm Grüsse der Lübecker Stadtpräsidentin Gabriele Schopenhauer zu überbringen. Diese hatte in ihrem Grußschreiben die Hoffnung ausdrückt, dass das Gericht bei der Urteilsfindung die rein humanitären Gründe zur Rettung der 37 Schiffbrüchigen anerkennen würde. Im Beisein von deutschen und italienischen MedienvertreterInnen begrüßte Herr Postiglione die Delegation und nahm den Brief der Lübecker Stadtpräsidentin dankend entgegen. Er teilte wortreich mit, dass auch er sich dafür einsetze, dass Menschen in Seenot gerettet würden und ein Ausgleich zwischen den armen und reichen Kontinenten geschaffen werden müsse, wollte aber zum Prozess keine Aussage machen. Die Delegation verließ dieses Gespräch mit sehr gemischten Gefühlen und bangte weiterhin um den Ausgang des Prozesses.


Weitere Prozesse gegen Retter

Im Verlauf des Abends wurden im Park vor der Präfektur in Agrigent hunderte von Lichtern entzündet zum Gedenken an die fast 500 Flüchtlinge, die allein im ersten Halbjahr 2009 auf See den Tod gefunden haben. Daneben gab es eine szenische Lesung von Mitgliedern von Borderline Sizilia über Schicksale wie dem des Corrado Scala. Er war ebenfalls ein Kapitän, der im Jahr 2002 über 150 Flüchtlinge aus Seenot gerettet hatte. Auch er wurde vor Gericht gestellt und erst in dritter Instanz freigesprochen. Berichtet wurde von weiteren Kapitänen: welche, die retteten, wie die tunesischen Fischer, die seit 2007 vor der selben Richterin in Agrigent auf ihr Urteil warten (die Verkündung ist auf den 17.11.2009 angesetzt), und welche, die zu 12 Jahren Haft verurteilt wurden, da sie nicht retteten. Gelesen wurde die traurige Geschichte der eritreischen Flüchtlingsfrau Titti, die neben vier Männern und Jugendlichen als einzige Frau die Nichtrettung im August 2009 überlebte. Drei Wochen hatte man das Schlauchboot mit seinen anfangs 82 Passagieren auf dem Mittelmeer treiben lassen, alle haben zu gesehen, niemand hat sie retten wollen.

Für die Delegationsmitglieder war es gut zu wissen, dass aus Solidarität in mehreren deutschen Städten ebenfalls Lichteraktionen an diesem Abend stattfanden.


Die Urteilsverkündung

Am Morgen des 7. Oktobers versammelten sich sowohl die angereiste Presse als auch die italienischen und deutschen UnterstützerInnen im Gerichtsgebäude. Die Spannung war allen merklich anzusehen und das Ambiente des Gerichtssaales mit seinem vergitterten Käfig, in dem allerdings die Angeklagten nicht sitzen mussten, trug nicht gerade zur Beruhigung bei.

Die hereinrauschende Richterin teilte dann jedoch nur mit, dass sich das Gericht noch beraten müsse und das Urteil erst am Mittag gesprochen würde.

Also war weiter Warten angesagt. So konnte sich doch noch rechtzeitig vor Urteilsverkündung der Vertreter der Bundesrepublik, Generalkonsul Bruch aus Neapel, im Gerichtsaal einfinden. Kurz vor 13 Uhr verkündete die Richterin dann in ihrem eine Minute andauernden Urteilsspruch: "In Anbetracht der zutreffenden Gesetzesartikel und des Art. 530 des italienischen SGB: Freispruch für Schmidt, Stefan Hermann Fritz und Bierdel, Elias Frank Ulrich bezüglich der ihnen im Rahmen der Anklage zugeschriebenen Straftat, da die Rechtstatsache keine Straftat darstellt.

Freispruch auch für Daschkevitch, Vladimir bezüglich der ihm im Rahmen der Anklage zugeschriebenen Straftat wegen erwiesener Unschuld."

Im Gerichtssaal brach innerhalb von Sekunden lauter Jubel aus.


Hoffnung nach dem Freispruch...

Stefan Schmidt gab in den vielen auf den Freispruch folgenden Interviews seine Hoffnung zum Ausdruck, dass der Freispruch ein Meilenstein der italienischen Rechtssprechung sein wird und ein Signal setzt für die Schifffahrt, dass humanitäres Handeln nicht abgeurteilt wird und das uralte Gesetz in der Seefahrt nämlich Hilfe in Seenot zu leisten - wieder gültig ist. Er betont auch immer wieder, dass er davon ausgeht, das sich der Freispruch auch auf das Urteil gegen die tunesischen Fischer, das im November erwartet wird, auswirkt. Elias Bierdel hingegen machte deutlich, dass er erst von Erfolg sprechen kann, wenn die Urteilsbegründung klar stellt, dass ihr Handeln rechtens war und damit Kapitäne wieder Mut fassen können, Flüchtlinge in Seenot zu retten.

Innerhalb der nächsten neunzig Tage wird das Urteil schriftlich begründet. Danach kann die Staatsanwaltschaft innerhalb von 45 Tagen Widerspruch einlegen. Die Anwälte der Angeklagten sind jedoch zuversichtlich und rechnen mit einem guten Ausgang des Prozesses.

Alle sind sich einig, dass dieser Prozess niemals hätte stattfinden dürfen und durch den jahrelangen Prozess fatale Signale auf das Handeln von anderen Kapitänen ausgesendet wurden.


... aber das Sterben an den Grenzen geht weiter.

Während noch die Freude über den Freispruch bei allen UnterstützerInnen ist, kommt schon die nächste Horrormeldung an: In der Nacht vor der Urteilsverkündung kamen 20 Menschen an der sizilianischen Küste, unweit von Agrigent an. 18 sind sofort wieder ohne Asylverfahren abgeschoben worden. Ein weiteres Boot mit 15 Flüchtlingen war untergegangen. Bei dem Versuch sich an Land zu retten, ertranken nach Aussagen eines Überlebenden 7 Menschen.

Dieses Sterben wird erst ein Ende haben, wenn wir die Asyl- und Abschottungspolitik Europas nicht mehr hinnehmen und ihre komplette Änderung durchsetzen.


Heike Behrens ist im Lübecker Flüchtlingsforum e.V. engagiert
fluefo.luebeck@t-online.de



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Quelle:
Der Schlepper Nr. 49 - Winter 2009, S. 31-32
Quartalsmagazin für Migration und Flüchtlingssolidarität in
Schleswig-Holstein
Herausgeber: Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein e.V.
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E-Mail: office@frsh.de
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Der Schlepper online im Internet: www.frsh.de/schlepp.htm

Der Schlepper erscheint vierteljährlich als Rundbrief
des Flüchtlingsrates Schleswig-Holstein e.V.
Für Vereinsmitglieder ist Der Schlepper kostenlos.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Februar 2010