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INNEN/457: Abschiebung - Europaweit stoppen Gerichte Überstellungen nach Griechenland (Pro Asyl)


Pro Asyl - Pressemitteilung vom 23. Oktober 2010

Europaweit stoppen Gerichte Überstellungen nach Griechenland

Bundesregierung will weiter abschieben - Verfassungsgericht verhandelt am 28. Oktober


Angesichts der dramatischen Situation von Schutzsuchenden in Griechenland fordert PRO ASYL, Abschiebungen aus Deutschland und anderen EU-Mitgliedstaaten nach Griechenland zu stoppen. Der Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen ( UNHCR), der Menschenrechtskommissar des Europarates, Thomas Hammarberg, der UN-Sonderberichterstatter für Folter, Hans Nowak, appellierten in den letzten Tagen an die europäischen Staaten, Überstellungen von Asylsuchenden nach Griechenland einzustellen.


Der geographische Zufall: Flüchtlinge müssen über Griechenland einreisen

Griechenland ist für viele Flüchtlinge das zentrale Tor nach Europa. Menschen aus Afghanistan, dem Irak, Iran und Somalia, die Schutz in Europa suchen, müssen die Fluchtroute über die Türkei nach Griechenland nehmen. Reisen sie weiter in ein anderes europäische Land, um dort Schutz und eine menschenwürdige Aufnahme zu finden, droht ihnen auf Grund der europäischen Asylzuständigkeitsregelung - der sogenannten Dublin II-Verordnung - die Rücküberstellung nach Griechenland.


Asylsystem kollabiert

Das Asylsystem in Griechenland ist völlig kollabiert. Griechenland gewährt kein faires Asylverfahren, bereits der Zugang zu diesem ist nicht sichergestellt. Schutzsuchenden droht die erneute Inhaftierung und die Abschiebung, ohne dass ihr Schutzgesuch gehört würde. Die Asylanerkennungsquote in der ersten Instanz liegt seit Jahren nur wenig über null Prozent, ein Aufnahmesystem für Schutzsuchende ist nicht vorhanden. Die zweite Instanz wurde im Sommer 2009 abgeschafft. Aktuell existiert ein Rückstand von fast 50.000 anhängigen Asylverfahren. Die Folgen für die in Griechenland gestrandeten Schutzsuchenden: Rechtlosigkeit, Gefahr der willkürlichen Inhaftierung, Obdachlosigkeit und Hunger.


Gerichte stoppen europaweit Abschiebungen

In allen wichtigen europäischen Asylländern werden aktuell Abschiebungen nach Griechenland durch nationalstaatliche Gerichte, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg und im Zuge sogenannter Vorlageverfahren beim Europäischen Gerichtshof in Luxemburg gestoppt. Die Niederlande haben am 6. Oktober 2010, Belgien am 10. Oktober 2010, Norwegen am 12. Oktober 2010, England bereits am 17. September 2010 Abschiebungen nach Griechenland auf der Grundlage der Dublin II-Verordnung, eingestellt. In Dänemark wurden seit Sommer 2010 über 200 Abschiebungen nach Interventionen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gestoppt. Der Gerichtshof teilte am 30. September mit, dass er bis zu einer Entscheidung in einem anhängigen Verfahren (M.S.S. gegen Belgien und Griechenland) auch bei allen zukünftigen Verfahren, Überstellungen nach Griechenland stoppen werde.


Bundesverfassungsgericht trifft Grundsatzentscheidung

In Deutschland verhinderten die Verwaltungsgerichte in über 300 Fällen Überstellungen nach Griechenland. Das Bundesverfassungsgericht hat seit dem 8. September 2009 mittlerweile 13 Abschiebungen nach Athen im Eilverfahren gestoppt. Am 28. Oktober 2010 findet die "Mündliche Verhandlung in Sachen Dublin II Verordnung" vor dem Bundesverfassungsgericht statt. Erwartet wird eine Grundsatzentscheidung u. a. zur Frage des effektiven Rechtsschutzes bei drohenden Dublin-Überstellungen in andere EU-Staaten. Darf Deutschland blindlings abschieben, ohne zu prüfen, ohne eine Klagemöglichkeit mit aufschiebender Wirkung? Darf man Schutzsuchende überstellen, wenn das Asylsystem in dem betreffenden Mitgliedsstaat zusammengebrochen ist?


Deutschland und andere Mitgliedsländer wollen weiter abschieben

2009 stellten die anderen Dublin-Staaten 10.083 Rückübernahmegesuche an Griechenland - 1.211 Asylsuchende wurden tatsächlich überstellt. Über acht Prozent aller Asylsuchenden in Deutschland sollen nach Auffassung des Bundesinnenministeriums ihr Verfahren in Griechenland absolvieren. Die Übernahmeersuchen aus Deutschland stiegen von 512 im Jahr 2007 auf 2.288 im Jahr 2009. Im 1. Halbjahr 2010 stellte Deutschland bereits 1.252 Übernahmeersuchen.


Humanitäre Krise nicht nur hausgemacht

Die dramatische Zuspitzung der Situation für Schutzsuchende in Griechenland ist nicht nur hausgemacht, sondern vor allem auch ein Resultat fehlender Solidarität bei der Flüchtlingsaufnahme innerhalb der Europäischen Union. Es ist zynisch, die Verantwortung für den Flüchtlingsschutz Griechenland zuzuschieben. Die humanitäre Krise in Griechenland ist der dramatische Ausdruck eines ungerechten und dysfunktionalen Dublin II-Systems.



PRO ASYL fordert:

Abschiebungen nach Griechenland stoppen: Die Dublin-Überstellungen nach Griechenland müssen in Deutschland und Europa eingestellt werden.
Besonders Schutzbedürftige aufnehmen: Um die besonders Schutzbedürftigen aus dem Elend, der Obdachlosigkeit und Schutzlosigkeit in Griechenland zu holen, bedarf es jetzt gemeinsamerAnstrengungen der EU. Insbesondere für die schutzlosen Flüchtlingskinder dort muss schnell und unbürokratisch eine humanitäre Lösung gefunden werden. Sie sollten kurzfristig, orientiert am Kindeswohl, in andere EU-Staaten verteilt werden.
Hilfe beim Aufbau eines Aufnahmesystems: Griechenland benötigt beim Aufbau eines Asyl- und Aufnahmesystem eine umfassende Unterstützung durch zusätzliche EU-Fonds.
Dublin II grundlegend reformieren: PRO ASYL setzt sich mit vielen anderen Organisationen und Institutionen in Europa für eine grundlegende Reform der Dublin II-Verordnung ein. Europa braucht eine Verantwortungsteilung bei der Flüchtlingsaufnahme und ein gemeinsames Asylsystem.

Hinweis:
Einen Ausführlichen Bericht über die aktuellen Entwicklungen in Griechenland finden Sie auf unserer Internetseite:
Situation in Griechenland
http://www.proasyl.de/de/home/situation-von-fluechtlingen-in-griechenland/


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Quelle:
Pro Asyl - Pressemitteilung vom 23. Oktober 2010
Postfach 160 624, 60069 Frankfurt/M.
Telefon: +49 069 - 23 06 88, Fax: +49 069 - 23 06 50
E-Mail: proasyl@proasyl.de
Internet: www.proasyl.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Oktober 2010