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INNEN/500: Europäische Demokratien zwischen Anspruch und Wirklichkeit (idw)


GESIS - Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften - 15.09.2014

Europäische Demokratien zwischen Anspruch und Wirklichkeit



Die Ergebnisse des European Social Surveys ESS zu Einstellungen und Erwartungen europäischer Bürgerinnen und Bürger an die Demokratie und die Bewertung ihrer politischen Systeme wurden heute in Rom vorgestellt. Es zeigt sich, dass die Demokratie innerhalb der Bevölkerung einen starken Rückhalt hat, wohingegen die Bewertung der gelebten politischen Praxis deutlich kritischer ausfällt.

Heute, am internationalen Tag der Demokratie, hat ESS-Direktor Rory Fitzgerald die Ergebnisse des neuen European Social Survey vor dem italienischen Parlament vorstellt. Inhaltlicher Schwerpunkt der Erhebung sind die Beziehungen zwischen den Bürgern und den Parlamenten in den Ländern Europas. Im Wesentlichen geht es dabei um die Einstellungen der Bürger zur Demokratie selbst und ihre Einschätzung der konkreten Umsetzung im politischen Alltag.


Europas Bürger sind demokratisch

Die Auswertung der Daten, die 2012 für die 6. Runde des ESS in 29 Ländern erhoben wurden, bestätigt die Sorge über die Unzufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger mit dem Funktionieren der Demokratie in den meisten europäischen Ländern.

Am stärksten zeigt sich das 'demokratische Defizit' im Bereich der sozialen und der direkten Demokratie. Soziale Demokratie bezieht sich auf die Leistungen des politischen Systems, wie etwa den Schutz vor Armut. Direkte Demokratie bedeutet, dass die Bürger Möglichkeiten der Beteiligung haben, zum Beispiel durch Referenden. Mit beiden Bereichen zeigte sich die EU-Bevölkerung unzufrieden.

Klar wird außerdem, dass die Bürger anspruchsvoller geworden sind und mit Unzufriedenheit reagieren, wenn die Leistungen der Regierung unzureichend sind oder die Defizite in der Demokratie offensichtlich werden. Auf der Basis etablierter Methoden zum Messung des Regierungserfolgs zeigt der ESS eine klaren Zusammenhang zwischen der Regierungsleistung und der Zufriedenheit der Bürger. Rory Fitzgerald führt dazu aus: "Wie erwartet finden wir einen positiven Zusammenhang zwischen gutem Regieren und der Bewertung des demokratischen Systems durch die Bürger. Das belegt, dass die Öffentlichkeit eine verlässliche Quelle zur Beurteilung einer Demokratie ist und wertvolle Information darüber liefern kann, inwiefern die Demokratie nicht funktioniert und verbessert werden muss."

Trotz aller Kritik wird aber auch deutlich, dass die demokratische Idee in ganz Europa einen starken Rückhalt hat. In 24 der 29 untersuchten Länder ist es dem Durchschnitt der Bevölkerung sehr wichtig "in einem Land zu leben, das demokratisch regiert wird."

Zwischen den Regionen beobachten die Wissenschaftler allerdings erhebliche Unterschiede in der Bewertung der Demokratie. Die Nordeuropäer sind am zufriedensten mit dem Funktionieren ihrer Demokratie, gefolgt von den Westeuropäern, während die Bewertungen in Süd- und Osteuropa schlechter ausfallen.


Die Deutschen sind lupenreine - wenn auch wenig zufriedene - Demokraten

Dreiviertel der befragten Deutschen (74%) empfinden es als sehr wichtig, in einer Demokratie zu leben. Sie sind sich dabei über die zentralen Elemente der Demokratie in hohem Maße einig: An höchster Stelle steht die Gleichheit der Menschen vor Gericht (91%), gefolgt von der Kontrolle der Regierung durch die Gerichte (79%). An dritter Stelle stehen freie und faire Wahlen (76%).

Die Bewertung der Demokratie in Deutschland wird hingegen mit gemischten Gefühlen betrachtet. Nur ein Viertel der Befragten findet Deutschland voll und ganz demokratisch. Sehr positiv gewertet wurden freie und faire Wahlen sowie das Recht der Opposition und der Medien die Regierung zu kritisieren.

Sehr kritisch hingegen betrachten die Befragten zentraler Aspekte der Demokratie: Die Gleichbehandlung durch die Gerichte sehen 24% als nicht gewährleistet an. Eine verlässliche Berichterstattung durch die Medien vermissen 16% der Befragten und 44% finden, dass die Regierung den Wählern ihre Entscheidungen nicht ausreichend erklärt.

Auch weniger zentrale Aspekte der Demokratie werden bemängelt: Jeweils ein Viertel der Befragten glaubt nicht, dass Regierungsparteien für schlechte Arbeit in den Wahlen bestraft werden. Des Weiteren wird beanstandet, dass die politischen Parteien sich nicht klar voneinander unterscheiden. 60% meinen, dass die Bürgerinnen und Bürger bei den wichtigsten Sachfragen durch direkte Volksabstimmungen das letzte Wort haben sollten

Die Hälfte aller Befragten sieht die sozialstaatlichen Aspekte der Demokratie nicht erfüllt: weder schützt die Regierung alle Menschen vor Armut, noch reduziert sie die Einkommensunterschiede.

Der Topline report "Europeans' Understandings and Evaluations of Democracy: Findings from Round 6" ist zugänglich unter:
www.europeansocialsurvey.org/about/singlenew.html?a=/about/news/new0019.html

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Hintergrundinformation: Über den European Social Survey

Der European Social Survey (ESS) ist eine akademisch geführte ländervergleichende Befragung, die seit 2001 alle zwei Jahre europaweit durchgeführt wird.

Die Europäische Kommission hat auf Antrag des Vereinigten Königreichs im Namen von 14 weiteren Ländern dem ESS am 30. November 2013 den Status eines ERIC zuerkannt.
Der Direktor des ESS ERIC ist Rory Fitzgerald und der Sitz des ESS ist bei der City University London.

Die Umfrage erhebt Einstellungen, Meinungen und Verhalten der Bevölkerungen in mehr als 30 Ländern. Die Ziele des ESS sind:


die Beobachtung von Stabilität und Wandel in Sozialstruktur, Lebensbedingungen und Einstellungen, um zu erfassen, wie sich Europas soziales, politisches und moralisches Gefüge wandelt.
• die Etablierung hoher Standards in der ländervergleichenden europäischen Sozialforschung, zum Beispiel bei Fragebogen-Design, Pretesting, Stichprobenziehung, Datenerhebung, der Minimierung von Verzerrungen und der Reliabilität der verwendeten Fragen.
• die Einführung solider Indikatoren, die den gesellschaftlichen Fortschritt mithilfe der Wahrnehmung und Bewertung zentraler Aspekte durch die Bürger messen.
• die Aus- und Weiterbildung der europäischen Sozialwissenschaftler in der vergleichenden quantitativen Messung und Analyse.
• die größere Sichtbarkeit und Verbreitung der Daten zum sozialen Wandel in Wissenschaft, Politik und der breiten Öffentlichkeit.

Vor der Umwandlung ein einen ERIC wurde der ESS von den Rahmenprogrammen der Europäischen Kommission, der European Science Foundation und den nationalen Organisationen der Forschungsförderung in den Teilnehmerländer finanziert. Die Finanzierung des ESS ERIC erfolgt durch die Beiträge der Mitglieder und Beobachter zu zentraler Koordinierung und nationaler Durchführung.

Weitere Informationen zum ESS:
www.europeansocialsurvey.org

Als die größte deutsche Infrastruktureinrichtung für die Sozialwissenschaften steht das GESIS - Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften Forscherinnen und Forschern auf allen Ebene ihrer Forschungsvorhaben mit seiner Expertise und seinen Dienstleistungen beratend zur Seite, so dass gesellschaftlich relevante Fragen auf der Basis neuester wissenschaftlicher Methoden, qualitativ hochwertiger Daten und Forschungsinformationen beantwortet werden können. GESIS ist Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft und unterhält institutionelle und projektbezogene Kooperationen mit diversen Universitäten. GESIS ist an wichtigen europäischen und internationalen Studien und Projekten wie u.a. dem European Social Survey (ESS) und der European Value Study (EVS), dem europäischen Archivverbund CESSDA und dem OECD-Projekt Programme for the International Assessment of Adult Competencies (PIAAC) beteiligt.

Weitere Informationen unter:
http://www.europeansocialsurvey.org
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Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/de/institution479

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
GESIS - Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften, Sophie Zervos, 15.09.2014
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. September 2014