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REGIONEN/017: Die Ökonomie der Sezession, Teil 1 (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 4. Oktober 2017
german-foreign-policy.com

Die Ökonomie der Sezession (I)


MILANO/VENEZIA/BOLZANO/ANTWERPEN (Eigener Bericht) - Separatisten in diversen EU-Staaten begreifen das Sezessionsreferendum in Katalonien als Ansporn und intensivieren ihre Aktivitäten. Bereits am 22. Oktober werden die beiden reichsten Regionen Italiens, die Lombardei und Venetien, je ein eigenes Referendum über eine Ausweitung ihrer Autonomie gegenüber der Regierung in Rom abhalten. Zentrale Ursache ist wie in Katalonien das Bestreben, den eigenen Wohlstand zu wahren und die Umverteilung ihrer Steuergelder an ärmere Gebiete insbesondere im Süden des Landes zu reduzieren oder zu beenden. Identische Motive befeuern Sezessionisten im niederländischsprachigen Teil Belgiens, in Flandern; die dortige Regionalregierung unterhält gute Beziehungen zur Regionalregierung Kataloniens. Auch im deutschsprachigen Separatismus Norditaliens (Südtirol), der bei den letzten Landtagswahlen über 25 Prozent der Stimmen auf sich vereinen konnte, werden neue Forderungen nach einer Abspaltung von Italien und dem Anschluss an Österreich laut. Viele Separatismen in der EU sind von Deutschland jahrzehntelang direkt oder indirekt gefördert worden - ökonomisch und politisch.

Die nächsten Referenden

Die nächsten Referenden, die den inneren Zusammenhalt eines EU-Staates beschädigen dürften, finden bereits in weniger als drei Wochen in Norditalien statt. Am 22. Oktober werden die Bürger der Lombardei und Venetiens entscheiden, ob die beiden Regionen größere Autonomierechte erhalten sollen. Mit Blick auf die Eskalation in Katalonien beschwören italienische Medien derzeit die Unterschiede zwischen den Referenden: Während es in Katalonien unter Bruch der spanischen Verfassung um die Abspaltung der Region ging, werden in der Lombardei und in Venetien nur Autonomieverhandlungen mit der Zentralregierung angestrebt - strikt im Rahmen der italienischen Verfassung. Allerdings ist die Dynamik der Entwicklung mit derjenigen in Katalonien, wo vor gut einem Jahrzehnt ebenfalls noch nicht die Abspaltung, sondern lediglich eine größere Autonomie mehrheitsfähig war, durchaus vergleichbar.

Die reichsten Regionen

Sowohl die Lombardei wie auch Venetien zeichnen sich durch einen weit überdurchschnittlichen Reichtum aus, der - wie im Falle Kataloniens - mit Umverteilungsleistungen zugunsten ärmerer Gebiete meist im Süden des Landes verbunden ist; das wiederum schürt Wohlstandschauvinismus und führt zu Bestrebungen, den Abfluss der Gelder zu stoppen. Die Lombardei verfügt nach eigenen Angaben über das höchste Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in Italien; in der Rangliste der EU-Staaten schöbe sie sich mit 36.600 Euro pro Einwohner im Jahr auf Platz fünf - noch vor Deutschland (35.800 Euro) und weit vor dem Durchschnitt Italiens (27.800 Euro). Die Lombardei exportierte im Jahr 2015 Waren im Wert von 111,23 Milliarden Euro; das waren 27,2 Prozent der italienischen Gesamtausfuhr (408,66 Milliarden Euro), mehr als jede andere italienische Region erreichte. Auf Platz zwei lag mit Exporten im Wert von 57,52 Milliarden Euro Venetien, das das drittgrößte Bruttoinlandsprodukt Italiens erzielt - nach der Lombardei und der Hauptstadtregion Latium. Aus der Lombardei fließen, wie es in einer von ihrer Regionalregierung verbreiteten Broschüre heißt, jährlich 54 Milliarden Euro netto an den Zentralstaat ab, ein Vielfaches des Vergleichswerts in Katalonien, den die Publikation auf rund acht Milliarden Euro beziffert. Aus Venetien werden demnach ebenfalls hohe Nettosummen an Rom gezahlt - um die 15,5 Milliarden Euro pro Jahr.[1]

Von der Autonomie zur Abspaltung

Das Bestreben, die Mittelabflüsse zu verringern, begünstigt schon seit Jahrzehnten politische Kräfte, die zwischen dem Verlangen nach größerer Autonomie und der Forderung, sich von Italien abzuspalten, changieren. Bereits 1984 entstand mit der Lega Lombarda die Keimzelle der späteren Lega Nord, die lange für die Abspaltung Norditaliens plädierte, aktuell allerdings eher auf stärkere Autonomie setzt. Die Übergänge sind fließend. Parteichef Matteo Salvini zieht gegenwärtig die Ausdehnung der Lega Nord auf die Mitte und den Süden des Landes in Betracht und würde dazu wohl Zugeständnisse in puncto Autonomie machen; doch auch in dieser Frage ist der Machtkampf in der Partei nicht entschieden. Die Lega Nord stellt aktuell die Regierungschefs in der Lombardei sowie in Venetien. In Venetien sind dabei Abspaltungstendenzen deutlich erkennbar. Dort wurde 2014 ein informelles, nicht repräsentatives und weithin kritisiertes Online-Referendum abgehalten, dessen Resultate zwar nicht zuverlässig waren, in der Tendenz allerdings von Umfragen bestätigt wurden. Demnach gäbe es in der Bevölkerung Venetiens eine knappe Mehrheit für die Abspaltung der Region von Italien. Von der Entwicklung in Katalonien wird der Separatismus nun auch hier befeuert.

Der flämische Separatismus

Dasselbe trifft auf die belgische Region Flandern zu. Der niederländischsprachige Separatismus in dem Gebiet hat alte Wurzeln, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen; er wird jedoch seit einigen Jahrzehnten ebenfalls durch Wohlstandschauvinismus und durch den Kampf gegen staatliche Umverteilung an die Hauptstadtregion Brüssel sowie vor allem an die Region Wallonie geprägt. Flandern erwirtschaftete 2014 rund 58 Prozent des belgischen Bruttoinlandsprodukts, die französischsprachige Region Wallonie lediglich 24 Prozent; für die verbleibenden 18 Prozent kam die Hauptstadtregion Brüssel auf, die zweisprachig ist. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf lag in Flandern mit 36.300 Euro im Jahr weit über dem Vergleichswert in der Wallonie (26.100 Euro), deren Arbeitslosenquote (rund zwölf Prozent) diejenige Flanderns (rund fünf Prozent) beträchtlich übertraf. Mehrere Parteien, insbesondere der extrem rechte Vlaams Belang und die konservative Nieuw-Vlaamse Alliantie (N-VA), setzen sich prinzipiell für die Abspaltung Flanderns von Belgien ein, wobei die N-VA, die nicht nur den Ministerpräsidenten der flämischen Regionalregierung und den Bürgermeister der größten flämischen Stadt, Antwerpens, sondern auch einige Minister in der aktuellen belgischen Regierung stellt, sich gegenwärtig aus taktischen Gründen zurückhält. Die Region Flandern kooperiert seit 1992 mit der Region Katalonien; beide Seiten haben im Juli 2015 eine gemeinsame Erklärung unterzeichnet, die eine weitere Intensivierung ihrer Zusammenarbeit vorsieht. Die beiden Regionen haben sich im Vorfeld des katalanischen Sezessionsreferendums eng miteinander abgestimmt; vergangene Woche etwa traf sich die katalanische Parlamentspräsidentin vor der Abstimmung zu letzten Absprachen mit ihrem flämischen Amtskollegen Jan Peumans.

Präzedenzfall Katalonien

Neben den großen Sezessionsbewegungen in Norditalien und Belgien ziehen auch kleinere Abspaltungsorganisationen Nutzen aus dem katalanischen Referendum, darunter etwa Separatisten in Norditaliens Autonomer Provinz Bolzano-Alto Adige (Südtirol). "Heute Katalonien, morgen Süd-Tirol!", heißt es etwa in einem gestern publizierten Manifest der "Süd-Tiroler Freiheit", einer Partei der deutschsprachigen Minderheit Norditaliens, die in direkter Tradition zu den sogenannten Südtiroler Freiheitskämpfern steht; diese verübten seit den 1950er Jahren immer wieder Sprengstoffanschläge in Italien, um den Anschluss der Provinz Bolzano-Alto Adige an Österreich zu erzwingen. Die Süd-Tiroler Freiheit erhielt bei den letzten Wahlen zum Südtiroler Landtag 7,2 Prozent der Stimmen; rechnet man die 17,9 Prozent hinzu, die die Partei "Die Freiheitlichen" erhielt, dann liegen die deutschsprachigen Separatisten in Südtirol insgesamt bei rund 25 Prozent. Wie die Süd-Tiroler Freiheit berichtet, habe sie im Jahr 2013 ein Referendum abgehalten, bei dem sich 92 Prozent der Teilnehmer für die Abspaltung von Italien ausgesprochen hätten.[2] Sei damals oft erklärt worden, eine Sezession sei rechtlich nicht möglich, so beweise der "Präzedenzfall Katalonien" nun "das Gegenteil", erklärt die Partei, die mitteilt, "enge Kontakte zu Katalonien" zu unterhalten.

Von Deutschland gefördert

Aktuell laufen die Separatismen in der EU deutschen Interessen zuwider: Sie schwächen die Union und relativieren damit deren Nutzen als machtpolitische Basis für die ausgreifende deutsche Weltpolitik. Entsprechend mahnt die Bundesregierung, eine Einigung für den Sezessionskonflikt in Katalonien zu finden. Dabei hat die Bundesrepublik die Voraussetzungen für das Erstarken der Separatismen selbst geschaffen, indem sie sie jahrzehntelang auf verschiedenste Weise förderte - teils über völkische Vorfeldorganisationen, teils auch durch eine regionalistische Wirtschaftspolitik. german-foreign-policy.com berichtet am morgigen Donnerstag.


Mehr zum Thema:
Unter Separatisten
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59685


Anmerkungen:

[1] Scopri perché la Lombardia è Speciale. Regione Lombardia 2017.

[2] Selbstbestimmung nicht mehr aufzuhalten: Heute Katalonien, morgen Süd-Tirol!
www.suedtiroler-freiheit.com 03.10.2017.

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Oktober 2017

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