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SOZIALES/134: Ungleichheit differenziert gemessen (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 128/Juni 2010
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Ungleichheit differenziert gemessen

Armut und materielle Not in der Europäischen Union

Von Jens Alber, Florian Fliegner und Johannes Hemker


Kurzgefasst: Ein Vergleich der materiellen Versorgung in den EU-Mitgliedstaaten für die Jahre 2003 und 2007 zeigt, dass es in der Mehrzahl der Länder zu Verbesserungen gekommen ist und dass die neuen Mitgliedstaaten den Abstand zu den westlichen Mitgliedstaaten verringern konnten. Es gibt aber immer noch große und meistens sogar wachsende Unterschiede zwischen Wohlhabenden und Armen innerhalb der Nationalstaaten. Die Spanne der Ungleichheit ist in den reicheren Ländern in der Regel geringer, in den neuen Mitgliedsländern meist größer. In Deutschland ist die Ungleichheit für westeuropäische Verhältnisse verhältnismäßig groß und entspricht derjenigen in Bulgarien, Ungarn und Zypern.


Die Europäische Kommission hat das Jahr 2010 zum Europäischen Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung erklärt. Dahinter verbirgt sich die Sorge, europäische Gesellschaften könnten insbesondere nach der Ost-Erweiterung der EU und der jüngsten Finanzkrise von Spaltungstendenzen, zunehmenden sozialen Gegensätzen und sozialer Ausgrenzung wachsender Bevölkerungskreise gekennzeichnet sein.

Diese Sorge verbindet sich in öffentlichen Diskussionen oft mit dem Konzept der "Zwei-Drittel-Gesellschaft". Dieses Konzept knüpft an amerikanische Debatten um das Entstehen einer vom Arbeitsmarkt ausgesperrten und in Gettos lebenden schwarzen underclass in den 1980er Jahren an. Es verbreitete sich zunächst in Deutschland und später auch in anderen europäischen Ländern. Das Konzept sollte zum Ausdruck bringen, dass durch die Verbindung von Massenarbeitslosigkeit, entwerteten Hauptschulabschlüssen im Zuge der Bildungsexpansion und verstärkter Zuwanderung auch in Europa die Entstehung einer Unterklasse drohe, die von gesellschaftlicher Teilhabe ausgegrenzt und vom Fortschritt abgekoppelt werde.

Die Europäische Kommission verlangt nun, Spaltungs- und Verarmungstendenzen politisch entgegenzutreten. Sie selbst setzt auf zweierlei Instrumente. Der Ungleichheit zwischen Ländern und Regionen versucht sie durch ihre Regional- oder Kohäsionspolitik zu begegnen, die auf eine Angleichung der Lebensverhältnisse abzielt. Zur Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung innerhalb einzelner Länder propagiert sie sozialpolitische Programme und eine Bildungs- und Vollbeschäftigungspolitik. Auf diese Weise sollen Einkommensarmut reduziert und der Ausschluss ganzer Bevölkerungsgruppen verhindert werden. "Inklusion" als Teilhabe möglichst aller am gesellschaftlichen Leben ist das Ziel.

Wie begründet ist die wachsende Sorge um Gefährdungen des sozialen Zusammenhalts europäischer Gesellschaften im Licht international vergleichender Daten? Wenn in offiziellen EU-Verlautbarungen davon die Rede ist, dass ein knappes Fünftel, nämlich 17 Prozent der Europäer, nicht genügend Mittel hätten, "um sich ihre grundlegendsten Bedürfnisse erfüllen zu können", wie es die Kommission formuliert, so stützt diese sich auf die vom Europäischen Statistikamt (Eurostat) berichtete Armutsgefährdungsquote. Diese bringt zum Ausdruck, welcher Prozentsatz der Bevölkerung mit weniger als 60 Prozent des mittleren national verfügbaren Haushalts-Einkommens auskommen muss; dabei werden unterschiedliche Haushaltsgrößen durch "Bedarfsgewichtungen" berücksichtigt.

Wichtig ist, dass es sich bei solchen Maßen zur relativen Einkommensarmut stets um Angaben über die Position in der nationalen Einkommensverteilung handelt. Das bedeutet, dass mit den nationalen Armutsgrenzen zwar jeweils gleiche Positionen in nationalen Einkommensverteilungen erfasst werden, dass sich das absolute Einkommens- oder Versorgungsniveau in dieser scheinbar identischen Soziallage aber von Land zu Land drastisch unterscheiden kann. Wer in reichen Ländern zu den Armen im Sinne relativer Einkommensarmut zählt, ist nämlich in aller Regel bezüglich des absoluten Versorgungsniveaus sehr viel besser dran als derjenige, der in armen Ländern als arm gilt. So hat ein an der gleichen relativen Armutsgrenze lebender Luxemburger ein Vielfaches des Einkommens eines in gleicher Armutsposition lebenden Bulgaren oder Rumänen zur Verfügung.

Die European Quality of Life Surveys von 2003 und 2007 geben Aufklärung darüber, in welchem Maße diese relative Einkommensarmut mit einer mangelhaften Versorgung mit materiellen Gütern verknüpft ist - und welche Veränderungen es bei letzterer zwischen 2003 und 2007 gegeben hat. Auf ihrer Grundlage lassen sich drei Fragen beantworten: (1) Inwiefern verbindet sich relative Einkommensarmut mit einem Mangel an grundlegenden Mitteln materiellen Bedarfs? (2) Inwieweit ist es in beiden Dimensionen zwischen 2003 und 2007 in den Mitgliedsländern der Europäischen Union zu Wohlstandsgewinnen oder -verlusten gekommen? (3) Haben Veränderungen alle Schichten und Länder in ähnlichem Ausmaß erfasst?

Die auf der Grundlage von Querschnittsdaten für ein einzelnes Jahr von Eurostat ermittelten Einkommensarmutsquoten (im Sinne der 60-Prozent-Grenze) schwanken zwischen Werten von 10 und maximal 25 Prozent. In keinem der alten Mitgliedsländer der EU gehen sie über 20 Prozent hinaus. Der Kreis der in einem längeren Zeitraum von fünf bis zehn Jahren gelegentlich - also zumindest in einem Jahr - von Armut betroffenen Menschen ist allerdings sehr viel größer. Je nach Land kann dieser Anteil auch über 30 Prozent hinausgehen. Andererseits ist aber der Prozentsatz jener, die permanent oder über mehrere Jahre hinweg arm sind, sehr viel kleiner, als es Momentaufnahmen eines Jahres suggerieren; die meisten Armen sind nämlich nur vorübergehend arm. Man kann demzufolge kaum ein volles Drittel der Gesellschaft als ausgegrenzt oder dauerhaft abgehängt betrachten, wohl aber feststellen, dass bis zu einem Drittel der Bevölkerung lediglich in prekärem Wohlstand lebt und zumindest gelegentlich in Armut abgleitet.

Mithilfe der European Quality of Life Surveys können wir nun klären, wie es 2003 und 2007 um die materielle Lebenslage der Menschen in verschiedenen Dritteln der Einkommensverteilung bestellt war. Die materielle Versorgung im Sinne der Ausstattung mit Gütern des grundlegenden Bedarfs und des Ausmaßes wirtschaftlicher Sorgen messen wir anhand eines Index, der sich aus den folgenden Fragen speist: a) Wie viele von sechs Dingen kann man sich leisten: Wohnung heizen, in den Urlaub fahren, abgenutzte Möbel ersetzen, einmal am Tag Fleisch essen, neue Kleidung kaufen, einmal im Monat Gäste zum Essen einladen? b) Wie gut kommt man mit dem vorhandenen Einkommen zurecht? c) Ist man bei Betriebskosten oder Miete in Zahlungsverzug? d) Ist innerhalb der letzten zwölf Monate mal das Geld ausgegangen, um Essen zu kaufen? Der Index ist hier auf Werte zwischen Null und Hundert standardisiert, und je kleiner der Indexwert, desto größer ist der subjektiv wahrgenommene Mangel an materiellen Gütern.

(1) Wie verhalten sich die von der EU berichteten Einkommensarmutsquoten und die im Vergleich ermittelte materielle Situation zueinander? Unsere Daten zeigen, dass sich von der relativen Einkommensarmut, wie sie Eurostat berichtet, nicht problemlos auf ein mangelndes Versorgungsniveau mit materiellen Gütern schließen lässt. Ein statistischer Zusammenhang ist zwar gegeben, aber nicht sonderlich stark. Das zeigt sich daran, dass Länder mit identischer Einkommensarmutsquote sehr unterschiedliche Grade der materiellen Versorgung mit Konsumgütern aufweisen können. Drei Beispiele machen das deutlich. Griechenland und Spanien haben mit 20 Prozent das identische Niveau relativer Einkommensarmut, aber 19 Prozent der Hellenen im Gegensatz zu nur 5 Prozent der Spanier beklagen massive materielle Versorgungsdefizite. Großbritannien und Litauen verzeichnen ebenfalls identische Quoten der Einkommensarmut (19 Prozent), aber während 19 Prozent der Litauer mit Versorgungsdefiziten kämpfen, berichten nur 6 Prozent der Briten von entsprechenden Problemen. Dänemark und Ungarn verzeichnen mit 12 Prozent identische Quoten relativer Einkommensarmut, aber nur 3 Prozent der Dänen im Vergleich zu einem Viertel der Ungarn leiden unter massiven Versorgungsdefiziten. Der Anteil jener, die mit massiven Versorgungsdefiziten kämpfen, bleibt in allen alten Mitgliedsländern mit Ausnahme von Portugal, Italien und Griechenland im einstelligen Bereich. In den neuen Mitgliedsländern ist dieser Anteil zweistellig, außer in der Tschechischen Republik, Slowenien und Malta. In Polen, Ungarn und Lettland liegt er über 20 Prozent, in Bulgarien und Rumänien sogar über 30 Prozent.

(2) Auch die Veränderungen zwischen 2003 und 2007 stellen sich unterschiedlich dar, je nachdem, ob wir die relative Einkommensarmutsquote oder die Versorgung mit essentiellen Konsumgütern betrachten. Die von Eurostat berichtete Quote relativer Einkommensarmut ist in elf von 25 Ländern, über die für beide Jahre vergleichbare Daten vorliegen, gestiegen, in sechs unverändert geblieben und nur in acht Fällen geschrumpft. Deutschland ist in der amtlichen Statistik unter den Ländern mit leicht schrumpfender Armutsgefährdungsquote zu finden. Unter den neuen Mitgliedsländern zählen allein Malta und die Slowakei zu den Nationen mit zurückgehender relativer Einkommensarmut.

Deutlich vorteilhafter sieht das Bild für die meisten Länder beim Index der materiellen Versorgung aus. Er zeigt für 19 Länder Fortschritte an, darunter neun neue Mitgliedsländer. Verschlechtert hat sich die Versorgungslage hingegen in Ungarn, Malta und Zypern sowie in vier alten Mitgliedsländern. Deutschland zählt zur Minderheit der Länder, in denen der materielle Wohlstand seit 2003 zurückging. Das gilt zumindest in dem Sinn, dass deutsche Befragte jüngst häufiger auf Einschränkungen und materielle Sorgen verweisen.

Fortschritte verzeichneten vor allem die neuen Mitgliedsländer, von denen sechs die Rangliste der Zuwächse mit zweistelligen Werten anführen. Insgesamt fiel die Wohlstandssteigerung umso stärker aus, je schlechter die Versorgungssituation im Jahr 2003 war. Damit konnten die Nachzügler den Abstand zu den führenden Ländern verringern und insofern zur in der Europäischen Union angestrebten Konvergenz der Lebensverhältnisse beitragen. Die Ost-Erweiterung hat damit die Erwartungen zumindest teilweise erfüllt, die die postkommunistischen Transformationsländer an sie geknüpft hatten - über die Gewährung neuer Freiheiten hinaus.

(3) Zu fragen bleibt, ob alle Schichten gleichermaßen am Fortschritt teilhaben konnten oder ob das untere Drittel davon ausgesperrt blieb. In den meisten Ländern konnten auch die Menschen im unteren Einkommensdrittel ihre subjektiv wahrgenommene materielle Versorgungssituation von 2003 auf 2007 verbessern. Allerdings gab es in elf Ländern auch Rückschritte. Zu ihnen zählten mit Slowenien, Ungarn, Zypern und Malta nicht nur vier neue Mitgliedsländer, sondern auch Deutschland. Die Bundesrepublik führt neben Zypern sogar die Minus-Rangliste an, und das mit einem zweistelligen Wert. Im oberen Einkommensdrittel berichteten hingegen allein Italiener und Zyprioten über Wohlstandsverluste.

Die Kluft, die das untere vom oberen Einkommensdrittel trennt, ist in allen Mitgliedsländern der EU mit Ausnahme von Irland, Portugal, Großbritannien und Griechenland zwischen 2003 und 2007 gewachsen. Damit zeichnet sich in den europäischen Gesellschaften durchaus ein Trend zur Polarisierung ab. Zwar hatten in der Mehrheit der Länder auch die Menschen im unteren Drittel am materiellen Fortschritt teil, aber die Lücke, die sie vom oberen Drittel trennt, ist fast überall größer geworden. Dies bedeutet für die Europäische Union, dass das von der europäischen Regionalpolitik angestrebte Konvergenzziel hinsichtlich der materiellen Versorgung bislang in höherem Maße realisiert wurde als das in der Sozialpolitik groß geschriebene Ziel der sozialen Inklusion und der Bekämpfung sozialer Ungleichheit innerhalb einzelner Länder.

Abschließend betrachten wir, wie sich die wahrgenommene materielle Versorgung in den verschiedenen Dritteln der Einkommensverteilung nationaler Gesellschaften im zuletzt gemessenen Jahr 2007 darstellt (Abbildung). Fünf der alten Mitgliedsländer ist es gelungen, materielle Sorgen auch im unteren Einkommensdrittel recht erfolgreich in Grenzen zu halten. In ihnen kennt nämlich auch das untere Drittel ein gehobenes Versorgungsniveau, das in den neuen Mitgliedsländern meist nur vom oberen Drittel der Einkommensverteilung überboten wird. In Ungarn, Bulgarien und Rumänien reicht selbst die Versorgungslage im oberen Drittel nicht an das Niveau heran, das in reicheren westeuropäischen Ländern der untere Rand der Gesellschaft zu Protokoll gibt. Das illustriert anschaulich, wie riesig die Spanne der Wohlstandsniveaus in der erweiterten Europäischen Union trotz der Konvergenzerfolge in jüngster Zeit noch immer ist.

In den verschiedenen Mitgliedsländern ist die Kluft zwischen oben und unten unterschiedlich groß. Als Faustregel kann gelten, dass die Ungleichheit der Versorgungsniveaus in den reicheren Ländern geringer ausfällt. Am breitesten ist der innergesellschaftliche Graben in sechs neuen Mitgliedsländern, nämlich Rumänien, Polen, Lettland, Bulgarien, Ungarn und Zypern. Deutschland ist das einzige westeuropäische Land, das mit einer ebenso großen Spanne der Ungleichheit auffällt wie manche dieser Länder, nämlich Bulgarien, Ungarn und Zypern. Das ist bemerkenswert, weil Deutschland bezüglich des durchschnittlichen Niveaus der materiellen Versorgung im Mittelfeld europäischer Länder zu finden ist, so dass das Ausmaß der Ungleichheit deutlich über das in vergleichbaren Ländern übliche Niveau hinausgeht. Von daher stünden der Bundesrepublik verstärkte Anstrengungen zur Bekämpfung sozialer Ausgrenzung im diesem Thema gewidmeten Europäischen Jahr gut zu Gesicht.


Jens Alber ist Direktor der Abteilung Ungleichheit und soziale Integration und Professor für Soziologie an der FU Berlin. In seiner Forschung widmet er sich aktuell vor allem der Frage nach den Merkmalen des "europäischen Sozialmodells" und nach den sozialstrukturellen und gesellschaftspolitischen Unterschieden zwischen Europa und den USA.
jalber@wzb.eu

Florian Fliegner ist seit 2002 Mitarbeiter der Abteilung Ungleichheit und soziale Integration. Nach mehrjähriger Tätigkeit als studentische Hilfskraft ist er seit Ende 2007 als wissenschaftlicher Mitarbeiter für Datenmanagement und -analyse tätig. Er hat in München und Berlin Soziologie, Arbeits- und Organisationspsychologie sowie Italianistik studiert.
fliegner@wzb.eu

Johannes Hemker, Student an der Universität Bayreuth, war von Januar bis April 2010 in der Abteilung Ungleichheit und soziale Integration Praktikant.
hanneshemker@gmail.com


Literatur

Jens Alber, Philipp Lenarz, "Wachsende soziale Ungleichheit in Europa. Die Lebensqualität unterer Einkommensschichten in der erweiterten Europäischen Union", in: ISI (Informationsdienst Soziale Indikatoren), Heft 39, 2008, S. 1-5

Europäische Kommission, Generaldirektion Beschäftigung, soziale Angelegenheiten und Chancengleichheit, Europäisches Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung, 2010
(http://ec.europa.eu/social/main.jsp?langId=de&catId=637)

Robert E. Goodin, Bruce Headey, Ruud Muffels, Henk-Jan Dirven, The Real Worlds of Welfare Capitalism, Cambridge: Cambridge University Press 1999, 358 S.

Philippe Van Parijs, "Against the Two Thirds Society. A View from Europe", in: faith - the journal of the international league of religious socialists, 2001
(http://ilrs.org/english/reports/vanparijs.html)

William J. Wilson, The Truly Disadvantaged: The Inner City, the Underclass, and Public Policy. Chicago: University of Chicago Press 1987, 261 S.


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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 128, Juni 2010, Seite 7-10
Herausgeber:
Der Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
10785 Berlin, Reichpietschufer 50
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Juli 2010